Joseph Wambaugh – Die Chorknaben

In Los Angeles praktizieren vom Berufs- und Alltagsstress geplagte Polizisten eine Form des nächtlichen Stressabbaus, die stetig ausartet und schließlich in einer Katastrophe gipfelt … – Mit beißendem Humor aber scharfem Blick auf reale Missstände beschreibt der Autor das Pandämonium einer aus den Fugen geratenden Welt, deren bedrängte Hüter resignieren und sich dem Wahnsinn anpassen: ein Klassiker des Kriminalromans, der an Intensität und Unterhaltungskraft keinen Deut verloren hat.

Das geschieht:

Für die uniformierten Streifenpolizisten des „Los Angeles Police Department“ ist der Alltag wenig ruhmreich. Die Männer (und wenigen Frauen) leisten einen harten Job auf den Straßen, was ihnen in der Regel mit Schimpfworten, Spott, Körperflüssigkeiten oder Kugeln ‚gedankt‘ wird. Die Arbeit scheint ohnehin sinnlos, denn verhaftete Straftäter werden zu lächerlichen Strafen verurteilt oder kommen umgehend frei. Seitens der Vorgesetzten gibt es weder Rückendeckung noch Unterstützung; dort ist man ausschließlich mit der eigenen Karriereplanung beschäftigt.

Das Privatleben der Beamten ist ähnlich desaströs. Unterbezahlt, ausgelaugt und ausgebrannt, meist alkoholsüchtig, sprachlos und unglücklich, haben sie im Grunde nur einander, weshalb die nächtliche „Singstunde“ eingeführt wurde: Im Schutze der nächtlichen Dunkelheit treffen sich die Männer im MacArthur-Park, wo sie im Suff ihre Nöte, ihre Frustration und die Verzweiflung ausleben können.

Weil der berufliche und private Druck stetig steigt, nehmen die „Singstunden“ sowie die in ihrem Verlauf verübten Streiche und Exzesse an Häufig- und Heftigkeit zu. Eines Abends kommt es zur Katastrophe, und über die „Chorknaben“ bricht ungemildert der Zorn des Systems herein …

Das Ende der blauen Ritter

1975 liegt als Jahr objektiv betrachtet nicht allzu lange zurück. Allerdings waren (vermutlich erstaunlich) viele Leser dieser Zeilen damals noch nicht auf dieser Welt, die sich seitdem tatsächlich sehr verändert hat. Vor allem ihnen ist schwer zu vermitteln, was „Die Chorknaben“ zu einem Ausnahme-Roman macht. James Ellroy, der selbst zur Prominenz der Krimi-Autoren gehört, versucht (wenn er nicht gerade wieder ausgiebig über sich selbst schreibt) in einem Vorwort, das erfreulicherweise seinen Weg in die deutsche Neuausgabe von „Die Chorknaben“ gefunden hat, den Lesern die Bedeutung dieses Buches zu verdeutlichen.

Was im 21. Jahrhundert nicht nur selbstverständlich, sondern annähernd Pflicht geworden ist, war in den 1970er Jahren keineswegs üblich. Krimis im Polizeimilieu waren schon lange ein eigenes Subgenre. Auch Kritik an gewissen Missständen war nicht mehr ungewöhnlich, die jedoch als Einzelfälle dargestellt wurden, während die Integrität der Polizei als Organisation nicht in Frage gestellt wurde. Joseph Wambaugh stürzt in „Die Chorknaben“ die Polizei als Institution rigoros von diesem Sockel, legt schonungslos die Schwächen ihrer inneren Strukturen offen und stellt ihre Führungskräfte als kriminologisch unfähige aber karrieresüchtige Erfüllungsgehilfen und Bettgenossen ehrgeiziger Politiker bloß.

Aus Paulus wird Saulus

Dabei hatte Wambaugh selbst 1970 mit „The New Centurions“ (dt. „Nachtstreife“) für „law & order“ gestimmt und seine Polizisten-Figuren als Ritter an der Grenze zur kriminellen Wildnis dargestellt. Erst später und im Zuge der umfassenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen der 1960er und 70er Jahre, die eine kritische Einschätzung viel zu lange sakrosankt gebliebener Strukturen mit sich brachten, löste er sich von diesem zementierten Ideal.

