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Uta-Maria Heim – Das Rattenprinzip

Ein Wendeporträt: Ermittlung im Stuttgarter Misthaufen

Eine Mordserie erschüttert den Stuttgarter Norden im Jahr 1990. Lokaljournalist Udo Winterhalter ermittelt in einem Sumpf aus Kulturmanipulation und Kritikerbestechung. Einer dieser Kritker, sein Kollege Leif Götzberg, ist nach einem Theaterbesuch tot: in eine Mauer gerast. Seltsamerweise stirbt kurz danach auch Götzbergs Freundin Yasmina Finke, die auch das Theater besuchte. Und der Kieferorthopäde und Buchautor Dr. Martin Koneffke, der Götzberg schmierte, verschob Geld – an wen, für was? Udo Winterhalter ermittelt schneller, als die Polizei glauben mag …

Die Autorin

Uta-Maria Heim, geboren 1963 in Schramberg, Schwarzwald, lebt als Dramaturgin und Autorin in Baden-Baden. Sie schrieb zahlreiche Romane, Krimis, Hörspiele und Features. Für ihre Arbeiten erhielt sie Auszeichnungen wie den Deutschen Krimi-Preis, den Förderpreis Literatur des Kunstpreises Berlin und den Friedrich Glauser Preis. „Das Rattenprinzip“ war ihr erster Roman und Krimi. Er erschien erstmals 1991 bei Rowohlt und avancierte schnell zum sogenannten „Kultbuch“. Die Fortsetzung von 2009 trägt den Titel „Wespennest“.

Romane und Erzählungen

1990 Vergelt’s Gott: Schwarzwälder Novellen (Erzählungen, Schlack, Stuttgart)
1991 Das Rattenprinzip (Kriminalroman, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg). ISBN 3-499-43013-4, Neuauflage 1992
1992 Der harte Kern (Kriminalroman, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg). ISBN 3-499-43045-2
1993 Die Kakerlakenstadt (Kriminalroman, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg). ISBN 3-499-43068-1
1993 Die Widersacherin (Roman, Nagel und Kimche, Zürich und Frauenfeld). ISBN 3-312-00190-0
1994 Der Wüstenfuchs (Kriminalroman, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg). ISBN 3-499-43110-6
1994 Die Wut der Weibchen (Kriminal-Stories, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg). ISBN 3-499-43143-2
1995 Bullenhitze (Kriminalroman, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg). ISBN 3-499-43176-9
1996 Durchkommen (Roman, Kiepenheuer, Leipzig). ISBN 3-378-00592-0
1996 Die Zecke (Kriminalroman, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg). ISBN 3-499-43237-4
1998 Sturzflug (Kriminalroman, Hamburger Abendblatt, Hamburg). ISBN 3-921305-42-X
1999 Engelchens Ende (Roman, Wunderlich, Reinbek bei Hamburg). ISBN 3-499-26150-2
2000 Glücklich ist, wer nicht vergißt (Roman, Wunderlich, Reinbek bei Hamburg). ISBN 3-499-22938-2
2000 Ihr Zweites Gesicht (Roman, Wunderlich, Reinbek bei Hamburg). ISBN 3-499-26218-5
2002 Ruth sucht Ruth (Roman, Berlin-Verlag, Berlin). ISBN 3-442-76023-2
2002 Schwesterkuß (Roman, Berlin-Verlag, Berlin). ISBN 3-442-76052-6
2006 Dreckskind (Kriminalroman, Gmeiner, Meßkirch). ISBN 3-89977-661-5
2007 Totschweigen (Kriminalroman, Gmeiner, Meßkirch). ISBN 3-89977-704-2
2008 Das Rattenprinzip (Kriminalroman, überarbeitete Neuauflage von 1992, Gmeiner, Meßkirch). ISBN 978-3-89977-745-1, Neuauflage 2009.[1][2][3]
2009 Wespennest (Kriminalroman, Gmeiner, Meßkirch). ISBN 978-3-89977-809-0[2][4]
2010 Totenkuss (Kriminalroman, Gmeiner, Meßkirch). ISBN 978-3-8392-1059-8
2011 Feierabend (Kriminalroman, Gmeiner, Meßkirch), ISBN 978-3-8392-1178-6
2013 Wem sonst als Dir. (Roman, Klöpfer & Meyer, Tübingen), ISBN 978-3-86351-064-0[5]
2016 Heimstadt muss sterben (Roman, Klöpfer & Meyer, Tübingen). ISBN 978-3-86351-413-6
2017 Toskanische Beichte (Kriminalroman, Gmeiner, Meßkirch). ISBN 978-3-8392-2125-9
2018 Toskanisches Feuer (Kriminalroman, Gmeiner, Meßkirch). ISBN 978-3-8392-2348-2
2019 Toskanisches Blut (Kriminalroman, Gmeiner, Meßkirch). ISBN 978-3-8392-2488-5
2020 Toskanisches Erbe (Kriminalroman, Gmeiner, Meßkirch). ISBN 978-3-8392-2765-7

