Gary Russell – Der Herr der Ringe – Die zwei Türme: Die Erschaffung eines Filmkunstwerks

Wieder einmal tauchen wir ein in die Welt der kreativen Prozesse, die zur künstlerischen Entstehung des zweiten Herr-der-Ringe-Filmes geführt haben – zumindest, was die visuelle Seite betrifft. Wer den Film auch hören will, muss sich vorerst mit dem Soundtrack begnügen. Erst im August kommt die erste DVD auf den Markt und im November die Special Extended Edition, die 44 Minuten mehr Filmmaterial aufweisen soll (das hoffentlich nicht zum Großteil aus 20 Minuten Abspann besteht!).
Dieser Bildband bietet über 500 Abbildungen aus den Ateliers: Entwurfsskizzen, Farbstudien und natürliche Miniaturen bzw. „Big-atures“: von Orthanc, Barad-dur, Fangorn und natürlich Helms Klamm.

Gary Russell hatte während der fünfjährigen Vorarbeiten zum HdR-Film uneingeschränkt Zugang zu allem künstlerischen Material in den neuseeländischen Studios von Wingnut und WETA. Russell hat als Herausgeber eines Magazins, als Romanautor, Kolumnist und Hörspielproduzent gearbeitet. Er kam laut Verlag relativ spät zu Tolkien und dessen Mythologie. Frühere Publikationen beschäftigen sich mit der britischen Science-Fiction-Kultserie „Doctor Who“ und mit den „Simpsons“.

Die Einleitung – sie bildet in Russells Büchern, die mit Abbildungen vollgestopft sind, den wichtigsten Textteil. Ihr Gegengewicht findet sie im Nachwort, das diesmal von Gollum-„Darsteller“ Andy Serkis stammt. Im ersten Buch seiner Reihe „Der Herr der Ringe – Die Erschaffung eines Filmkunstwerks“ stellte Gary Russell die wichtigsten Mitwirkenden am Film vor: natürlich Regisseur Peter Jackson und Richard Taylor, den WETA-Chef, aber auch die Chefin der Kostümabteilung, Ngila Dickson, und den Produktionsdesigner, Grant Major.

Diesmal lässt Russell Angehörige der Abteilung für Bildeffekte zu Wort kommen. Den Anfang macht Christian Rivers, der Leiter der Storyboardabteilung. Er trug zahlreiche Kommentare zu den Abbildungen im Index der Special Extended Version DVD bei. Als Art Director löste Jeremy Bennett bei den Filmen 2 und 3 Paul Lasaine ab. Mary Maclachlan war für viele der Miniaturen – oder vielmehr „Bigatures“ – zuständig. Sie war bereits in den Dokus der Special Extended Version DVD zu sehen, um zu belegen, dass so großartige Werke wie Helms Klamm und Orthanc auf ihr Konto gehen. Den Abschluss bilden drei Künstler: Roger Kupelian ist der Digital Matte Artist, d.h. er ist für digital erzeugte bzw. bearbeitete Hintergrundbilder zuständig. Ben Wootten und sein alter Schulfreund Warren Mahy sind Designer, also v.a. Zeichner. Viele ihrer Abbildungen sind auch in diesem Band abgedruckt. Die einzelnen Mitwirkenden sind auf den Seiten 188/189 detailliert aufgeführt.

