Robert K. Tanenbaum – Kennedys Kopf [Roger Karp 7]

Ende der 1970er Jahre wird das Attentat auf US-Präsident John F. Kennedy neu aufgerollt. Die Untersuchung stört alte Verschwörer auf, die sich in Sicherheit wiegen und längst hohe politische Ämter innehaben. Der Killer wird erneut ausgeschickt, um den lästigen Ermittler auszuschalten … – Zwar unter Nutzung alter Verschwörungs-Klischees aber höllisch spannend entwickelt der Verfasser eine ‚logische‘ Version des JFK-Rätsels und ringt dem Mythos vom Mordkomplott eine tolle Story ab.

Das geschieht:

New York im Frühjahr 1977: Roger „Butch“ Karp, dienstältester Ankläger im Büro des Bezirksstaatsanwaltes, steckt in einer Krise. Seine juristische Akte ist makellos, aber die Arbeit wächst ihm über den Kopf, bei seinem Vorgesetzter steht er auf der Abschussliste, und unter dem Stress und den zahllosen Überstunden leidet sein Privatleben.

Da meldet sich plötzlich Washington bei Karp: Ein alter Mentor hat ihn für einen heiklen, aber hochinteressanten Job empfohlen. 14 Jahre nach den Todesschüssen von Dallas wird ein Sonderausschuss des Repräsentantenhauses, gegründet speziell zur Untersuchung von politischen Morden, das Attentat auf US-Präsident John F. Kennedy neu aufrollen. Karp soll die Ermittlungen leiten! Begeistert stimmt er zu – und stürzt sogleich in einen Höllenpfuhl.

Das Ergebnis der ersten offiziellen Untersuchung sammelt der vielbändige Warren-Report, für den sich in Politik, Wirtschaft und Medien zahlreiche einflussreiche Persönlichkeiten verbürgt haben. Sollte sich nun herausstellen, dass der Report nicht die Wahrheit fixiert, stünden sie schlecht da vor der (wählenden) Öffentlichkeit. Deshalb wird die Arbeit des Sonderausschusses von Anfang an massiv behindert.

Hinter den offen angreifenden Teilnehmern dieser Schlammschlacht verbergen sich die eigentlich gefährlichen Gegner. Die Verschwörung, die einst Kennedy den Tod brachte, ruht nur, aber sie ist noch lebendig. Karps Ermittlungen verwandelt sich in einen Wettlauf zwischen Hase und Igel: Wohin er oder seine Leute auch kommen, der Gegner war bereits da und hat alle Spuren getilgt, Zeugen aus dem Weg geräumt, falsche Fährten ausgelegt. Dennoch wird die Graue Eminenz an der Spitze der Verschwörung nervös und schickt Karp und seiner Familie seinen besten Mann auf den Hals, der schon 1963 als Schütze eine sichere Hand unter Beweis gestellt hat …

Nur Verrat konnte Camelot zerstören

JFK und kein Ende … Es ist tatsächlich keine Phrase, dass jeder Amerikaner, der 1963 bereits dem Säuglingsalter entwachsen war, noch heute genau sagen kann, wo er oder sie sich aufgehalten hat, als ihn oder sie die Nachricht vom Tod des Präsidenten in Dallas erreichte. Heute, da Politiker hüben wie drüben des Atlantiks primär als Schaumschläger, Lügner oder Versager von sich reden machen, ist es schwer begreiflich, dass einst ein Mann eine ganze Nation für sich einnehmen und mitreißen konnte.

Selbst wenn der Lack inzwischen abgeblättert ist vom Denkmal John F. Kennedy, gilt er weiterhin als historische Lichtgestalt, als König Arthur, der im Weißen Haus, seinem Camelot, die neuen Ritter der Tafelrunde zur Schaffung einer neuen, besseren Welt zusammenrief. Deshalb galt und gilt sein Ende als nationale Tragödie, entzündeten sich um JFKs Leben und Sterben unzählige Mythen, die sich hauptsächlich aus der Gewissheit speisen, dass ‚die Wahrheit‘ bis auf den heutigen Tag unbekannt geblieben ist. Das wird sie wohl auch bleiben, denn die Aufklärung des Kennedy-Attentats wurde zu allen Zeiten von Skandalen begleitet. Lügen, Vertuschungen, pure Dummheit – die Kette der Verfehlungen ist endlos lang, und sie endet nicht mit dem Warren-Report, der in der Tat viele Fragen offen lässt oder gar aufwirft, obwohl er wohl die nüchterne und gar nicht mystische Wahrheit korrekt widerspiegelt: Kennedy wurde von einem selbst ernannten Erlöser umgebracht, der ohne Hintermänner agierte.

Ein Thriller bedient den Mythos

Robert K. Tanenbaum weiß, wovon er schreibt, denn Roger Karp tritt in „Kennedys Kopf“ quasi als sein Alter Ego auf. Als Berater eines Sonderausschusses zur Aufklärung der Morde an Kennedy und Martin Luther King konnte Tanenbaum verfolgen, wie ein solches Gremium zum Spielball divergierender politischer Interessen verkommen und seine Mitglieder verheizt werden können. Es ist in der Tat so, wie Karp – wieder als Sprachrohr Tanenbaums – resignierend feststellt: Niemand will eigentlich die Wahrheit wissen. Stattdessen möchten die jeweils Herrschenden die beruhigende Nachricht hören, dass Kennedy von einem wirrköpfigen Einzelgänger umgebracht wurde. Diese ‚Realität‘ schützt vor den Geistern, die eine wirklich objektive Rekonstruktion der zeitgenössischen Umtriebe wecken könnte.