Handlung

PROLOG

Claudi Roth, jetzt verheiratet mit zwei Kindern, erhält nach 15 Jahren ungebetenen Besuch von „Ossi“ Oswald, ehemals Kommissar in Stuttgart. Ungute Erinnerungen an jene Zeit werden wach, an die Sache mit Udo. Oswald ermittelt immer noch, sagt er. Er will einen Blick in die Werkstatt ihres Vaters werfen. Vater Karl Roth, von allen der Rote Karle genannt, war ein Kommunist. Wer weiß, wozu er im Stande gewesen ist …

Anno 1990

Es ist kurz vor Ostern, als Udo Winterhalter, frisch gebackener Chef der Lokalredaktion des „Stuttgarter Tagblatts“ (fiktiv) mit seiner Freundin Claudi Roth das Kleintheater „Die Wespe“ in Stuttgart besucht. Es ist eines der letzten Kleintheater der Landeshauptstadt, den anderen wurden die Subventionen gestrichen. Das Stück präsentiert Hölderlin-Gedichte, die Claudi und Udo zu Herzen gehen, denn sie handeln von ihrem Ländle, zwischen Schwarzwald, Bodensee und Neckar.

Doch auch die Besucher sind wichtig. Da ist Udos Kollege Leif Götzberg mit seiner blonden Freundin Yasmina Finke, und da ist Häffner vom Feuilleton sowie Dr. Martin Koneffke, gönnerhafter Buchautor, Kunstmagazinherausgeber und Kieferorthopäde. Wenig später erfährt Udo, dass Koneffke sowohl Götzberg als auch Häffner mit hohen Beträgen geschmiert hat, das Theaterstück vorab über den grünen Klee zu loben. Häffner hat danach Gelegenheit, das Stück in seiner Tageszeitung zu verreißen – ausgleichende Gerechtigkeit oder Schizophrenie des Gewerbes?

Am Tag danach dann die Nachricht, die Udo wie ein Blitz rührt: Götzberg ist mit seinem Wagen ungebremst (!) in eine Mauer gefahren, nur wenige Stäffele (Treppen) vom Zeitungshaus entfernt. Offenbar Selbstmord, glaubt Udos Kumpel, Kommissar „Ossi“ Oswald. Blödsinn, meint Udo, der Götzberg hatte Erfolg. Also ein Unfall? Götzberg kannte die Kurve wie seine Westentasche. Also was jetzt?

In der Nacht darauf stirbt Yasmina Finke, Götzbergs Freundin, erstochen mit einem spitzen Gegenstand. Was wusste sie? Womöglich zu viel über Koneffkes Machenschaften? Von der Leiterin des Literarischen Zentrums, Brigitte Heckmann, erfährt Udo, dass Koneffkes Magazin von der Pressestelle des Autokonzerns Schwäbische Motoren Werke SWM (fiktiv) gesponsert worden sei. Diese Pressestelle habe auch dem Literarischen Zentrum Geld angeboten, immerhin 50 Riesen. Der Vorstand sei darob gespalten. Und wenig später kommt es zum Verrat: Die Verlockung dieser Summe ist zu groß.