Was diese Leute zu sagen haben, ist nicht nur: „Wow, das ist der tollste Job meines lebens!“, sondern auch, wie sie zum LOTR-Projekt stießen. Einige kommen vom 1996er-„King Kong“. Ironischerweise dürften sie wohl auch wieder beim nächsten „King Kong“-Film dabei sein – diesmal gedreht von Peter Jackson. Ansonsten erzählen sie von ihren Arbeitserfahrungen. Auch das kann ganz interessant sein. Schließlich befinden sich diese Leute mitten im aktuell interessantesten Arbeitsfeld der kommerziellen Kunst: zwischen klassischer Miniaturentechnik und digitaler Design- und Darstellungstechnik. Zwar wird hier nicht über die New-Line-Software MASSIVE geredet – das war in Band 1 -, aber auch die „normale“ Design-Software bietet Aspekte, die den vorgebildeten Leser interessieren könnten. Die Einleitung ist wie das gesamte Buch mit Bannern aus König Théodens Festhalle „Meduseld“ in Edoras illustriert. Tatsächlich verfügt sogar jedes der nun folgenden Kapitel über sein eigenes kennzeichnendes Banner. Im ersten Buch bestanden diese Kennzeichen in den persönlichen Emblemen der Elbenfürsten (Elrond, Cíirdan, Galadriel usw.).

Bei der Darstellung der einzelnen Kapitel versuche ich, mich auf das Nötigste zu beschränken.. Die Inhalte kann sich der Leser selbst vorstellen, wenn er den Film gesehen hat. Ich fasse sie sehr kurz zusammen, als Gedächtnisstütze. Wer die Handlung aus Buch oder Film noch nicht kennt, sollte diesen Teil überspringen, da inhaltliche Details wiedergegeben werden.

1) Zirak-Zigil: Der Balrog und Gandalf stürzen zusammen in den Abgrund von Khazad-Dum, bis sie am Grunde Morias in einen See fallen und sofort die Endlose Treppe erklimmen, bis sie wieder an der Spitze eines Berges ankommen, wo die Zwerge einen Wachturm errichtet hatten: Zirak-Zigil. Die Farbstudien sind prächtig und die Bewegungsskizzen voller Dynamik. Der Tod des Balrog ist unglaublich gut dargestellt. – Wie alle Bilder des Buches sind auch diese mit Erklärungen versehen, in der Regel von dem jeweiligen Urheber persönlich.

2) Emyn Muil: Ein ödes Felsland östlich des Anduin-Stromes, das Frodo und Sam, heimlich verfolgt von Gollum, durchqueren. Hier wurden Digitalkompositionen eingesetzt.

3) Fangorn: ein Urwald im Westen, in dem nicht nur Bäume, sondern auch deren Hüter, die Ents, leben. Die von Uruk-hai gefangen genommenen Hobbits Merry und Pippin kommen frei und irren durch den Wald, bis sie den Ent Baumbart treffen. Die sie verfolgenden Gefährten Aragorn, Legolas und Gimli treffen mitten im Wald den auferstandenen Gandalf wieder, der nun ganz in Weiß gehüllt ist. (Er wurde von den Valar, den göttlichen Mächten Mittelerdes, zurückgeschickt, um seine Mission gegen Sauron zu vollenden.) – Nicht nur die Farbstudien des Urwalds sind hier interessant, sondern v.a. die zahlreichen Versionen für die Darstellung eines Ents.

4) Die Totensümpfe: Im PROLOG des 1. LOTR-Films sah man viele Menschen, Elben und Orks auf dem Schlachtfeld Dagorlad vor den Toren Mordors fallen. Ihre Leichen verschwanden für 3.000 Jahre in den „Totensümpfen“. In diese geistererfüllte Wildnis führt Gollum die beiden Hobbits Sam und Frodo. Frodo wird beinahe ein Opfer dieser Zombies. Sein „Ertrinken“ wird sehr schön dargestellt und erklärt: Er hing in einer Windmaschine! (Ebenso wie Sam beim „Ertrinken“ im Anduin.)

5) Edoras: Dies ist die Königsfeste der Krieger von Rohan, der menschlichen Rohirrim. Hier residiert König Théoden, zunächst als geschwächtes Wrack, doch nach der Heilung durch Gandalf als Kriegerkönig. Er befand sich unter dem Einfluss von Gríma Schlangenzunge, und seine Nichte Eowyn konnte nichts dagegen tun, sah sich vielmehr selbst den Avancen Grímas ausgesetzt. Nach den Kleiderstudien folgen Designbeispiele. Die Motive Pferd und Sonne kehren überall wieder. Besonders prächtig ist ein Wandteppich in der Goldenen Halle. Sein Design weist viele keltische Elemente auf. Alan Lee, einer der beiden Konzeptdesigner, trug viele Gebäudeentwürfe bei.