Wambaughs Kehrtwende muss indes differenziert betrachtet werden. Nicht alle Polizisten sind durch das moralisch korrumpierte System infiziert. Wambaugh postuliert einen tiefen Graben zwischen „denen da oben“ und jenen, die auf der Straße ihren Dienst tun. Die Kluft zerschneidet, was eigentlich Bollwerk gegen die kriminelle Unterwelt sein soll. Der blaue Koloss steht auf schwankenden, weil völlig überlasteten Füßen. Die Männer und Frauen in Uniform bilden das letzte Glied einer Kette, mit der sich nicht nur die Polizei, sondern das gesamte System allmählich erwürgt.

Von oben werden sie getreten, dabei von ihren Vorgesetzten keineswegs unterstützt, sondern als Dummköpfe und lästige, weil nicht reibungslos funktionierende Roboter geschmäht. Nicht einmal die polizeieigenen Psychologen wagen den Teufelskreis zu durchbrechen; sie sitzen lieber weiter ruhig in ihrem warmen Nest und bescheinigen ihren Patienten, was deren Vorgesetzte hören wollen.

Wambaugh zeichnet – durchaus parteiisch übrigens – ein erbarmungsloses Bild; der Grad der Überzeichnung ist heute schwer zu definieren, doch neben echter Empörung schimmert zwischen den Zeilen die Sachkenntnis des Verfassers durch. Wambaugh war selbst Cop und noch im Dienst, als er „Die Chorknaben“ schrieb. Dass er den einen oder anderen Nerv getroffen hatte, wusste er, als er nach dem Erscheinen seines Romans beurlaubt wurde.

Polizisten oder Psychopathen?

Wambaughs weiterer Verdienst besteht darin, seinen anscheinend völlig außer Kontrolle geratenden „Chorknaben“ Leben einzuhauchen. Hinter irren Streichen und Exzessen lauert konstant spürbar nackte Verzweiflung. Das Lachen bleibt dem Leser deshalb oft im Halse stecken, und das Gefühl eines drohenden Verhängnisses steigert sich, als die Raserei an Tempo zunimmt und die katastrophale Entladung der sich aufbauenden Spannung unvermeidlich wird.

Die „Chorknaben“ ‚singen‘, weil sie sonst explodieren würden. Weder beruflich noch privat steht ihnen ein anderes Ventil zur Verfügung. Wambaugh stellt das unmissverständlich dar, indem er jeder der zehn Hauptfiguren eine ausführliche Biografie auf den Leib schreibt. Dabei bleibt er im Kontext: Jeweils zwei Beamte werden uns im „Doppelpack“ vorgestellt, wie sie – Partner, Freunde, Lebensgefährten – in ihren Dienstwagen sitzen.

Humor, der Schmerzen zufügt

Cop-Humor ist drastisch, schwarz und politisch völlig unkorrekt. In seiner gesamten Bandbreite wird er nur von Polizisten verstanden und goutiert. Er bezeugt Zusammenhalt. Gleichzeitig ist er ein Instrument, mit dem sich das alltäglich erlebte Grauen in den Griff bekommen lässt. Es wird kanalisiert und transformiert, bis es sich in befreiendes Gelächter verwandelt.

Diese Methode der Stressbewältigung lässt sich zudem mit dem polizeitypischen Machismo vereinbaren. Beinahe krankhaft ist die Furcht der Männer vor Schwäche, die auf keinen Fall gezeigt werden darf. Furcht kann nur geteilt werden, wenn sie chiffriert wird. Besäufnisse und derbe ‚Späße‘ sind akzeptabel. Als einer der „Chorknaben“ die Maske fallen lässt, erwächst aus der Reaktion die finale Katastrophe.

