_Story_
Die junge Dizzy wird gerade wegen guter Führung aus dem Knast entlassen, als sie schon wieder in die Wirren eines fürchterlichen Bandenkriegs gerät. Kurz zuvor jedoch hat sie Bekanntschaft mit dem seltsamen Agenten Graves gemacht, der ihr anhand von schlüssigen Beweisen klargemacht hat, wer verantwortlich für den Mord an ihrem Mann und ihrem gemeinsamen Kind ist.
Und die erste Begegnung mit den augenscheinlichen Tätern lässt nicht lange auf sich warten: Zwei schmierige Cops setzen Dizzy unter Druck, jedoch zunächst ohne Erfolg. Obwohl sie eigentlich aus dem Bandenkrieg aussteigen wollte, erhofft sie sich in dieser Angelegenheit Unterstützung von ihrem Bruder Emilio. Dieser ist inzwischen zum Führer ihrer alten Gang herangewachsen, schweigt aber über die Vorfälle. Als schließlich ein blutiges Massaker die Stadt erschüttert und Emilio sich immer mehr um den Verstand redet, sieht Dizzy klar.
Lee ist bei seiner Familie in Verruf geraten, als eine Webseite mit pornografischen und pädophilen Inhalten mit ihm in Verbindung gebracht wurde. Die Urheber für diese Ungerechtigkeit hat Lee seitdem nicht ausmachen können – bis Agent Graves eines Tages auftaucht, ihm einen Koffer mit Waffe samt 100 Schuss Munition überreicht und ihn zur Selbstjustiz anstiftet. Sein Ziel ist die geschäftige Megan Dietrich, die offensichtlich einigen Dreck am Stecken hat. Doch Lee ist nicht dazu in der Lage, die Dame nach längerer Beobachtung ähnlich kompromisslos zu behandeln wie sie einst ihn. Und so soll ihm das lange Hadern zum Verhängnis werden …
_Meine Meinung_
Die Veröffentlichungspolitik von |Panini| mag im Falle der Neuauflage von „100 Bullets“ ein wenig seltsam anmuten, denn nach dem sechsten Band zum Ende des letzten Jahres folgt nun erst der Auftakt, der die chronologische Aufarbeitung der Storyline erlaubt. Wer jedoch eben jenen sechsten Teil bereits gelesen und sich dabei ein umfassendes Gesamtbild gemacht hat, der weiß, dass sich in dieser Serie erst zuletzt einige elementare Puzzleteile zusammenfügen, was auch erklärt, dass der lineare Ablauf der drei Geschichten im ersten Band keine echten Erzählhöhepunkte aufweist. Stattdessen sind sie nur Bruchstücke eines enormen Komplexes, der sich erst nach und nach erschließen lässt, wenn man die Gesamtausgabe verinnerlicht hat.
Warum diese skeptische Einleitung? Nun, „Der erste Schuss“ bietet zwar zwei bzw. mit der abschließenden Kurzgeschichte drei Handlungsstränge aus der Welt des Agenten Graves, ist aber in Sachen Spannungsaufbau noch nicht auf dem Level angelangt, welches man nach den begeisterten Statements solch populärer Comic-Autoren wie Jim Lee und Warren Ellis berechtigterweise erwarten durfte. Die beklemmende Atmosphäre und die merkwürdigen Begebenheiten, die vor allem im Beisein des im Hintergrund agierenden Graves vor dem geistigen Auge ablaufen, ziehen den Leser zwar schon in ihren Bann, aber zum Ende hin geht es in den diversen Sinneinheiten doch viel zu flott voran, und bevor der große Knall folgen kann, wählt Brian Azzarello ein eher stilles, bedächtiges Ende, das aufgrund des jeweils nicht ganz abgeschlossenen Handlungsabschnitts reichlich Raum für Spekulationen lässt, einen fürs Erste aber auch nicht zufriedenstellt.