6) Das Schwarze Tor: Frodo muss den Einen Ring in das Innere Mordors tragen, doch der nördliche Zugang ist durch das Schwarze Tor blockiert. Er und seine beiden Begleiter entgehen gerade noch den Augen der vorbeimarschierenden Truppen der Ostlinge, die Mordor betreten. Während die Entwürfe des Tores von John Howe stammen, kommen die Entwürfe für die Rüstungen der Ostlinge von mehreren Künstlern.

7) Rohan: Das Land König Théodens wird von Wargreitern und Uruk-hai Isengards überrant, Edoras muss geräumt werden. Neben diesen Gestalten sind auch die Rohankrieger unter Eomer dargestellt (sogar Erkenbrand). Der Weg der Flüchtlinge führt zur Zwingfeste Helms Klamm am Rande des Weißen Gebirges. Aragorns Kampf gegen die Warge taucht hier leider nicht auf.

8) Bruchtal: Arwen hat die Sterblichkeit an der Seite ihres geliebten Aragorn gewählt und muss diesen Entschluss gegen Elrond verteidigen. Wir sehen sie in mehreren Gewändern und an der Seite des toten Aragorn, König Elessars. (Dies ist ein Ausblick auf Film 3!) Bruchtal selbst hat alle Farben des Herbstes verloren und mutet nun winterlich an: Die Zeit der Elben in Mittelerde ist definitiv vorüber.

9) Isengard: Der zu Sauron übergelaufene Zauberer Saruman schickt endlich seine Armee gegen die Menschen von Rohan aus: Orks, Uruk-hai, Wargreiter. Zahlreiche Farbstudien und Kompositbilder zeigen Orthanc, Saruman und das verwüstete Land um Isengard. Saruman wird in einer Palantír-Szene wie eine Comicfigur dargestellt, was doch recht unpassend wäre.

10) Ithilien: Gondors Gebiete westlich des Anduin heißen Anórien, also „Land der Sonne“, jene östlich des Stromes Ithilien, also „Land des Mondes“. Hierher führt der Weg, den Frodo & Co. seit dem Schwarzen Tor eingeschlagen haben. Doch das Land wird von eindringenden Ostlingen mit Riesenelefanten bedroht, die aber von Gondors Verteidigern unter Captain Faramir zurückgeschlagen werden. Frodo und seine Begleiter werden von Faramir (Boromirs Bruder) gefangen genommen und zu einem heiligen und geheimen Ort gebracht. Von dort darf Frodo ins zerstörte Osgiliath weiterreisen. – Sehr interessant sind v.a. die Kompositbilder von Ithilien, Henneth Annûn und Osgiliaths Ebene. Man sieht auch einen Blick auf die Berge von Mordor.

11) Helms Klamm: Die Schlacht um diese Festung bildet den Höhepunkt nicht nur des Films, sondern auch dieses Bildbandes. Diesem Abschnitt sind ganze 33 Seiten gewidmet! – Besonders beeindruckend sind die Panoramagemälde: Sie zeigen nicht nur das Isengardheer, sondern auch die Glitzernden Grotten hinter Helms Klamm. (Sie werden später Gimlis Königreich von Aglarond.) Mitglieder des Elben- wie auch des Isengardheers sind in Entwürfen zu sehen. Die Darstellungen der Kämpfe enden mit dem Angriffs der Huorns von Fangorn. Eine Bleistiftskizze von Alan Lee ist, wie so oft bei ihm, zu blass wiedergegeben.