Udo schreibt an einer Enthüllungsstory „Das Maffiäle“, doch sein Chefredakteur will mehr Beweise sehen. Claudi weist ihn auf die elementare Frage hin, die ihr Vater gestellt hätte: „Wem nützt das?“ In der Tat: wem? Und wozu? Udo sollte die Antwort besser schneller finden, denn wenn er weiter so stänkert und enthüllt, gerät er schnell selbst ins Visier …

Mein Eindruck

Dies ist ein Krimi, der im Schwabenland handelt, wie man es sich auswärts vorstellt. Doch das ist nur zur Hälfte richtig, denn neben dem Schauplatz Stuttgart, das nach allgemeiner Ansicht in Schwaben liegt, spielt die andere Hälfte des Romans in Udos und Claudis Heimat, im schwarzwälder Mariabronn, und dort spricht man alemannisch. Mit Schwäbisch könnte man hier noch halbwegs durchkommen, aber Kenntnisse des Schwyzerdütschen sind ebenfalls hilfreich, um beispielsweise das Wort „gsi“ (= gewesen) zu verstehen. Aus diesen unterschiedlichen Lokalitäten, Mentalitäten und Sprechweisen ergeben sich reizvolle Kontraste, die die Autorin gewinnbringend auszunutzen weiß.

Schwaben und SMW

Zwei, drei Dinge sollte man nämlich in diesem Buch über das Schwabenland lernen, falls man es nicht schon vorher sonnenklar gesehen hat: „Schwabenland = Autoland“. Und: „Wenn der Daimler hustet, kriegt Stuttgart eine Lungenentzündung.“ Will heißen: Wenn die Autobauer von Mercedes-Benz schlechte Zahlen schreiben, dann kassiert die Region Stuttgart weniger Gewerbesteuer und kann somit weniger investieren. Sindelfingen, einer der Mercedes-Produktionsstandorte hier in meiner Nähe, war mal in den achtziger, neunziger Jahren die reichste Gemeinde Deutschlands, nicht ohne Grund. Das Werk dort erstreckt sich über mehrere Quadratkilometer, ebenso das in Untertürkheim. Von Porsche wollen wir gar nicht erst anfangen. Zusammen bilden sie die fiktiven „Schwäbischen Motoren Werke“ SMW (analog zu BMW).

Armer Irrer

Und mit denen legt sich unser Udole jetzt an. Ist er noch bei Sinnen? Nein, natürlich nicht, denn er ist ein armer Narr, der (noch) nicht weiß, was er tut bzw. wer mit ihm Schlitten fährt. Aber im Zuge seiner Ermittlungen, die er zusammen mit dem schlauen und zwielichtigen ehemaligen Verfassungsschützer „Ossi“ Oswald durchführt, stößt er auf einen Sumpf aus Kulturpolitik, die zugleich Industriepolitik ist. Das kann der Lokaljournalist Udo erst einmal nicht glauben. Kultur, die von der Industrie gelenkt wird? Wozu das denn?

Einfache Frage: Wem nützt das auf welche Weise? Anhand des fiktiven Kulturmagazins ARTemis zeigt die Autorin, wie die Pressestelle der SMW Geld zuschießt, um ihr genehme Artikel zu lancieren, die von geschmierten Journalisten verfasst werden. Dass diese Skribenten zugleich auch für die maßgebliche Tageszeitung, das (fiktive) „Stuttgarter Tagblatt“ (unschwer als „Stuttgarter Zeitung + Stuttgarter Nachrichten“ zu entziffern) schreiben und dort in Lohn und Brot stehen, ist eine Erscheinung des Sumpfes. Diese Skribenten bereiten den Boden für das Automobil als unverzichtbares Vehikel des gebildeten Bürgers. Und Wehe dem, der nicht das heiligs Blechle als Wirtschaftsfaktor verehrt und ihm huldigt! Dem geht es so wie Götzberg und den späteren Opfern. Auch Udo kann sich die Finger verbrennen.

Udo schlackert mit den Ohren, als er sich mit der Leiterin des Literaturzentrums einlässt, seine Claudi betrügt und sich diese Brigitte Heckmann schlussendlich als bezahlte Komplizin von SWM und Konsorten entpuppt. (Herrliche Szene: Die Kripo in der ersten Reihe bei einer Dichterlesung!) Das bricht ihm nun wirklich das Herz, so dass er erst nach Rom düst und dann wieder in der Heimat landet. Hier war beider Zeitung der King und hatte alle Chancen, doch Claudi will er trotzdem nicht heiraten, weiß der Geier warum.

