Stephenson, Neal – Snow Crash

Leicht verdaulich ist es ja nicht, was Neal Stephenson da auf die Cyberpunk/Science-Fiction-Gemeinde losgelassen hat. Wer „Snow Crash“ allerdings eine Chance lässt, bekommt einen jener seltenen Ideentrips geboten, die das komplette Weltbild auf den Kopf stellen.

Doch beginnen wir am Anfang: Ausgangspunkt ist eine Zukunft, die nicht von Regierungen organisiert wird, sondern von seltsamen Konstellationen wirtschaftlicher Liberalität: So existieren etwa die Mafia, das FBI, die Polizei oder die Kirche als |Franchises| nebeneinander, als Geschäftsketten, deren Macht über die Marktanteile bestimmt, die sie sich sichern können.

Lebensraum der Bürger jener Zivilisation sind so genannte „Burbklaven“, Lebensgemeinschaften, deren Weltbild vertraglich geregelt ist – Subkulturen mit |Corporate Identity| sozusagen. Schmelztiegel all jener Burbklaven und Franchises ist das Metaversum, eine virtuelle Realität, in der sich jedermann und jede Frau „einbrillen“ kann, um sich mit weltweit gesammelten Informationen füttern zu lassen und mit anderen „Eingebrillten“ auszutauschen.

In einem solchen Universum gedeihen natürlich herrlich schräge Figuren: Hiro Protagonist etwa lebt außerhalb aller Burbklaven in einem Lagerhaus, wobei er seinen Lebensunterhalt als schwertkämpfender Hacker im Metaversum verdient. Und als Pizzafahrer für die Mafia. Ihm zur Seite steht Y.T., ein weiblicher, fünfzehnjähriger Skateboard-Kurier, der bis zu den Zähnen bewaffnet durch die übelsten Burbklaven düst, während die Mutter daheim mit dem Mittagessen wartet.

Eines schönen Tages bekommt es Hiro Protagonist mit „Snow Crash“ zu tun, einer Droge, die nicht nur den Computer seines Freundes Da5id lahm legt, sondern Da5id gleich mit. Snow Crash breitet sich rasch aus und hinterlässt Süchtige, die sich zu kultähnlichen Gruppen organisieren und scheinbar sinnlos vor sich her brabbeln.

Um seinem Freund zu helfen, heftet sich Hiro Protagonist auf die Spur von Snow Crash und den Drahtziehern dahinter. Dabei lernt er unerwartet, die Vertreibung aus dem Paradies mit anderen Augen zu sehen, er stellt fest, dass die Sumerer eine bizarre und fortschrittliche Weltsicht hatten, und erkennt, dass Religion und moderne Computerwissenschaft mehr gemeinsam haben, als sich der durchschnittliche Hacker des 23. Jahrhunderts vorstellen könnte.

Das gilt für den durchschnittlichen Leser des 21. Jahrhunderts natürlich umso mehr. Dementsprechend wird man mit Ideen um neurolinguistische Hacker bombardiert, um Metaviren, um eine drohende Infokalypse und um einen Antagonisten, der seinesgleichen sucht.

Wie gesagt, „Snow Crash“ ist nicht einfach nachzuvollziehen und man sollte schon ein paar grundlegende Kenntnisse über Computer mitbringen, wenn man dieses Buch verstehen möchte. Überhaupt ist Computertechnologie ein gerne verwendetes Thema von Neal Stephenson, das selbst in seinem Kryptographie-Thriller „Cryptonomicon“ eine entscheidende Rolle spielt, obwohl die Thematik dieses Romans im zweiten Weltkrieg verankert ist.

Für Cyberpunk-Anhänger oder Freunde harter Science-Fiction sind derlei technische Eskapaden natürlich ein gefundenes Fressen. Dabei sind Stephensons Ideen durchdacht und rasant umgesetzt, er fordert den Leser, überrumpelt ihn aber nicht, Grundwissen ist wohl nötig, aber ein Doktortitel muss es deswegen noch lange nicht sein. Überhaupt steht bei all dem die Story im Vordergrund, und die ist trotz allen Anspruches poppig, bunt und in einen gekonnten Spannungsbogen eingebettet.

Ursprünglich war „Snow Crash“ als computergenerierter Comic-Roman gedacht, der zusammen mit dem Künstler Tony Sheeder erstellt werden sollte, aber bald wurde dieses Projekt von seinem eigenen Gewicht erdrückt. Der Sprache merkt man es aber noch an: Sie ist hart, direkt und bombardiert den Leser mit stroboskopartigen Bildern einer Welt, die mit bizarren Ideen nur so gespickt ist:

|Im nächsten Sekundenbruchteil: Kein greller Blitz blendet sie, und darum kann sie die Druckwelle regelrecht sehen, die sich wie eine perfekte Kugel ausbreitet, hart und greifbar wie ein Ball aus Eis. Wo die Kugel die Straße berührt, erzeugt sie eine kreisförmige Wellenfront, schleudert Kieselsteine in die Höhe, wirbelt alte McDonald’s-Verpackungen hoch, die längst platt gefahren sind, und fördert feinen, weißen Staub aus sämtlichen Ritzen des Asphalts, so dass sie über die Straße rollt wie ein mikroskopischer Schneesturm. Darüber hängt die Druckwelle in der Luft, rast mit Schallgeschwindigkeit auf Y.T. zu, eine Linse aus Luft, die alles auf der anderen Seite abflacht und bricht. Sie saust hindurch.|

