Tim Curran – Der Leichenkönig

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wühlen zwei Grabräuber zu tief in Glasgows Friedhofserde; sie erregen die Aufmerksamkeit des „Leichenkönigs“, einer uralten, bösartigen und überaus schlauen Kreatur, die nichts gegen Frischfleisch einzuwenden hat und dem Duo auf den Fersen bleibt … – Mit brachialer Wonne lässt Autor Curran eine Vergangenheit erstehen, die vor Schmutz, Brutalität und Bosheit förmlich trieft, um vor diesem Hintergrund eine ebenso stimmungsvolle wie unappetitliche Horrorgeschichte zu erzählen: Wer seinen Grusel filigran vorzieht, sollte hier lieber Abstand halten!

Das geschieht:

Samuel Clow und Mickey Kierney sind im schottischen Glasgow des frühen 19. Jahrhunderts zwei Spezialisten in einem finsteren aber einträglichen Gewerbe: Da Mediziner nur die Leichen verurteilter und hingerichteter Verbrecher sezieren dürfen, herrscht ein eklatanter Mangel an anatomischem Forschungsmaterial. Hier springen die „Auferstehungsmänner“ in die Bresche. Des Nachts schleichen sie über die Friedhöfe der Stadt, um tagsüber bestattete Leichen aus ihren Gräbern zu holen. Zwar sind die Strafen hoch, doch der Verdienst lohnt das Risiko.

Da Clow und Kierney zwei besonders abgebrühte Vertreter ihrer Zunft und zudem ungemein fleißig sind, stehen sie finanziell gut da in einer Welt, die von Armut, Krankheit und frühem Tod geprägt ist. Ihr Unbehagen betäuben sie mit Alkohol, was jedoch wenig hilft gegen eine Schauermär, die just unter Glasgows abergläubischen Grabräubern kursiert: Auf den Nördlichen Grabfeldern geht es angeblich um. Unter frischen, bereits vor dem Erscheinen von „Erweckern“ geplünderten Gruben finden sich Höhlen und Tunnel, als habe sich eine gewaltige Kreatur von unten zu den Leichen durchgegraben.

Dass hier der legendäre „Leichenkönig“ sein Unwesen treibt, tun Clow und Kierney lange als Unsinn ab. Sie glauben sogar an einen Trick, mit dem die Konkurrenz sie von besonders ertragreichen Friedhofsstätten fernhalten will. Doch eines Nachts werden sie eines Besseren belehrt. Zwar entkommen sie dem Leichenkönig in letzter Sekunde, aber sie wissen nun, dass es ihn gibt und man ihm unbedingt aus dem Weg gehen sollte.

Geschäft ist Geschäft, und die gelehrte Kundschaft nimmt keine Rücksicht auf Schrecken, mit denen sie nicht konfrontiert wird. Clow und Kierney wollen ihre Einnahmequelle keineswegs versiegen lassen. Also trauen sie sich trotz ihrer Angst wieder dorthin, wo der Leichenkönig geduldig lauert …

Willkommen in der Hölle

Das 19. Jahrhundert war keine Zeit, in der man gern gelebt hätte; widersprechen würden höchstens jene Privilegierten, die reich genug waren, sich strikt von der unglücklichen Mehrheit fernzuhalten. In Glasgow vegetierten mehr als 90% der Einwohner am oder unterhalb des Existenzminimums; Autor Tim Curran diese Zahl selbst an einer Stelle seines Romans, dessen Handlung er mit den daraus resultierenden Folgen füttert.

Mindestlohn, Arbeitsschutz, Menschenrechte? Niemand hätte diese Worte verstanden. Jeder Mensch galt als seines Glückes Schmied, und wer im Lebenskampf versagte, trug selbst die Schuld daran. Als Entschädigung wartete höchstens ein himmlisches Leben nach dem Tod, wenn man das irdische Jammertal klaglos und untertänig durchquert hatte.