Kommunisten

Vielleicht liegt es an Claudis grantigem Vater, dem kommunistischen Roten Karle, dass es ihm im Rothschen Haushalt nicht so recht gemütlich werden will. Der Karle von der 1956 verbotenen DKP wettert mit seinen Marx/Engels-Sprüchen gegen das Kapital, seine Druckmittel, die Ausbeuter usw. Dabei weigert er sich selbst, seine Produktionsmittel konkurrenzfähig zu machen und beutet lieber seine Familie aus. Es sind seine drei Kinder, die ihn „verraten“, wenn man so will. Die zwei Söhne kaufen eine neue, konkurrenzfähige Maschine, wie sie der Wettbewerber Stump besitzt, und Claudi erpresst die Gattin von Stump dahingehend, dass Stump die Lieferung drei Wochen lang einstellt. Es hängt eben alles zusammen: Das Geheimnis um die Vergewaltigung der Marianne Stump durch ihren debilen Bruder Heinz ist ebenso ein Druckmittel wie alles andere, das sich etwa die SMW einfallen lassen würde. Unschuld vom Lande? Gang mer fort!

Udo, vom Karle entsprechend erleuchtet, erklärt auch kurz und bündig das titelgebende Rattenprinip: „Wer pariert (= gehorcht), dem wird’s in den Rachen geschoben (der wird ordentlich gefüttert)!“ (Seite 128) Und weil der Karle kein Blatt vor den Mund nimmt, ruft er auch mehr als einmal „Scheißdreck!“.

Dialekt

Womit wir beim Dialekt wären, der einen Großteil der speziellen Sprachform dieses Krimis bestimmt. Die zwei Dialekte des Schwäbischen und des Alemannischen bestimmen wahrscheinlich auch, warum dieser Krimi zu einem „Kultbuch“ geworden ist: Nur ganz bestimmte Leute können es überhaupt zur Gänze verstehen und finden sich dementsprechend wieder, als ginge es um sie selbst. Insofern könnte man das Buch sogar als Schlüsselroman lesen – ein pikanter Reiz für die Eingeweihten jener Zeit um 1990.

Wer nun fürchtet, vor lauter Dialekt nichts mehr zu kapieren, der sei beruhigt. Die Autorin oder der Verlag oder beide sind einen Kompromiss zwischen Total-Dialekt als authentische Variante und Total-Hochdeutsch als maximalverständliche Variante eingegangen. Den Puristen behagt der Kompromiss sicher nicht, aber dafür ist die Leserschaft jenseits der Schwaben größer, ohne dass das berühmt-berüchtigte „Lokalkolorit“ verleugnet wird. In manchen Dialogen fangen die Figuren mit Dialekt an und sprechen nach zwei, drei Sätzen hochdeutsch weiter. Das sieht zwar etwas merkwürdig aus, ist aber umso lesbarer. Ein Konstrukt wie „Stuegert“ ist typisch, und es dreht einem Schwaben den Magen um. Da es sich um einen europäischen Roman handelt, sind auch Schwyzerdütsch und Italienisch vertreten.

Ich hatte mit keinem der Dialekte Probleme außer dem Alemannischen. Was ein „Daudel“ ist, konnte ich noch aus dem Kontext erschließen (ein Trottel), aber was „drimmelig“ sein soll, rätsele ich immer noch. Vielleicht „verträumt“? Wer weiß. Fußnoten und Glossar fehlen, doch sie hätten auch etwas seltsam ausgesehen, so als hätte die Autorin vorgehabt, ihren Schwabenkrimi zu einem Exportschlager zu machen. Dieses Vorgehen ist der Automafia vorbehalten.

Erzählstil

Von der ersten Zeile an hat mich der Erzählstil fasziniert. Alle Sätze sind ziemlich kurz und in ihrem Satzbau sehr einfach gehalten. Das hat nichts mit der Maulfaulheit von Schwaben zu tun, sondern mit dem Darstellungsstill. Jeder Satz setzt wie in einem Bild einen Farbtupfer, und erst wenn der Leser mehrere Farbtupfer zusammensetzt, ergibt sich das angedeutete Bild. Nun sind diese Sätze aber recht skurril, selbst dann, wenn sie nicht im Dialekt daherkommen. Manchmal handelt es sich nur um Gedankenfetzen, die Udo und Claudi durch den Sinn gehen. Auf diese Weise kann die Autorin Innenwelt und Außenwelt fließend ineinander übergehen lassen. Die Außenwelt ist immer eine beobachtete, also interpretierte, und wird so zu einer Ebene der Innenwelt.