Selten hat man die Zeit, sich während einer gemächlichen Erklärungspassage umsehen zu können, Burbklaven, Franchises, Avatare, Daemonen oder Dentatas prasseln auf den Leser ein, während man vom Sog der Handlung mitgerissen wird; Handlung und Exposition verschmelzen so zu einer Einheit, die jegliche Langeweile im Keim erstickt. Natürlich wird hin und wieder das Tempo gedrosselt, um etwas zu erklären, aber dann ist das Erklärte so abgefahren, dass man die „Pause“ auch braucht, um es überhaupt verarbeiten zu können.
Stephenson hat außerdem ein gutes Gespür für die Vermeidung überflüssiger Informationen; die Szenen greifen nahtlos ineinander über und sorgen für einen stetigen Fluss. Er lässt den Leser an den entscheidenden Punkten des Geschehens einsteigen und hält sich nicht mit Rückblenden auf.

Auch die Figuren bleiben nicht auf der Strecke. Stephenson gibt sich nicht damit zufrieden, kantige Comic-Charaktere in den Raum zu werfen, die durch ein paar skurrile Eigenschaften vom Ruch des Eindimensionalen befreit werden sollen. Die Figuren leben und denken in der Welt, die für sie erschaffen worden ist, sie wachsen in der Konfrontation mit Snow Crash, und dadurch lernt der Leser zu verstehen, wie diese Welt „im Inneren“ funktioniert, was die „Infokalypse“ bedeuten würde, wenn sie tatsächlich über alles hereinbräche. Aber was am wichtigsten ist: Es gibt keine Marionetten der Story, die Story wächst durch die Entscheidungen der Figuren.

Neal Stephenson ist mit „Snow Crash“ jedenfalls ein exquisites Stück Ideenliteratur geglückt, das, wie ich finde, zu Unrecht im Schatten von William Gibsons [„Neuromancer“ 280 steht. Auch wenn Letzterem eine Pionier-Rolle in diesem Subgenre zusteht, zeichnet sich Stephensons Buch durch radikalere Ideen aus, die den Cyberpunk auf eine weitere Evolutionsstufe gehievt haben. Zu Recht jedenfalls wird er in einem Atemzug mit Bruce Sterling, John Shirley und dem erwähnten Gibson genannt, wenn es um die tragenden Autoren der Cyberpunk-Szene geht.

Man sollte sich allerdings davor hüten, Neal Stephenson in diese stilistische Ecke zu drängen. Angefangen hat der 1959 in Maydland Geborene mit „The Big U“, das er auf seiner Homepage als „Jugendwerk“ bezeichnet und nicht weiter kommentiert. 1988 veröffentlichte er „Zodiac – the Eco Thriller“, einen Hardboiled-Detektivroman, um 1991 schließlich „Snow Crash“ zu veröffentlichen. „Diamond Age“ landete 1995 in den Buchregalen der Leserschaft und schlägt als einziges Werk in eine ähnlich rasante und bunte Science-Fiction/Cyberpunk-Kerbe wie sein Vorgänger.

Das Jahr 1999 brachte Stephenson dann mit „Cryptonomicon“ den Durchbruch. Allerdings schlendert dieser Kryptographie-Thriller in einer epischen Gemütlichkeit dahin, die nicht das Geringste mit der Achterbahnfahrt gemein hat, auf die man von „Snow Crash“ geschickt wird. „Cryptonomicon“ kommt viel erwachsener daher, ebenso wie dessen drei Folgeromane aus dem „Baroque Cycle“: [„Quicksilver“, 858 „The Confusion“ (bisher nur auf Englisch erschienen) und „The System of the World“ (ebenfalls nur auf Englisch erschienen). Stephensons Leidenschaft für ausgeklügelte Ideen bekommt hier viel mehr Raum und der Leser kann gemütlich durch seine Gedankengebilde spazieren. Ich für meinen Teil ziehe seine beiden wesentlich wilderen Vorgänger eindeutig vor, weise aber ausdrücklich darauf hin, dass das nichts mit der Qualität von „Cryptonomicon“ zu tun hat, sondern ausschließlich mit meinem persönlichen Geschmack.

Kommen wir also zum Fazit: Da die Zielgruppe „Snow Crash“ ohnehin schon in den Regalen stehen haben wird, geht mein Aufruf an alle, die sich der Science-Fiction sonst nicht so verbunden fühlen: Gebt diesem Ideentrip eine Chance, die Mühe, die er verlangt, zahlt sich mehrfach aus!