Curt Siodmak – Das dritte Ohr

Spannend und informativ: die Risiken des Gedankenlesens

Der berühmte Neurobiochemiker Dr. David Bolt reist aus Kalifornien nach Hamburg, um hier seine Forschungen am Zusammenhang zwischen Stimmungen, REM-Schlaf und Hirnchemie fortzusetzen. Doch während er die ESP-Substanz 232 findet, enthüllt um ihn herum nicht nur eine, sondern gleich mehrere Verschwörungen. Diese Leute wollen ihn zwingen, ihnen die Macht über das Gedankenlesen zu geben …

Der Autor

Curt Siodmak, 1902 in Dresden geborener Bruder von Hollywoodregisseur Robert Siodmak, schrieb neben zahlreichen Novellen und Filmdrehbüchern einige SF-Romane, die mittlerweile als Klassiker des genres gelten. Neben „Das dritte Ohr“ (1971) sind vor allem das verfilmte „Donovans Gehirn“ (1941) sowie „Hausers Gedächtnis“ (1968) berühmt geworden, die sich ebenfalls mit Psi-Phänomenen beschäftigen. Alle drei Bücher sind bei Heyne erschienen. Siodmak starb anno 2000.

Handlung

Dr. David Bolt ist ein weltbekannter amerikanischer Neubiochemiker. Bei seinen Schlafforschungen an einem indischen Yogi stößt er auf einen Zusammenhang zwischen Trance und Telepathie: Der Yogi hört „Stimmen“ – es sind die Gedanken seiner Mitmenschen. Aber sofort kläffen die Hunde, wenn er in Trance ist. Da sich Bolt sich über die Tragweite seiner Entdeckung völlig im Klaren ist, hält er sie streng geheim. Und der Yogi warnt ihn eindringlich davor, seine Entdeckung jemals zu missbrauchen.

In letzter Zeit fühlt er beschattet, abgehört und belästigt. Ein rumänischer „Assistent“ namens Kubatschew hat sogar seinen Papierkorb nach Notizen durchwühlt. Zum Glück hat ihm sein deutscher Standeskollege Prof. Joseph Heinemann angeboten, die Stelle zu tauschen. Und deshalb befindet sich Bolt gerade im Flieger nach Hamburg, um dort an der Uni zu forschen.

Angriff

Doch an Bord des Flugzeugs kommt es zu einem folgenreichen Zwischenfall. Ein bewaffneter Mann will den Piloten zwingen, Kurs auf ein anderes Land zu nehmen. Doch er hat nicht mit dem glatzköpfigen Karatekämpfer gerechnet, der ihm die Pistole aus der Hand schlägt und ihn überwältigt. Die umherfliegende Pistole, eine Beretta, trifft ausgerechnet Bolt direkt an der Stirn. Er wird kurz bewusstlos, dann aber gleich von einer freundlichen Stewardess verarztet.

Eigentlich wollte er ja ganz anonym und unauffällig Deutschland betreten, aber daraus wird wohl nichts. Er passiert Zoll- und Passkontrolle, holt sein Gepäck, als eine junge agile Frau auftaucht, um sich seiner und seines Gepäcks anzunehmen. Sie stellt sich als Astrid Gunnar vor, Prof. Heinemanns schwedische Assistentin. Bolt fügt sich ins Unvermeidliche: Sie wird sein Guide. Ihr rasanter Fahrstil ist zumindest geeignet, einen Verfolger abzuschütteln.

Das Mikrofon

Sie bringt ihn in Heinemanns Haus in dem alten Seemanns- und Fischerstädtchen Övelgönne. Dort legt sie eine auffällige Ortskenntnis an den Tag: Sie weiß genau, wo sich in der Küche alle Zutaten und Utensilien befinden. War sie für Heinemann etwa viel mehr als nur eine Assistentin? Als sie kurz mal einkaufen geht, entdeckt Bolts scharfes Auge ein verborgenes Abhörmikrofon hinter dem Porträt von Bismarck, das Kabel führt in den Keller. Astrid nimmt das alles jedoch auf die leichte Schulter: Ein Uraltmikro, na und? Beim Abendessen in der Schenke taucht der Karatemeister aus dem Flugzeug wieder auf – nur ein Zufall?

Gobel

Schon früh am nächsten Morgen steht die unvermeidliche deutsche Polizei auf der Matte. Franz Gobel ist jedoch möglicherweise vom Bundesverfassungsschutz, denn er weiß unglaublich gut Bescheid über alles, woran Bolt gearbeitet hat und dass die Amis nicht auf einen sowjetischen Kongress reisen ließen und vieles mehr. Gobel ist der festen Meinung, dass der Flugzeugentführer, den er in Gewahrsam hat, keinen anderen als Bolt entführen wollte – nach Ostdeutschland. Natürlich leugnet Bolt alles. Der Entführer hat bislang kein einziges Wort gesagt, deshalb weiß keiner, welcher Geheimdienst hinter dieser Aktion steckt. Aber das könnte sich ändern.