Dadurch kommen recht lustige, skurrile, wenn nicht sogar bizarre Ergebnisse zu Stande. Einer dieser Beobachter ist nämlich ein Tier. Claudis Langhaardackel Maier hat immer wieder Auftritte im Buch und wir erleben seine Umgebung nur durch seine Augen und Nase, also als Hell-Dunkel-Kontrast oder Rot vs. Weiß usw. Maier fungiert sowohl als Joker wie als Gegenbild zu den seltsamen Menschenwesen, aber er spielt auch eine ganz entscheidende Rolle bei der Aufklärung des Mordfalles Yasmina Finke. Da tun sich Abgründe auf – von wegen Unschuld vom Lande! Das Land kann auch Bigotterie aufweisen, die sich mit tödlicher Konsequenz zeigt.

Dialektik _(SPOILER!)

Wie sehr die Industrie in Gestalt der SMW-Pressestelle die Kulturszene manipuliert und mit welchem Ziel sie dies tut, erkennt Udo in der theoretischsten Passage des Buches zwischen Seite 124 und 129. Ein komplettes Zitat wäre sinnlos und zu lang, aber zwei Passagen sollen die Intelligenz hinter dieser Stelle beleuchten.

Udo sitzt im Theater und wundert sich. „Wem nützt das, dachte er. Er verstand nichts vom Theater, aber er begriff mit einem Schlag, dass die Bosheit von Kresniks Inszenierung, die sich an der Verblödung der Massen ergötzte, nicht die andern meinte, nicht das dumpfe Volk draußen, sondern die Besseren hier drin im Theater. Die Symbole der geistigen Verelendung wurden vorgeführt, Boris [Becker] und Daimler, der Medienterror schlug denen ins Gesicht zurück, die ihn für das Volk inszenierten: den Bildungsbürgern. Sie verachteten das Volk, sie gaben ihm Dummheit zu fressen, und das Volk rächte sich, indem es ihnen die Dummheit vor die Füße kotzte. Dass sich das Stück gegen die selbstverantwortete Verdummung der Massen richtete, bewirkte Abwehr, und Abwehr bewirkte Beifall.“ (S. 124)

Fünf Seiten später auf Seite 129 heißt es: „Udo war verwirrt. Er hatte immer gedacht, Gleichschaltung bedeutet, dass man das Subversive ausmerzt. Und das Subversive ist immer das Kritische. Jetzt sah er, dass es grad andersrum war. Die Bosse waren schlauer. Mit dem Skandal erkauften sie sich jene Selbstliebe, die das liberale Bürgertum zum Funktionieren brauchte.“ Und die Liberalen stammen, wie man weiß, vor allem aus Baden-Württemberg …

Immer wieder finden sich solche Dreisprünge der Dialektik des Materialismus, für die Marx, Engels, Lenin und viele andere stehen. Die Dialektik bringt nicht nur interessante Ergebnisse hervor, sie ist auch der Ansatz für die Kritik am schwäbischen System der Bildungsbürger und Autobosse. Sobald Udo die Dialektik anwendet, zuerst im Theater, gelangt er endlich zur Erkenntnis seiner eigenen Rolle als Chef der Lokalredaktion: Herausgeber und Chefredakteur haben einen Deppen vom Land gesucht und ihn gefunden. Er dachte, er würde Wunder was in Stuttgart bewirken, dabei sollte er bloß der Idiot vom Dienst sein, der nix kapiert. Da haben sich seine Chefs aber geschnitten!

Unterm Strich

1990 ereignete sich die ostwestdeutsche Wende, nicht bloß in der Hochpolitik, sondern auch ganz unten im Volk. Die Schwaben sehen sich in einem geistigen Umschwung mitgenommen, den noch kaum einer registriert. Während in den Achtzigern noch AKW-Gegner und Pazifisten die Menschenkette bildeten, gehen jetzt die Feministinnen mit Plakaten auf Beerdigungen. Die Technologie siegt, und große Autokonzerne sponsern die Kulturszene mundtot, bis auch der letzte Bildungsbürger kapiert hat, dass am heiligs Blechle alles hängt und alles zu ihm drängt, als wär’s eitel Gold. Und der Verfassungsschutz, vertreten durch seinen ehemaligen Mitarbeiter „Ossi“ Oswald, jetzt Hauptkommissar, sorgt für die rechte (!) Gesinnung.

Schon wird die beginnende Konkurrenz aus dem „Ostblock“ und die Globalisierung selbst draußen auf dem Land in Mariabronn spürbar, dann können die kleinen Meisterbetriebe dicht machen. Udo, der Lokaljournalist, ermittelt im Stuttgarter Sumpf und gerät um ein Haar unter die Räder. Erst in Rom kommt er wieder zur Besinnung, denn dorthin führen bekanntlich alle Wege.

