George Orwell – 1984

Aufruf zum Thoughtcrime

Die Ära des Kommunismus, auf die Orwell mit seiner omnipotenten, bedrohlichen und in ihrer Gesamtheit niemals erklärbaren Partei, dem Hinweis auf Drei-Jahres-Pläne (vgl. die kommunistischen/sozialistischen Fünf-Jahres-Pläne) und dem beständigen Mangel an Konsumgütern bei gleichzeitiger Planerfüllung, die mit Hilfe von Manipulationen erreicht wird, anspielt, ist Geschichte. Doch, obwohl kein totalitäres System im Ausmaße von „1984“ existiert (fraglich, ob es so umfassend jemals existieren könnte), sehen wir gerade heute wieder ganz deutlich die Gültigkeit von Orwells Analyse der Funktion von Krieg. Auch einer der interessantesten Komponenten des Romans wollen wir die nötige Aufmerksamkeit schenken: der Funktion von Newspeak (dt. Neussprech), der Manipulation von Sprache.

George Orwell hat in „1984“ eine beängstigende Welt geschaffen. Der gesamte Globus ist in drei Staaten geteilt: Oceania, Eurasia, und Eastasia. Oceania (dt. Ozeanien), dessen Territorium auch das ehemalige England einschließt, ist ein totalitäres Gesellschaftssystem unter der Oberherrschaft eines Big Brother (dt. Großer Bruder) und einer Einheitspartei, die übermächtig sowohl das Verhalten als auch die Gedanken seiner Gesellschaftsmitglieder kontrolliert. Als Unterdrückungsmechanismen fungieren Teleschirme, Abhörgeräte und Spitzel zur Überwachung des Lebens und die Senkung des Lebensstandards, so dass jederman nur damit beschäftigt ist, seine Grundbedürfnisse zu befriedigen, anstatt etwa über seine Lebenssituation nachzudenken. Ebenso werden die Emotionen der Bevölkerung so gesteuert, dass sie im Wesentlichen auf Hass auf „den Feind“ und orgiastische, religionsähnliche Massenverzückung bei der Anrufung des Großen Bruders beschränkt sind. Positive Gefühle werden durch die Unterdrückung von Sexualität und Liebe eingeschränkt. Nicht zuletzt überwacht man die Gedanken und die Sprache, belügt die Bevölkerung und fälscht die Vergangenheit, indem man sie täglich umschreibt.

In Oceania befindet man sich in einer Welt, in der man sich keiner Sache sicher sein kann (nicht einmal der Existenz von Personen wie Big Brother), und in der die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft und sogar man selbst minütlich manipuliert und verändert wird. Doch, obwohl sich das System in „1984“ in einem ständigen Veränderungsprozess befindet, ist es dem Genre der Utopie gemäß völlig statisch: Es gibt kein Entkommen aus dieser Situation. Einmal in Oceania, muss man sich dem System anpassen und/oder wird hingerichtet.

In dieser Welt lebt Winston. Zunächst ist er ein treuer Anhänger der Partei, wird im Verlaufe des Romans jedoch immer unzufriedener mit seinem Leben und möchte insgeheim der Oppositionsbewegung Brotherhood beitreten, die die Regierung zu stürzen beabsichtigt.

Außerdem beginnt er eine Affaire mit Julia, die die Partei noch mehr hasst, als Winston es vermag. Sowohl Affaire als auch Opposition werden in dieser Gesellschaft natürlich als schweres Verbrechen betrachtet. Während Winston also ein „Verbrechen“ nach dem anderen gegen den Staat begeht, arbeitet man im Miniluv (dt. Ministerium für Liebe – ein euphemistischer Ausdruck für ein Rehabilitationszentrum, in welchem untreue Staatsbürger misshandelt und hirngewaschen werden) bereits daran, ihn als „Gedankenverbrecher“ zu entlarven.

Schließlich wird Winston tatsächlich überführt, angeklagt und auf das Schlimmste gequält, bis er alles verrät, an das er geglaubt hat, und den Großen Bruder liebt. Solchermaßen gebrochen, entlässt man ihn zurück ins Leben, das er fortan damit verbringt, im „Chestnut Tree“ Gin zu trinken und seine Zeit zu verplempern.