Das Tonband

Astrid fährt ihn gleich darauf zur Klink in Ottendorf, wo Heinemann forschte. Die Patienten hier sind in psychiatrischer Behandlung. Der Pförtner ist passenderweise ein Paranoiker, der Bolt mit einem Hammer den Schädel einschlagen will. Prof. Bauer entschuldigt sich vielmals peinlich berührt. Er stellt die Doktores Nemeth, Wilhelm und Magnussen, wobei der letzte Bolts Assistent werden soll.

Als Erstes will Bolt den Isolationsraum ausprobieren. Endlich hört, sobald das Licht aus und die Tür zu ist, die Reizüberflutung auf! Auch Ton- und Videoaufnahmen hat er sich verbeten, ebenso das Aktivieren des Polygraphen. Plötzlich geht das Licht an und Nemeth platzt herein: Er, Bolt, habe einen Albtraum gehabt! Da ist sich Bolt nicht so sicher. Für alle Fälle nimmt er das Tonband mit nach Hause und schließt es ein.

Das Medium

Astrid hat erwähnt, dass es auf der Reeperbahn ein Medium gebe, eine Wahrsagerin, die sich „Madame Dolores“ nennt. Schon die erste Begegnung mit der alten Hexe in einem Striplokal ist vielversprechend, mehr noch aber die eigentliche Sitzung, die in ihrer Wohnung stattfindet. Urplötzlich spricht aus der alten Frau eine männliche Stimme, die Astrids Innerstes enthüllt: Sie sei gespalten und gehorche der Stimme eines Toten …

Das jagt Astrid mordsmäßige Angst ein und sie bricht sie Séance ab. Das wiederum stürzt die unterbrochene Wahrsagerin einen katatonischen Krampf. Bolt ist äußerst aufgeregt und unternimmt alles, um die alte Frau wieder ins Bewusstsein zurückzuholen. Sie soll am nächsten Abend in sein Labor kommen. Für einen Fuffi ist sie dabei.

Substanz 232

Auch die Séance im Isolationszimmer der Klinik ist eine aufregende Angelegenheit. Dr. Nemeth soll Madame Dolores eigentlich bloß die Hand halten, während sie in der Trance in einem Atemschlauch exhaliert. Doch auf einmal fängt sie an, seltsame Sätze von sich zu geben, ganz so, als lese sie seine geheimsten Gedanken. Nun ist es an Nemeth, auszurasten und den Panikknopf zu drücken!

Man hört nie wieder von ihm, und das Tonband ist natürlich gelöscht. Das wundert Bolt inzwischen wenig. Schon das erste Tonband vom Tag zuvor wurde ihm gestohlen. Und als er den Diebstahl bei Franz Gobel anzeigen wollte, gab ihm ein Herr Löffler die Auskunft, einen Mitarbeiter dieses Namens gebe es bei, Kriminaldezernat von Hamburg ebenso wenig wie das Kriminaldezernat selbst … Ab sofort lässt Bolt ihn beschatten. Bolt ist einverstanden.

Aus Madame Dolores‘ Atem extrahiert Bolt in nächtelanger Arbeit endlich die gesuchte Substanz. Er nennt sie nach ihrer Nummer 232. Es handelt sich lediglich um 200 Milligramm – Tomothy Leary hatte bei seinen LSD-Versuchen mehr zur Verfügung. Entsprechend ist er beim Selbstversuch per Inhalation. Genau wie beim Yogi schlagen auch diesmal die Hunde an – ein gutes Zeichen!

Gedankenlesen

Ein geiles Zeug, findet Bolt. Die Wirkung, die er auf der Straße testet, hält immerhin anderthalb Stunden an, und er braucht dafür nur 5 Milligramm. Im Handumdrehen hat er Löfflers beschatter ausgemacht und stellt sie auf die Probe. Die Gedanken von Otto Normal und Lieschen Müller sind wie erwartet recht banal und keineswegs schmeichelhaft.

Das Beste kommt jedoch noch: Er kann jetzt sogar die Gedanken registrieren, die Astrid hatte, als sie vor Stunden in Bolts Haus aufräumte. Und tatsächlich wird Astrids Bewusstsein vom Bild einen sterbenskranken Geliebten beherrscht, genau wie das Medium es gesagt hat. Doch was bedeutet das in praktischer Hinsicht für Bolt? Er verabredet sich mit ihr auf dem Fernsehturm, um herauszufinden, für wen sie in Wahrheit arbeitet.