Verständlicherweise spendete das den Betroffenen nur selten Trost. Sie arbeiteten buchstäblich für einen Hungerlohn, waren ihren Dienstherren quasi ausgeliefert. Krankheit und daraus resultierende Arbeitsunfähigkeit führte zu sofortiger Entlassung, verarmte Pechvögel landeten auf der Straße, ein soziales Netz gab es kaum in Ansätzen. Hygiene, ärztliche Behandlung, Schule und Ausbildung waren entweder völlig unbekannt oder außerhalb der finanziellen Möglichkeiten. Die Wissenschaft steckte in den Kinderschuhen. Weiterhin regierten Aberglaube und Unwissenheit. Erschwingliche Mittel, ein solches Elend zu ertragen, waren Sex und Suff. (Curran zitiert ein Kneipenschild: „Betrunken für einen Penny / Völlig blau für zwei“)

Geschäfte mit dem Tod

Natürlich dreht Curran die Schraube effektbedingt scharf an, wenn er schildert, wie es dort zugeht, wo die Armut regiert. Trotzdem denkt er sich viele Schauerlichkeiten keineswegs aus; sie wurden bereits von kritischen Zeitgenossen dokumentiert und sind historisch belegt. Deshalb ist auch korrekt, was völlig übertrieben und ausgedacht klingt. Wer würde beispielsweise an die Existenz einer ‚Berufsgruppe‘ glauben, die sich auf Leichenraub spezialisiert hat?

Aber Not kennt kein Gebot, und wie Curran ebenfalls deutlich zu machen weiß, führt lebenslanger Existenzdruck zur Verrohung von Sitten. Nicht einmal eine unerbittlich durchgreifende Obrigkeit kann den Druck permanent innerhalb des Kessels halten – er sucht sich Ventile. Curran beschreibt eine Hinrichtungsszene, in deren Verlauf sich das Publikum in einen Mob verwandelt, der den Bütteln und Wächtern Todesangst einjagt. Egoismus regiert in dieser Hölle auf Erden und löscht selbst existenzielle Gefühle wie Liebe, Familiensinn und Freundschaft aus. Gallebitter tauschen Clow und Kierney zynische Erinnerungen vor allem an ihre Väter aus, die sie regelmäßig verprügelt und beinahe totgeschlagen haben, bevor sie in ein frühes Grab sanken. Clows Mutter Irene lebt noch, ist aber zu einem fluchenden, kranken, kaum noch menschlichen Fettklumpen geronnen: „Ein Auge hatte sie in einer betrunkenen Schlägerei verloren und sie verdeckte es mit einer ledernen Klappe. Tatsache war, dass sie damit einen Zahn mehr als Augen hatte.“

Wer heilen will, muss wissen, wie der menschliche Körper funktioniert. Vor allem Chirurgen sollten sicher sein, wo sie das Skalpell ansetzen. Das muss geübt werden – an Leichen, die zur Zeitpunkt unserer Geschichte jedoch kaum zur Verfügung standen. Der menschliche Körper sollte nach dem Tod unter die Erde, um dort zu Staub zu zerfallen. War dies nicht gewährleistet, drohte der Tag des Jüngsten Gerichts zur bösen Überraschung zu werden. Würde sich ein sezierter Körper ordnungsgemäß wieder zusammensetzen? Lieber kein Risiko eingehen! Also beschränkte sich der Pool potenzieller Sezier-Leichen auf Verbrecher, die man hingerichtet hatte, Selbstmörder und Verunglückte, auf die niemand Anspruch erhob.

Der Friedhof als Kriegsschauplatz

Auf Friedhöfen entstanden Türme. Darauf standen nachts Wachen, die nicht nach bewaffneten Feinden, sondern nach Grabräubern ausschauten. Spähtrupps streiften bewaffnet zwischen Gräbern umher, die mit schweren Holzpfählen, Steinplatten, Eisenstangen, Stolperdrähten und Selbstschussanlagen gesichert wurden. Ebenso vorsichtig wie gewaltbereit waren die Grabräuber, die ihr Handwerk perfektionierten und schließlich in weniger als einer halben Stunde ein Grab plündern und wieder zuwerfen konnten.

Auf frischer Untat ertappte Grabräuber wurden nicht selten per Selbstjustiz gerichtet; ansonsten landeten sie in der Todeszelle (und ihre Leichen wurden seziert). Hinzu kamen einige besonders kriminellen „Auferstehungsmänner“, die sich den Wettlauf um frische = einträgliche Leichen ersparten, indem sie spätnächtliche Zecher u. a. Pechvögel, die in deckender Dunkelheit allein unterwegs waren, kurzerhand „burkten“. Dieses Verb verdankt seine Existenz den wohl berüchtigtsten „Wiedererweckern“, dem Duo William Burke und William Hare, die Curran als Vorbilder für seine beiden ‚Helden‘ dienen. Burke & Hare ermordeten 1827/28 in Edinburgh 16 Männer und Frauen, um deren Leichen zu verkaufen. Erst dieser Skandal führte zum „Anatomy Act“ von 1832, der eine offizielle ‚Versorgung‘ von Forschern und Medizinern mit Leichen gewährleistete, was den Grabräubern ihre Existenzgrundlage nahm. (Burke wurde übrigens gehängt und seziert; sein Skelett steht noch heute im Anatomiesaal der University of Edinburgh.)