12) Gollum: Dieses letzte Kapitel zeigt die Entwürfe zum neuen Star im LOTR2-Film. Ausgehend von Grimassen, die Peter Jackson schnitt (S. 179), entwarfen die Künstler alle möglichen Varianten für das Aussehen des schizophrenen Ex-Hobbits. Alle ihre Entwürfe wurden jedoch Makulatur, als Andy Serkis bei den Filmarbeiten eintraf. Anhand seiner Darstellungskunst veränderten sich die Animationen, Modelle und natürlich Kompositbilder. Einige der Modelle sehen unheimlich lebensecht aus.

Zum Nachwort von Andy Serkis: Der ganze Entstehungsprozess für die Gollum-Figur dauerte zweieinhalb Jahre, und Andy erzählt ihn in allen seinen Stationen, wovon es erstaunlich viele gab. So fiel beispielsweise die Entscheidung, Motion Capture einzusetzen: Alles, was Andy tut, fängt der Computer ein und überträgt es getreulich in Pixel. Aber auch die Auffassungen von Gollums Psychologie waren sehr wichtig: Nur so kann er unser Mitgefühl wecken. Als Opfer des Rings und des Folter durch Sauron ist bei ihm der „Wraithing“-Prozess schon weit fortgeschritten – so nennt der englische Literaturwissenschaftler Tom Shippey die geistige Auszehrung eines Wesens, bis es nur noch ein lebender Toter ist; siehe die Ringgeister, auf englisch: Ring Wraiths.

Sein informatives Nachwort schließt Andy mit einigen Reflexionen über die Rolle der Kreativität und Phantasie in unserer jetzigen Zeit. Er appelliert an die Künstler, sich als Seher und Kämpfer für Menschlichkeit zu betätigen, um den Terroristen mit ihren Bomben entgegenzuwirken. Als abschreckendes Beispiel führt er einen Filmemacher an, bei dem er vorsprach, der Filme beabsichtigte, deren Wahrheit wie eine Bombe einschlüge. Diese künstlerische Haltung weist Andy weit von sich. Und nicht zuletzt dies macht Andy zu einem der sympathischsten Künstler am ganzen LOTR-Projekt.

Dieser zweite Band ist wesentlich einfacher zu verstehen als der erste. Der Grund dafür ist die neue Aufteilung nach Schauplätzen. Dadurch bietet sich nun in jedem Kapitel eine bunte und abwechslungsreiche Palette von Themen: Kostüme, Bauten, Maske, CGI, Kompositionsbilder usw. Dies löst die langen Strecken des immergleichen Themas ab: Nach einem Dutzend Kostümen sagt man bereits „nein, danke“.

Man hat in jedem Kapitel die Wahl, sich die Begleittexte durchzulesen oder sich lieber auf die Bilder zu konzentrieren. Wer letzteres vorzieht, wird allerdings mehrmals erstaunt darüber sein, alte, längst verworfene Konzepte vorzufinden. Jedes Kapitel beginnt mit einem doppelseitigen Gemälde. Deren Qualität war allerdings in Band 1 etwas besser. Auch die Begleittexte weisen zahlreiche Tippfehler auf, die leicht korrigierbar gewesen wären.

Dieses Buch will sicher jeder haben, der sich ernsthaft mit dem Film und vielleicht auch mit Tolkiens Roman auseinandersetzt. Es gewährt ja einen Blick hinter die Kulissen, aber in künstlerischer Hinsicht. Und so liefert es eventuell dem einen oder anderen Fantasykünstler Ideen und Anregungen, sei er nun ein Designer für Computer- oder Konsolen-Spiele, Rollenspiele oder gar Filme. Mithin ist es also ein Filetstück für Sammler.

Wer nur Spaß an einer guten Fantasystory sucht, braucht das Buch nicht – dem reichen das Buch (schon schwer genug zu lesen) und der Film. Man kann ja das gesparte Geld in die DVD mit all ihren Making-ofs und „Featurettes“ investieren und so neun schöne Stunden verbringen (drei für den Film, sechs für die Extras der Special Extended Edition).

Hardcover: 192 Seiten