In der Heimat, so der hinterlistige Witz der Geschichte, klärt er einen Mord auf, der in Stuttgart passierte. Die Handlung schlingert am Schluss assoziativ vor sich hin, scheinbar ziellos, und man kann dies für eine Schwäche halten. Manchmal fördert aber das Ziellose das eigentliche Ergebnis zu Tage, so wie es Maier, der Dackel, mit einem Stöckelschuh in einem Misthaufen tut. Ein Bild, das Bände spricht.

Ich fand die Lektüre äußerst kurzweilig und interessant, außerdem fühlte ich mich köstlich amüsiert. Die Sprache, die Figurenzeichnung, die ironische Brechung der Kontraste – das verrät schon einen Routinier. Nur bei der Handlungsführung und dem offenen Schluss müsste ich Abstriche machen. Dialekt sollte man allerdings schon verstehen: Schwäbisch, Alemannisch usw.
Taschenbuch: 256 Seiten
ISBN-13: 9783899777451

www.Gmeiner-Verlag.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Interview mit Uta-Maria Heim

_Buchwurm.info:_
Wie geht es Ihnen? Wo sind Sie? Was machen Sie gerade?

_Uta-Maria Heim:_
Danke, mir geht es gut. Ich habe Feierabend, ich sitze zu Hause am Laptop und beantworte Ihre Fragen.

_Buchwurm.info:_
Ich kenne Sie vor allem als Lyrikerin, jetzt auch als Krimiautorin. Sie haben für Ihren Krimi „Das Rattenprinzip“, der 1991 bei |Rowohlt| erschien, den Deutschen Krimipreis bekommen. Warum schreiben Sie gerade Krimis? Wollen Sie etwas Bestimmtes damit ausdrücken oder erreichen?

_Uta-Maria Heim:_
Ich schreibe Krimis, weil man in diesem Genre die komplexesten und spannendsten Geschichten erzählen kann. Es macht mir Spaß, Irritationen zu schaffen, mit Fiktionen zu spielen.

_Buchwurm.info:_
Worum geht es in Ihrem neuesten Krimi „Wespennest“? Angeblich handelt es sich um eine Fortsetzung zu „Das Rattenprinzip“? Kommt Claudi wieder vor?

_Uta-Maria Heim:_
Schauen Sie doch einfach mal rein! Das Buch sticht nicht …

_Buchwurm.info:_
Sie arbeiten als Hörspieldramaturgin. Was hat sich der Laie unter dieser Tätigkeit vorzustellen und wie kann man sie erlernen?

_Uta-Maria Heim:_
Es ist eine Redakteurstätigkeit, die künstlerisches und organisatorisches Geschick erfordert. Sie ist sehr komplex und schwer zu erklären. Sogar meine Freunde wissen nicht, was ich da tue, aber sie wissen, dass ich es sehr, sehr gern mache. Das ist entscheidend. Ach ja: Dramaturgin wird man beispielsweise durch ein Studium und ein Volontariat und möglichst viel benachbarte Berufserfahrung. Man sollte aber auch gewisse vorteilhafte Vorlieben, Veranlagungen, Begabungen und Tugenden mitbringen, die mehr sind als Training. Das gilt für jeden Beruf.

_Buchwurm.info:_
Welche Stoffe bearbeiten Sie als Dramaturgin am liebsten? Oder haben Sie da keinen Einfluss auf die Auswahl?

_Uta-Maria Heim:_
Ich bearbeite als Dramaturgin gar nicht, ich vergebe dafür Aufträge und erstelle zusammen mit dem Bearbeiter / der Bearbeiterin die Endfassung des Manuskripts. Die Auswahl lege ich in Absprache mit meinen Kolleginnen und Kollegen hier in der Redaktion fest. Bei Originalhörspielen schickt ein Autor / eine Autorin ein fertiges Manuskript ein und wir prüfen, ob sich das Stück für unser Programm eignet. Falls ja, wird es im Studio von einem Produktionsteam mit meist namhaften Schauspielerinnen und Schauspielern produziert.