Schon die Fakten haben für zahlreiche Romane und Erzählungen, Theaterstücke, Filme und TV-Serien gesorgt, in denen Leichenräuber ihr Unwesen treiben. Tod und Verwesung sind schauerlich genug, und Tim Curran ist ein Autor, der sämtliche Substantive und Adjektive zu kennen scheint, die für die Beschreibung des Zerfalls taugen. Grauen ist bei Curran modern und im Umfeld des beliebten Splatter-Horrors eng mit Ekel verbinden; muss der Leser würgen, ist das Unterhaltungsziel erreicht.

Schauder (und Moder) ohne Grenzen

Der Leichenkönig gab diesem Roman zwar seinen Titel. Es dauert aber, bis er sich meldet, und als er sich zeigt, neigt sich die Zahl der noch verbleibenden Seiten dem Ende zu. Viele Horror-Freunde und unter ihnen besonders jene, die Tim Curran als Lieferanten beinharten Metzel- und Porno-Horrors schätzen, äußern sich deshalb enttäuscht über diesen (Kurz-) Roman.

Dabei dünstet „Der Leichenkönig“ auch ohne übernatürliche Element ‚gotischen‘ Grusel in dichten Schwaden aus. Curran ist ein fleißiger Autor, der seine Werke oft zusammenschludert. Für dieses Buch hat er sichtlich Mühe gegeben und eifrig recherchiert; in einem längeren Nachwort steht Curran seinem Interviewpartner Christian Endres Rede und Antwort. Er hat der Handlung einen faszinierenden Rahmen, eine grabesfinstere Stimmung und eine Galerie bemerkenswerter Figuren gegeben. An deren Spitze stehen zweifelsohne Clow und Kierney – pittoresk, fürchterlich, mitleiderregend. Man möchte ihnen lieber nicht begegnen, aber man versteht sie und ihr Treiben.

Als der Leichenkönig sich endlich in seiner ganzen Scheußlichkeit zeigt, sorgt ausgerechnet das für die einzige, aber elementare Enttäuschung: Plötzlich bricht Curran die Geschichte ab und lässt seine Leser im Stich: So banal gegen die Wand gefahren dürfte diese Geschichte nicht enden! Wie man ein abruptes Ende vorbildlich als Höhepunkt einsetzt, zeigt Robert Louis Stevenson in seiner klassischen Erzählung „The Body Snatcher“ (dt. „Der Leichendieb“). Bereits 1881 entstanden, bleibt diese kurze Story in ihrer Wirkung nie hinter Currans ungleich aufwändigeren Neuschöpfung zurück und holt sie schließlich ein.

Hierzulande war „Der Leichenkönig“ einige Zeit vergriffen; der Roman wurde 2017 vom Verlag Festa neu aufgelegt, die ursprüngliche Übersetzung übernommen – zwei gute Entscheidungen, denn dieses Buch bietet eben nicht nur vorgeblich ‚harten‘, sondern (bis auf das Finale) guten Horror, der darüber hinaus lesenswert in die deutsche Sprache übertragen wurde.

Autor

Tim Curran (geb. 1963) hält sich zumindest in Sachen Privatleben bedeckt. Er lebt mit Ehefrau und drei Kindern im US-Staat Michigan und ist kein Vollzeit-Autor, sondern arbeitet hauptberuflich in einer Fabrik.

Auf seiner Website weicht er einer ‚ordentlichen‘ Biografie aus und schreibt stattdessen über seine Kinder- und Jugendjahre und wie er die Liebe zur Phantastik entdeckte. Curran schätzt die Altmeister wie Lovecraft ebenso wie den zynisch-groben Horror der EC-Comics aus den 1950er Jahren.

Taschenbuch: 221 Seiten
Originaltitel: The Corpse King (Baltimore/Maryland : Cemetery Dance Publications 2010)
Übersetzung: Ben Sonntag
Autoren-Website: www.corpseking.com
www.festa-verlag.de

E-Book: 1327 KB
ISBN-13: 978-3-86552-527-7
www.festa-verlag.de

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