Rendell, Ruth – Wer Zwietracht sät

In der englischen Kleinstadt Kingsmarkham stehen die Zeichen auf Sturm: Eine neue Umgehungsstraße soll gebaut werden. Sie wird durch die Wälder des Framhurst Great Wood verlaufen. Bäume, Sumpfauen und Teiche müssen weichen, der Lebensraum vieler Tierarten wird vernichtet. Das ruft eine Reihe von Umweltschutz-Gruppen auf den Plan, die nach Kingsmarkham reisen und für Unruhe sorgen. Einige Aktivisten erweisen sich als recht militant. Ihr Widerstand ist nicht nur passiv, so dass die Situation außer Kontrolle zu geraten droht.

Chief Inspector Wexford von der Mordkommission verfolgt die Ereignisse zunächst aus der Ferne. Er wird indes bald in darin verwickelt, als bei einer der Protestaktionen im Wald eine Leiche gefunden wird. Rasch kann sie identifiziert werden: Die junge Studentin Ulrike Ranke aus Deutschland, zu Besuch bei einer englischen Freundin, wurde vergewaltigt und erdrosselt. Wexford und seine Leute nehmen die Ermittlungen auf. Der Mord ist jedoch noch ungeklärt, als in rascher Folge mitten in Kingsmarkham auf offener Straße fünf Menschen entführt werden. Zufällig befindet sich Wexfords Ehefrau Dora darunter. Zu der Tat bekennt sich eine Gruppe namens „Sacred Globe“. Sie fordert den sofortigen Stopp der Bauarbeiten und droht die Geiseln zu töten, wenn ihr dies nicht zugesichert wird. Man geht zunächst darauf ein. Die Kidnapper lassen Dora Wexford mit einer Botschaft frei: Der Bau der Umgehungsstraße soll offiziell und damit endgültig eingestellt werden. Erst dann wolle man auch die übrigen Geiseln freilassen.

Die Suche nach dem Versteck der Entführer beginnt. Bald gibt es Hinweise auf einige besonders fanatische Aktivisten, die bei ihrem Kreuzzug auch vor Gewalttaten nicht zurückschreckt. Dann findet die Polizei eine Leiche – dies scheint das erste Opfer der Gruppe zu sein, bis sich herausstellt, dass die junge Frau bei einem missglückten Fluchtversuch umgekommen ist.

Lange tappt die Polizei im Dunkeln. Die Lage ist ernst: Die Entführer scheinen nicht recht zu wissen, was sie eigentlich wollen. Andererseits sind sie sehr genau über die Fahndung informiert. Endlich findet Wexford eine Spur – und kommt auf die sehr ungewöhnliche Lösung des Falls …

Mit ihrem siebzehnten Wexford-Krimi (seit 1964) mutet Autorin Ruth Rendell ihren Lesern allerhand zu. Die Grundidee ist ausgezeichnet, aktuell und sprengt das Klischee der englischen Landhaus-Idylle, in der allzu viele Polizisten und Hobby-Detektive ihr Unwesen treiben. Rendell vermeidet auch den Fehler, die Sympathien auf eine Seite zu verlagern. Politisch korrekt wäre es vermutlich gewesen, die Umweltschützer als strahlende Engel und Opfer zugleich darzustellen. Stattdessen zeichnet die Autorin ein ambivalentes Bild und riskiert Ablehnung mit ihrer Botschaft, dass nicht alles, was Menschen aus Überzeugung für ein anerkannt hehres Ziel tun, tatsächlich rechtens und richtig ist. In Rendells Welt gibt es – wie in der Realität – auch „böse“ Umweltschützer.

Die Autorin hat sich seit jeher bemüht, Klischees zu vermeiden und gern heiße Eisen angefasst. Auch dieses Mal schildert sie anschaulich, wie schwierig es ist zu entscheiden, was „richtig“ und was „falsch“ ist. Die Zerstörung unberührter Natur durch den Bau einer Straße ist für den einen ein Tribut, den man dem Fortschritt oder wenigstens der persönlichen Bequemlichkeit zollen muss, für den anderen aber ein ökologisches Verbrechen, das profitgierige Geschäftsleute im Schulterschluss mit bestechlichen Politikern begehen. Wie weit dürfen beide Seiten gehen, um ihrem Standpunkt Ausdruck zu verleihen? Selbst Wexford ist im Zwiespalt; als Polizist ist es seine Pflicht, die viel beschworene Ruhe und Ordnung zu wahren, doch als Privatmann verabscheut er die Zerstörung jenes Waldes, den er seit seiner Kindheit kennt.

Eine wirkliche Lösung gibt es wohl nicht. Rendell verfolgt diesen Weg dann auch nicht weiter. Sie hat sich entschieden; „ihre“ Umweltschützer sind verblendete Fanatiker oder, wenn sie harmlos sind, seltsam und lebensfremd und in ihrer einfältigen Fixierung auf die Rettung von Mutter Natur das ideale Werkzeug für allerlei Übeltäter. Schwieriger fällt es allerdings, Rendells aberwitzige Allianz fanatischer Öko-Terroristen mit durchgedrehten Vorstadt-Spießbürgern nachzuvollziehen. Die Autorin ist berühmt dafür, einen Blick in die verborgenen seelischen Abgründe der Mittelschicht zu werfen, aber hier ist sie einen Schritt zu weit in Richtung Karikatur gegangen.

Einige Längen lassen sich zudem in der Handlung feststellen. Dora Wexfords Schilderung ihrer Erlebnisse als Gefangene von „Sacred Globus“ hätte eine Straffung vertragen, und zu überlegen ist auch, ob es wirklich notwendig war, mit dem Mord an der deutschen Touristin eine falsche Fährte zu legen. Insgesamt gehört „Wer Zwietracht sät“ nicht zu den Höhepunkten der Wexford-Reihe. Andererseits schwebt ein durchschnittlicher Ruth-Rendell-Roman immer noch ein gutes Stück über der Konkurrenz, was Spannung und Figurenzeichnung angeht.

Eine Anmerkung zum deutschen Titel dieses Romans: Im Original lautet er „Road Rage“, ein Wortspiel, das den Inhalt sehr treffend zusammenfasst, sich jedoch nur schlecht übertragen lässt. Wieso daraus „Wer Zwietracht sät“ wurde, bleibt allerdings rätselhaft. Der Titel erinnert sehr an einen Roman von Elisabeth George; vielleicht ist das der Grund: Man möchte die Leser der in Deutschland viel verkauften und wohl auch bekannteren „Konkurrentin“ von Ruth Rendell auf diese Weise ködern. Nun, wer sich dadurch verleiten lässt, kann nur gewinnen: Während Elisabeth George ihre Kriminalromane seit einigen Jahren auf immer groteskere Ausmaße anschwellen lässt – sieben- und achthundert oder mehr Seiten sind eher die Regel als die Ausnahme -, weiß Rendell, wann eine Geschichte erzählt ist.