Das Rendezvous nimmt eine unerwartete Wendung, als der Mann auftaucht, der sich „Franz Gobel“ nennt. Er will Bolt einer Gruppe mit einem „interessanten Angebot“ vorstellen. Doch gerade jetzt bricht die Wirkung des 232 ab …

Mein Eindruck

Man kann es sich leicht denken, was diese Gruppe dem Forscher anbietet; unbegrenzte Forschungsmittel. Dafür muss er den Mitgliedern der Gruppe, unter ihnen Prof. Bauer, bloß die Macht über die Gedanken der Menschen geben. Diese spezielle Gruppe besteht jedoch nicht aus Regierungsbeamten, Militärs oder anderen Wissenschaftlers – die kommen alle in der finalen Auseinandersetzung -, sondern vielmehr aus Direktoren der freien Wirtschaft.

Folglich seien ihre Konzerne nicht von Geheimdiensten oder Politikern kontrolliert und könnten sich so dem Wohl der Menschheit widmen, behauptet der naive Prof. Bauer. Auch der britische Konzernlenker Burns haut in diese Kerbe, denkt aber gleichzeitig an eine junge Frau, die er intensiv begehrt – er will sie haben. (Bolt hat sich wieder 232 verabreicht und kann die Gedanken einwandfrei lesen.) Der französische Unternehmer Lacqueur ist noch hinterhältiger und schlauer: Er will Bolt das Geheimnis entreißen und es drei anderen Wissenschaftlern, darunter Kubatschew. Der überflüssige Bolt soll daraufhin „entsorgt“ werden.

Bolt weigert sich und geht einfach nach Hause. Er hat das Gefahrenpotenzial eindeutig erkannt. Das 232 würde die Menschheit zerstören. Dr. Nemeth geht sogar noch weiter. Sobald Kubatschew zurückgekehrt ist und Bolts Versuche an Madame Dolores nachvollzieht, bekommt Nemeth die volle Paranoia: Er stellt sich einen stalinistischen Staat mit Todeslagern und Folterkammern, Spitzeln und Deportationen vor. Folglich ist er es, der den ersten Anschlag auf Bolt ausführt …

Abenteuergarn

In einer straffen Weiterführung der Handlung lässt der Autor die Ereignisse sich zuspitzen. Er weiß genau, wie das geht, schreibt er doch schon seit seinem achten Lebensjahr (als er in Dresden ein Märchen an einen Verlag verkaufte). Schon die Story zu dem Fliegerabenteuer „F.P. 1 antwortet nicht“, verfilmt mit dem UFA-Star Hans Albers in der Hauptrolle, war ein richtiger Abenteuerreißer. Der Schauplatz ist ein Flugzeugträger, wie sie zu jener Zeit gerade erst entwickelt wurden (z. B. von Japanern und Amerikanern).

Eine neue Gefahr

Während in „Donovans Gehirn“ (zuerst 1941) der in einem isolierten Gehirn eingesperrte Geist eines Mordanschlags Rache an seinen „Mördern“ nimmt, bestimmt ein wesentlich weicheres Thema „Das dritte Ohr“: Gedankenlesen. Anders als bei der Telepathie werden keine Gedanken manipuliert, sondern lediglich empfangen. Dennoch sind die wenigen vom Autor skizzierten Folgen verheerend.

Dass Militärs die Pläne des Feindes frühzeitig „lesen“ wollen, versteht sich von selbst. Und deshalb wird Bolts Geheimnis als „Angelegenheit der nationalen Sicherheit“ eingestuft. Unter der Gesetzgebung von 1947 wird er sogar zum Unterlassen jeglicher Forschung verdonnert, denn er könnte ja ein potenzieller Spion sein. Der Kalte Krieg lässt schön grüßen.

Keine Privatsphäre

Nein, was für Menschen viel schlimmer ist als eine radikal veränderte Kriegsführung ist die Zerstörung jeglicher Privatsphäre. Das Entsetzen über den Verlust dieses elementaren Vorrechts kann Bolt selbst erleben, als er den Flugzeugentführer „interviewt“: Er liest die Gedanken des Finnen und wohin der Flug gehen sollte. Als Olaf Happala dies begreift, krümmt er sich zusammen wie ein Embryo und verstummt. Doch das nützt ihm nichts, denn Bolt bohrt weiter. Daraufhin greift Happala seinen Angreifer an – leichte Beute für die Wärter.