Die Figuren des Romans sind wenig sympathisch; die Handlung nur mäßig spannend. Seine Faszination gewinnt das Werk aus der Schlussdebatte im dritten Part (Kap. 1-5), in der das System dieser Welt erklärt wird. Es wird deutlich, dass alles, was in Oceania geschieht, nur der Stabilisierung des Systems dient. Dem Leser wird klar, dass er, der sich in der Sicherheit gewiegt hat, er hätte mehr gesehen als Winston und würde alles durchschauen, im Grunde nichts weiß. Denn nichts ist fassbar in dieser Welt, nichts ist sicher – außer dem Willen der Partei zur uneingeschränkten Macht, einer gottgleichen Macht.

Der permanente Krieg, in dem sich Oceania befindet, dient den ökonomischen Interessen einer nicht genau definierbaren herrschenden Minderheit. Dabei sollen Rohstoffe in den eroberten Gebieten erbeutet werden, doch erfolgt deren Abbau offensichtlich nicht im Zusammenhang mit einer besseren Versorgung und der Hebung des Lebensstandards im eigenen Land. Wissenschaftlicher, technologischer und sozialer Fortschritt wird verhindert, indem alle Neuerungen nur auf die Rüstungsindustrie abzielen. Ideologisch bedeutet der fortwährende Krieg die Kompensierung aller Emotionen (auch des Missfallens der gegenwärtigen Zustände im eigenen Land) zum Hass auf die Kriegsgegner. Und im Endeffekt trägt der Krieg wesentlich zum Machterhalt der Herrschenden bei. Überträgt man Orwells Analyse auf die heutige Welt, muss man sich eingestehen, dass trotz des Zerfalls totalitärer Systeme die meisten, wenn nicht alle Kriege aus genau diesen Motiven heraus geführt werden.

Abgesehen davon halte ich Orwells Vision von Newspeak für geradezu gespenstisch genial. In der angestrebten neuen Sprache in Oceania soll mit Hilfe von Wortneuschöpfungen, mit dem Gleichsetzen von Wörtern entgegengesetzter Bedeutung (Krieg = Frieden z. B.), der Eliminierung unerwünschter Wörter (Wissenschaft, Ehre, Religion u. a.) und dem Verzicht auf Nebenbedeutungen das Vokabular derart reduziert werden, dass der Gedankenspielraum des größten Teils der Bevölkerung auf ein Minimum zusammenschrumpft und Kommunikation im eigentlichen Sinne (Oldspeak) nur noch einer kleinen Elite (namentlich den Parteiangehörigen) möglich sein wird.

Ohne in das Lamentieren der Gesellschaft für Deutsche Sprache einfallen zu wollen, … bedenkt man, wie hilflos heute ein Großteil der deutschen Bevölkerung dem allgegenwärtigen englischen-deutschen Sprachmix gegenübersteht, muss sich ein denkender Mensch nicht nur fragen, ob man ohne Denglischkenntnisse zu Recht zu den ewig gestrigen, „uncoolen“ und mit Verständnisschwierigkeiten geschlagenen Personen gehört; oder ob wir uns beständig einem Neusprech nähern, dessen Ausdrucksmöglichkeiten uns einen Anschein (!) von weltmännischer Modernität geben, unsere Kommunikationsfähigkeit jedoch einschränken. Ein der englischen Sprache Mächtiger kann sich Worte wie „global call“, „mindmap“, „service point“, „total touch-Scherkopf“, „job-floater“ und „Lucky Päcks“ mehr oder weniger sinnvoll ins Deutsche übersetzen, doch einige Bedeutungen erschließen sich selbst auf diese Art nicht. Vielleicht sollte man in naher Zukunft nicht nur einen Duden im Bücherregal zu stehen haben, sondern auch ein Wörterbuch in Neusprech- oder in der verschärften Version eines Quaksprech-Deutsch (orig. duckspeak).

Auch von diesen Parallelen (es lassen sich bei weitem mehr davon finden) zur realen Welt des 20./21. Jahrhunderts abgesehen, lohnt sich die Lektüre von „1984“ sowohl auf Deutsch als auch im englischen Original, da der Roman sich in beiden Sprachen recht zügig liest. Schwierigkeiten könnte im Original nur der Appendix „The Principles of Newspeak“ bereiten, der in einer sehr trockenen Fachsprache geschrieben ist. Meiner Meinung nach gehört die Kenntnis des Romans zum Allgemeinwissen. Nicht umsonst wird Orwells „1984“ zusammen mit Samjatins „Wir“ und Huxleys „Brave New World“ (Ersterer leider etwas in Vergessenheit geraten) als „Dreiergestirn der großen Antiutopien“ bezeichnet.

Taschenbuch: 384 Seiten
www.ullsteinbuchverlage.de