_Buchwurm.info:_
Sie haben auch historische Romane geschrieben, die im |Berliner Taschenbuch Verlag| (BVT) erschienen („Ruth trifft Ruth“, „Schwesterkuss“). Warum haben Sie auch solche Bücher geschrieben? Waren sie als Versuche oder Experimente gedacht?

_Uta-Maria Heim:_
Nein, historische Romane habe ich nicht geschrieben. Romane schon. Es waren vier, glaube ich. Sie sind auch nahe am Spannungsgenre angesiedelt, aber keine Krimis. Die Grenzen sind da für mich allerdings fließend.

_Buchwurm.info:_
Sie sind auch Lyrikerin. 1991 erschien beispielsweise „Süden und Irrtum“ im Flugasche Verlag in Stuttgart. Schreiben Sie noch Lyrik und wenn ja, warum? Haben Sie etwas davon veröffentlicht?

_Uta-Maria Heim:_
Ich habe bis zur Jahrtausendwende viele Gedichte veröffentlicht, verstreut in z. T. großartigen Anthologien usw. Aber ich hatte nicht das Potenzial für einen weiteren Gedichtband. Das lyrische Sprechen ist etwas ganz Eigenes. 1998 habe ich den letzten Gedichtzyklus geschrieben, während eines Italien-Stipendiums. Danach ging nichts mehr.

_Buchwurm.info:_
Was sind Ihre liebsten Freizeitbeschäftigungen?

_Uta-Maria Heim:_
Lesen, schreiben, kochen, joggen. Mit den Menschen zusammen sein, die mir am Wichtigsten sind.

_Buchwurm.info:_
Noch mal zurück zum „Rattenprinzip“, das ich mit großem Vergnügen gelesen habe [(vgl. Rezension bei |Buchwurm.info|). 5903 Ich kann verstehen, dass man den Krimi als Kultbuch handelt, denn die Lesergemeinde, die das Schwäbisch und Alemannisch, das darin hin und wieder gesprochen wird, verstehen kann, ist ja etwas eingeschränkt. Aber diese Leser freuen sich natürlich über den Wiedererkennungseffekt. War das so geplant? Fühlen Sie sich als Alemannin?

_Uta-Maria Heim:_
Natürlich war das geplant. Und auch wieder nicht. Ich hab halt gemacht, was ich konnte und wollte. Eine echte Alemannin bin ich nicht, eine Schwäbin aber auch nicht – ich bin auf der Grenze zwischen Baden und Württemberg aufgewachsen. Mein Vater sagte immer: „Mirsinnnind“. Wir sind nichts. Wir haben keine richtige Identität und fühlen uns ordentlich zerrissen. Für mich würde ich sagen: Schön zerrissen.

_Buchwurm.info:_
Im „Rattenprinzip“ zeigen Sie sich als bestens informiert über den Lokaljournalismus in der Landeshauptstadt Stuttgart. Waren Sie selbst als Journalistin tätig?

_Uta-Maria Heim:_
Klar. Aber das ist zwanzig Jahre her!

_Buchwurm.info:_
Im „Rattenprinzip“ zeigen Sie die Verbindung von Kulturprodukten und ihren industriellen Sponsoren auf, insbesondere der Autoindustrie. Bestimmte Blätter, literarische Institutionen und kulturelle Veranstaltungen mussten sich offenbar diesem Sponsorendruck stellen und standen vor der Wahl, ob sie überleben oder sich gängeln lassen wollten. Die Literaturzeitschrift |Flugasche| etwa befand sich kurz vorm Aus, weil Land und Stadt die Förderung einstellten.

_Uta-Maria Heim:_
Das ist traurig. Es trifft halt immer die Falschen. Heute hat kein Mensch mehr Probleme mit privatem Sponsoring. Ich auch nicht. Die Probleme, die wir haben, sind in ganz anderen Dimensionen angesiedelt. Und damit beschäftigt sich eben das „Wespennest“.

_Buchwurm.info:_
Wie sehen Sie diese Situation damals? Lässt sie sich mit heute vergleichen?

_Uta-Maria Heim:_
Das Ganze ist eine Entwicklung, die vermutlich unausweichlich war und bleibt. Mit der deutsch-deutschen Wende, um die sich das „Rattenprinzip“ ja dreht, wurde ein Prozess eingeleitet, der noch lange nicht zu Ende ist. Direkt vergleichen lassen sich die Umstände damals mit denen heute nicht mehr – es sei denn, man vergleicht Birnen mit Äpfeln. Wobei es falsch wäre zu sagen, früher war alles besser. Heute ist alles besser. Mit den Problemen ist auch das Problembewusstsein gestiegen, was den Durchschnitt der Bevölkerung angeht. Und eine kleine Elite wächst mit. Mehr kann man nicht erwarten, zumindest derzeit noch nicht.