Bolt, der sich vielleicht naiv eine intensivere Liebesbeziehung zwischen Menschen erhofft hat, muss auch in seiner zweiten Begegnung mit Kubatschew, Burns und Lacqueur erkennen, dass Happalas Reaktion typisch für Menschen ist, die etwas zu verlieren haben – und zwar das Kostbarste, was sie haben: ihre Privatsphäre und somit Macht über ihre Gedanken. Diese zweite Begegnung endet in einem Blutbad …

Die Übersetzung

Der deutsche Text verrät einen sehr versierten und stilsicheren Übersetzer. Kein Wunder: Johannes Pirons Übersetzung erschien zuerst im S. Fischer Taschenbuch Verlag, der für seine sorgfältige Arbeit bekannt ist.

Wie gut Piron ist, erweist sich insbesondere an den Passagen, in denen Prozesse der anorganischen Chemie geschildert werden. Und zwar nicht bloß einmal, sondern mehrmals. Wir haben es eben mit Biochemikern zu tun. Man kann diese Passagen ohne Weiteres überspringen, aber sie belegen die Kompetenz des Autors auf diesem Gebiet.

Leider sind nicht alle Schreibweisen hundertprozentig korrekt. So sollte es auf S. 193 statt der Erbkrankheit „Phenylkatonurie“ vielmehr „Phenylketonurie“ heißen. Auf Seite 227 sollte es statt „Prime Rip“ vielmehr „Prime Rib“ heißen, dem edelsten Steakstück. (Hab ich auch einmal gegessen – sehr lecker.)

Unterm Strich

„Wissenschaftler kennen keine Ethik, wenn es um Forschung geht.“ Das sagt David Bolt und nennt auch gleich die Konsequenzen: „Dr. Nemeth erkannte das. Deshalb hat er [auf Bolt] geschossen.“ (S. 209) Es geht also um weit mehr als nur um die Risiken des Gedankenlesens (s. o.). Viel fundamentaler ist die Frage, wie weit die Wissenschaft in ihrer Forschung gehen darf, will sie noch ihrer Verantwortung für die Gesellschaft und Menschheit gerecht werden. Bolt nimmt dazu eine sehr pessimistische Haltung ein. Die Experimente der Nazis und die Atomforschung scheinen ihm Recht zu geben.

Aus diesen Gründen ist dieser spekulative Wissenschaftsroman ein gerade vorbildlicher Beitrag für die in der deutschen SF herausragende „Heyne Bibliothek der Science Fiction Literatur“. Auch der Roman „Donovans Gehirn“ schaffte es in diese elitäre Auswahl, obwohl er viel reißerischer ist.

Spannung

Ich habe den Roman zu meiner Überraschung äußerst spannend gefunden. An keiner Stelle verliert sich das Figurenpersonal in sinnleeren, ziellosen Forscherdiskussionen. Wenn über Biochemie diskutiert wird, dann in kompetenter, zielgerichteter Weise. Ich wurde also auf spannende Weise informiert. Vielmehr bewegt sich Bolt in einem Spannungsfeld, das interessanter kaum sein könnte: ein rätselhafte schöne Frau, eine erstaunliche Hellseherin, ein Naivling, ein gefährlicher Widersacher und diverse Spione, Agenten und sonstige zwielichtige Gestalten.

Gedankenlesen

Was das zentrale Konzept des Gedankenlesens anbelangt, so steigert sich die Komplexität des Einsatzes: Lange Zeit hat nur Bolt allein die süchtig machende Allmacht über das Wissen um das Denken anderer. Dann erhält auch Kubatschew diese Macht. Doch unsicher, wie er in dem Umgang mit 232 ist, begeht er einen Fehler nach dem anderen. Schließlich versetzt Bolt mit einem letzten Quentchen 232 auch die Gegenseite, also Burns und Lacqueur, in diesen Ausnahmezustand – sehr zum Entsetzen Kubatschews. Die Folgen sind ein Blutbad: Jeder erkennt den Verrat des jeweils anderen. Wenn allen Menschen dies widerfahren würde, kann man sich die Konsequenzen leicht ausmalen.

Die Zielgruppe

Die gute Übersetzung erleichterte es mir, dem Sachverhalt ebenso zu folgen wie den zahlreichen Wendungen der Handlung. Der niveauvolle Stil ist sicher und weit entfernt von den üblichen Sprachstandards der Sciencefiction, die offenbar hauptsächlich für ein Publikum zwischen 12 und 15 Jahren geschrieben wird. Diesen Roman kann man auch als Erwachsener mit Gewinn lesen, ohne sich als dumm verkauft vorzukommen.

Taschenbuch: 238 Seiten
Originaltitel: The Third Ear (1971)
Aus dem US-Englischen von Johannes Piron
ISBN-13: 9783453309623

www.heyne.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (1 Stimmen, Durchschnitt: 4,00 von 5)