Unwiderruflich ergibt sich die Frage danach, was genau nun hinter „100 Bullets“ steckt und warum der Autor seine Geschichten nicht weiter ausschmückt, quasi das Potenzial völlig ausschöpft. Doch daran ist Azzarello vorerst nicht gelegen. Er berichtet stattdessen aus dem brutalen Alltag zweier gebeutelter Protagonisten, die ihr Leben bislang auf der Verliererstraße verbracht haben und aufgrund ihrer bedrückenden Vergangenheit auch kaum Chancen haben, ihrer Misere zu entfliehen.
Sowohl die bis zuletzt inhaftierte Dizzy als auch der im Alkohol versunkene Lee haben nur wenig Aussicht darauf, ihre aktuelle Situation künftig verbessern zu können, weil sie einfach schon zu tief abgerutscht sind und jegliche Möglichkeit der Rehabilitation damit verschwenden, noch härtere Rückfälle zu erleiden. In diesen Momentan taucht dann Graves auf, bietet ihnen die einmalige Gelegenheit, mit ihren Problemen aufzuräumen und ihre Urheber inkognito zu vernichten. Ein lukratives Angebot für beide, denn der Verlust ihrer Familie und die damit einhergehenden Spätfolgen haben einen Hass in ihnen geschürt, dem sie schon lange nicht mehr gewachsen sind. Aber vor lauter Verzweiflung fehlen ihnen Umgangsmöglichkeiten mit ihren neuen Freiheiten.
Dizzy will ihre Vergangenheit hinter sich lassen und sieht im Verzicht auf ihre neuerliche Chance den einzigen Weg dorthin, und Lee ist gerade dabei, die Bande zu seiner Familie wieder zu knüpfen, als Graves sein unmoralisches Angebot in den Raum wirft. Die Verlockung raubt ihnen die letzte Hoffnung, bringt ihnen indes aber auch wieder lukrativere Zukunftsaussichten. Doch diese Zwickmühle droht sie hinzurichten, denn auch wenn der zwielichtige Agent seine indirekte Hilfe angepriesen hat – letztendlich sind sie noch mehr alleine als je zuvor.
Man muss in „Der erste Schuss“ ganz klar unterscheiden zwischen dem allgemeinen Szenario, das der Autor und sein Sidekick Eduardo Risso hier kreiert haben, und der eigentlichen Handlung, deren prägnante Plots aufgrund fehlender Spannungsmomente noch die erhofften Überraschungseffekte (so wie eben auch in Band 6) vermissen lassen. Die Erklärung hierfür wurde bereits geliefert und begründet sich ganz klar darauf, dass die einzelnen Kurzgeschichten später miteinander verwachsen werden und es zu diesem Zeitpunkt fatal wäre, das Ende nicht offen zu lassen. Nur muss sich der interessierte Leser dies auch bewusst machen, bevor anschließend Fragen ob der bis dato unbefriedigenden Auflösung der beiden Hauptgeschichten aufkommen.
Diese sind an sich betrachtet allerdings keinesfalls von schlechten Eltern und bieten vor allem Freunden actionreicher Kost beste Unterhaltung. Sowohl die Szenerie im Großstadtghetto in der Titelstory als auch der Rahmen von „Pur, ohne Eis“ sind ein lesenswerter Genuss, wenngleich das Streben nach mehr und damit nach einer zeitweiligen Auflösung der gesamten Hintergrundgeschichte stets die Storys begleitet. Doch man wird sich noch ein wenig gedulden müssen, um den Rachefeldzug von Agent Graves komplett erfassen und seine Motive begreifen zu können. Und wenn „100 Bullets Band 1 – Der erste Schuss“ nun auch keine revolutionären Inhalte feilbietet, so versteht sich dieses erste Sammelwerk immer noch als gelungener Einstieg in eine vielerorts hoch gelobte Serie, die man in ihrer chronologischen Abfolge von nun an endlich wieder verfolgen kann.
|Siehe ergänzend dazu:|
[„Der unsichtbare Detektiv“ 1781
[„Sechs im roten Kreis“ 3283
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