_Buchwurm.info:_
Wagen wir einen Ausblick. Woran arbeiten Sie gerade? Wann erscheint Ihr nächstes Buch?

_Uta-Maria Heim:_
Ich schreibe derzeit an keinem Buch und plane nichts. Im Frühjahr erscheint voraussichtlich mein Krimi „Totenkuss“, der schon lange fertig herumliegt. Dann ist ein ganzer Kosmos von Geschichten, die mit dem „Rattenprinzip“ angefangen haben und alle locker ineinander greifen, für mich abgeschlossen. Was kommen wird, weiß ich nicht. Falls ich wieder was schreibe, hätte ich Lust auf etwas ganz anderes. Es müsste etwas sein, das mich umhaut.

Die Fragen stellte Michael Matzer.

_Zur Autorin_

Uta-Maria Heim, geboren 1963 in Schramberg, Schwarzwald, lebt als Dramaturgin und Autorin in Baden-Baden. Sie schrieb zahlreiche Romane, Krimis, Hörspiele und Features. Für ihre Arbeiten erhielt sie Auszeichnungen wie den Deutschen Krimi-Preis, der Förderpreis Literatur des Kunstpreises Berlin und den Friedrich-Glauser-Preis.

„Das Rattenprinzip“ war ihr erster Roman und Krimi. Er erschien erstmals 1991 bei Rowohlt und avancierte schnell zum sogenannten „Kultbuch“ [(siehe Rezension auf Buchwurm.info) 5903 . Die Fortsetzung von 2009 trägt den Titel „Wespennest“. Beide Romane erscheinen im |Gmeiner|-Verlag, Meßkirch.

Das Autorenfoto schoss Joachim E. Röttgers

http://www.gmeiner-verlag.de

_|Bibliografie|_

_ROMANE UND KRIMINALROMANE_

• Das Rattenprinzip, Reinbek bei Hamburg 1991 und Meßkirch 2008
• Süden und Irrtum, Stuttgart 1991
• Der harte Kern, Reinbek bei Hamburg 1992
• Die Kakerlakenstadt, Reinbek bei Hamburg 1993
• Die Widersacherin, Zürich [u. a.] 1993
• Der Wüstenfuchs, Reinbek bei Hamburg 1994
• Die Wut der Weibchen, Reinbek bei Hamburg 1994
• Bullenhitze, Reinbek bei Hamburg 1995
• Durchkommen, Leipzig 1996
• Die Zecke, Reinbek bei Hamburg 1996
• Sturzflug, Hamburg 1998
• Dackel Maiers erster Fall, Aarau [u. a.] 1999
• Engelchens Ende, Reinbek bei Hamburg 1999
• Glücklich ist, wer nicht vergißt, Reinbek bei Hamburg 2000
• Ihr zweites Gesicht, Reinbek bei Hamburg 2000
• Ruth sucht Ruth, Berlin 2002
• Schwesterkuß, Berlin 2002
• Dreckskind, Meßkirch 2006
• Totschweigen, Meßkirch 2006
• Wespennest, Meßkirch 2009

|Herausgeberschaft:|
• Bloody Mummy, Reinbek bei Hamburg 1997
• Der Schuß im Kopf des Architekten, Ludwigsburg 2000

_LYRIK UND KURZPROSA_

Neue Balladen von dünnen Männern, Gedichte, Stuttgart 1985
Fahrt in den See, Warmbronn 1987
Vergelt’s Gott, Stuttgart 1990
Süden und Irrtum, Gedichte, Stuttgart 1991.

_STORYS_

|zahlreiche verstreute Veröffentlichungen, zuletzt u.a.:|

Lisa Kuppler (Hg.): Mord isch hald a Gschäft. Von Silvija Hinzmann, Gudrun Weitbrecht, Uta-Maria Heim, Martina Fiess u. a. (Argument Verlag 2004)

Lisa Kuppler (Hg.): A Schwob, a Mord?: Schwabenland, Krimiland. Von Martina Fiess, Monika Geier, Madeleine Giese, Uta-Maria Heim u. a. (Argument Verlag 2008)