Der Mord an JFK ist wahrscheinlich das einzige Thema, um das sich mehr Verschwörungstheorien ranken als um die angebliche Vertuschung regen intergalaktischen Flugverkehrs zwischen der Wega und Area 51 in der Wüste von New Mexico. Das Heer möglicher Verdächtiger und ihrer Motive ist unüberschaubar. Daraus lassen sich ganz wunderbare und manchmal sogar logisch klingende Geschichten spinnen. (Dieses Verb wird hier mit Bedacht benutzt) Oliver Stones Film-Thriller „JFK“ von 1991 führt dies geradezu exemplarisch vor. „JFK“ wirkt übrigens wie die Verfilmung von Tanenbaums Roman, obwohl dieser deutlich später entstand. Man kann daraus ersehen, wie vorzüglich der viel gescholtene Stone den Tenor der wichtigsten Verschwörungslegenden getroffen hat.

Tanenbaum kann zu diesen nichts wirklich Neues beitragen, obwohl er doch an der Quelle saß. Wie wir wissen, ist es auch ‚seiner‘ Kommission nicht gelungen, zum Kern der Wahrheit – wenn es denn einen geben sollte – vorzustoßen. Insofern ist es unklug, dass sich Tanenbaum mehrfach lustig über die ‚Konkurrenz‘ – hier verkörpert durch das Team um Jim Garrison, auf dessen Arbeit sich Oliver Stone stützte – macht, denn die Quintessenz ist bei Garrison, Stone und Tanenbaum identisch: Irgendwann muss jede Untersuchung daran scheitern, dass sich die Legende längst verselbstständigt und die Wahrheit – so sie es denn überhaupt gibt – überwuchert hat. Sie wurde absorbiert, und nun ist sie sicher … oder verloren; je nach Interpretation.

Der einsame Sucher der Wahrheit

Was bleibt, sind spielerisch-unterhaltsame Auseinandersetzungen mit dem Geschichte. Auf diesem Gebiet hält sich Tanenbaum wacker. Butch Karp ist eine interessante Figur, und sein geistiger Vater hat sie gut im Griff. Karp ist der ‚gute Amerikaner‘; man könnte ihn auch bissig als Jimmy Stewart des 20. Jahrhunderts bezeichnen. Aber Tanenbaum hütet sich, Karp als Rezept gegen die moralische Krankheit des modernen Amerika anzupreisen. Karp ist längst nicht perfekt, und seine Charakterstärke, seine Integrität und seine Unbestechlichkeit lassen durchaus Züge eines gewissen Starrsinns erkennen, der ihn immer wieder ins Abseits führt, wo eher ein wenig Flexibilität von Nutzen wäre.

Karp zur Seite steht mit Marlene, seiner Ehefrau, kein Hausmütterchen oder Heimchen am Herd, dessen Existenzberechtigung sich darin erschöpft, im finalen Showdown gerettet zu werden, sondern eine gleichberechtigte Partnerin, der Tanenbaum ebensoviel Raum bietet wie ihrem Gatten. Auch Karps Mitarbeiter wirken lebendig, zumal Tanenbaum hier auf reale Vorbilder zurückgreifen konnte. An trockenem Witz mangelt es dem Autoren ebenfalls nicht, was der fast durchweg spannenden (s. u.) Geschichte ausgesprochen gut bekommt.

So richtet sich die einzige Negativkritik nicht gegen die Story an sich, sondern ihre Länge. Im zweiten Drittel beginnt die Spannungskurve deutlich abzuflauen. Endlos jagen die Guten und die Bösen einander, ohne dass dies die Handlung wirklich voran bringt. Mindestens einhundert Seiten könnten entfallen, ohne den Plot zu beeinträchtigen. Als endlich die Karten aufgedeckt werden, geht es dem Leser wie Butch Karp: Die Lösung interessiert ihn nach allem, was er durchmachen musste, plötzlich nicht mehr wirklich. Das sollte man Tanenbaum aber nicht gar zu übel nehmen, löst sich doch das kunstvolle Gespinst der scheinbar aufgedeckten Verschwörung ohnehin wieder in Nichts auf: keine zufrieden stellende Lösung, aber eine realistische, die ebenfalls auf Tanenbaums Erfahrungen als Kommissionsberater zurück gehen dürfte.

Hauptsache, der Leser beißt an …

Bleibt die Frage, wie der kryptische deutsche Titel zu Stande kam. Dass „Kennedys Kopf“ 1963 in Dallas Schaden nahm, findet bei Tanenbaum wohl Erwähnung, bleibt aber für die eigentliche Handlung unerheblich. Den Ullsteinern ging es offensichtlich darum, den potenziellen Lesern das auch hierzulande noch immer faszinierende JFK-Thema unterzujubeln. Dass man deshalb bei der Lektüre annehmen muss, irgendwann über das präsidentale Haupt zu stolpern, das böse CIA-Buben aus dem Heldensarg stibitzten, rückt „Kennedys Kopf“ in die Nähe eines billigen Horrorromans; ein völlig falscher Eindruck, der hier geweckt wird. Deshalb hier noch einmal das Fazit: „Kennedys Kopf“ ist ein grundsolider, fast schon nostalgisch stimmender Politthriller über jene Zeit, als die Welt noch in Ordnung, d. h. übersichtlich in „Gut“ (USA und der verbündete Westen) und „Böse“ (UdSSR und Ostblock plus Kuba) geteilt war, stimmig in Figurenzeichnung und Story und höchstens ein wenig zu lang geraten.

Taschenbuch: 509 Seiten
Originaltitel: Corruption of Blood (New York : Dutton Adult 1995)
Übersetzung: Benno F. Schnitzler
http://www.ullsteinbuchverlage.de

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