Die lässt keinen Leser kalt. Selten wurde die Rache des Systems so konsequent dargestellt. Wambaugh lässt kein Happy-end zu. Der „Chor“ wird ausradiert. Nichts hat sich dadurch geändert oder gar gebessert. Das System geht gestärkt aus einem Kampf hervor, der nie einer war. „Die Chorknaben“ hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack, der so frisch ist wie 1975. Ohne CSI-Hightech und trotz seiner episodenhaften Handlung lebt dieses Buch durch die Authentizität seiner Figuren, was nicht nur im Kriminalroman selten auch nur annähernd so großartig gelingt.

„Die Chorknaben“ – der Film

Aufgrund des enormen Medienechos, das Wambaughs Roman auslöste, dauerte es nur kurze Zeit, bis Hollywood sich „Die Chorknaben“ als Filmstoff sicherte. Wambaugh selbst schrieb (mit Christopher Knopf) das Drehbuch, das 1977 von Robert Aldrich (1918-1983) verfilmt wurde. Als Spezialist für kontroverse Themen, die er in Filme verwandelte, welche untypisch für Hollywood auf Sinn und Verstand nicht verzichteten und trotzdem ein breites Publikum erreichten (u. a. „Vera Cruz“, 1954; „Rattennest“, 1955; „Der Flug des Phönix“, 1965; „Das dreckige Dutzend“, 1967), war Aldrich eine gute Wahl. Allerdings gehört „Die Chorknaben“ – obwohl ein überaus unterhaltsamer Film – nicht zu seinen Meisterwerken. Zu stark richtete sich der Fokus auf die grell ausgemalten Ausschweifungen der dargestellten Polizisten, in denen die dahintersteckende Verzweiflung untergeht.

Autor

Joseph Aloysius Wambaugh, Jr. wurde am 22. Januar 1937 in East Pittsburgh (US-Staat Pennsylvania) in eine Polizeifamilie geboren. Er leistete seinen Wehrdienst bei den US Marines ab und begann ein Studium, das er jedoch nicht abschloss. 1960 ging er selbst zur Polizei. Im Los Angeles Police Department arbeitete er sich vom einfachen Streifenbeamten bis zum Detective Sergeant hoch.

Ende der 1960er Jahre begann Wambaugh zu schreiben, wobei ihm eigene Erfahrungen den Stoff lieferten. Sein Romanerstling „The New Centurions“ (dt. „Nachtstreife“) erschien 1970 und beschreibt die Erlebnisse eines jungen Beamten, der in den politisch brisanten 1960er Jahren die Härte seines Jobs kennen lernt. Mit „The Onion Field“ (dt. „Tod im Zwiebelfeld“) erschien 1973 Wambaughs erste „True-Crime“-Story, die von der Kritik als literarische Großtat in der Tradition eines Truman Capote („Kaltblütig“) gefeiert wurde.

In späteren Romanen wurde Wambaughs Kritik an polizeiinternen Missständen deutlicher und lauter. Er schied 1975 aus dem Polizeidienst aus. In Hollywood arbeitete er federführend an der Serie „Police Story“ mit, die als eine der besten ‚realistischen‘ Cop-Serien in die TV-Geschichte einging. Seinen endgültigen Durchbruch schaffte Wambaugh ebenfalls 1975 mit „The Choirboys“.

Wambaughs Werk blieb schmal, Er gilt dennoch als einer der ganz Großen der Kriminalliteratur und wurde 2004 mit einem „Grand Master Award“ der „Mystery Writers of America“ für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Schon 1988 erhielt er für „The Secrets of Harry Bright“ (dt. „Der Rolls-Royce-Tote“) den Deutschen Krimipreis für den besten internationalen Roman des Jahres. Dieses Buch gilt als sein letztes Meisterstück, bevor die Qualität seiner Bücher in den 1990er Jahren rapide abnahm und Wambaugh sich für fast ein Jahrzehnt als Schriftsteller zurückzog.

Joseph Wambaugh lebt und arbeitet heute in Rancho Santa Fé, Kalifornien. Er leistet sich den seltenen Luxus KEINER Website.

Taschenbuch: 491 Seiten
Originaltitel: The Choirboys (New York : Delacorte Press 1975/London : Weidenfeld and Nicolson 1976)
Übersetzung: Diana Beate Hellmann
http://www.luebbe.de

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