Edwardson, Åke/Ake – Rotes Meer (Hörbuch)

_Rätselhaft: Dreifachmord im Asylantenviertel_

Es ist Mittsommer in Göteborg, und Kommissar Erik Wintersteht steht vor drei Leichen und einem Meer aus Blut. Der einzige Zeuge der Morde, ein kleiner Junge, versteckt sich vor dem Kommissar. Der kommt mit seinen Ermittlungen in einem Milieu am Rande der Gesellschaft, in dem der Kampf ums Überleben zusammenschweißt, nur mühsam voran. Seine einzige Hoffnung ist es, den Jungen zu finden.

_Der Autor_

Åke Edwardson, Jahrgang 1953, lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Göteborg. Bevor er sich dem Schreiben von Romanen widmete, arbeitete er als erfolgreicher Journalist u. a. im Auftrag der UNO im Nahen Osten, schrieb Sachbücher und unterrichtete an der Uni Göteborg „Creative Writing“. Er schrieb bislang zwölf Kriminal- und drei weitere Romane, zuletzt erschienen „Segel aus Stein“ (2003), „Winterland“ (2003), „Geh aus, mein Herz“ (2004), „Samuraisommer“ (2005)und [„Zimmer Nr. 10“ 2792 (2006).

_Der Sprecher & Die Sprecherin_

Boris Aljinovic, geboren 1967 in Berlin, war nach dem Schauspielstudium an der Hochschule „Ernst Busch“ am Berliner Renaissance-Theater und am Staatstheater Schwerin engagiert. Es folgten zahlreiche Rollen in Film und Fernsehen, so etwa 1999 in „Drei Chinesen mit dem Kontrabaß“ und 2004 in Ottoo Waalkes‘ Filmerfolg „Sieben Zwerge – Männer allein im Wald“. Seit 2001 spielt er den Kommissar Felix Stark an der Seite von Dominic Raacke im Berliner „Tatort“. Der Schauspieler lebt in Berlin. Er liest eine gekürzte Fassung.

Ulrike Grote hatte sich bereits als Schauspielerin einen Namen gemacht, bevor sie sich als Regisseurin auch hinter die Kamera stellte. Ihr Kurzfilm „Ausreißer“ wurde 2006 für den |Oscar| nominiert. Seit 2001 hat sie diverse Film- und Fernsehrollen gespielt, zuletzt in „Kanzleramt“.

Regie führte Gabriele Kreis im |studio-wort|, Berlin 2007.

_Handlung_

Kommissar Erik Winter kommt gerade nach einem halben Jahr in Marbella mit seiner Familie nach Göteborg zurück, als ihn eine Meldung zu einem besonders grausigen Verbrechensschauplatz ruft. In einer der für Migranten errichten Mietsiedlungen fand in einem Krämerladen ein Blutbad statt. Winter zählt drei männliche Leichen, die in einem Meer aus Blut schwimmen.

Ihnen allen wurde das Gesicht weggeschossen, offenbar um die Identifizierung zu erschweren oder als eine besondere Art der Demütigung. Und natürlich zur Einschüchterung der Angehörigen. Winter kommt der Schauplatz wie eine inszenierte Bühne vor. Und trotzdem will der Taxifahrer Jakke Rejnholds, der die Tat meldete, die Täter nicht gesehen haben?

Wenig später trudeln die Identitäten ein. Der Laden gehörte dem Nigerianer Jimmy Foro, sein Assistent war der Kurde Hiwa Aziz, aber wieso befand auch der Iraker Zaid Rizai frühmorgens in dem Laden? Die Lautsprecher lassen kurdische Musik erschallen. „Kamel-Jazz“, wie einer der Polizisten abfällig meint. Die zwei Täter, das ergibt die Spurensuche, trugen Einmal-Überziehschuhe wie aus dem Krankenhaus. Kein Zweifel: Auftragsmörder, Profis. Wer hat sie geschickt und aus welchem Grund?

Winter folgt einem Pfad, der zu einem Platz zwischen den Mietshäusern führt. Es ist niemand zu sehen, aber arabische Musik erklingt. Zufällig erhascht er aus dem Augenwinkel einen Blick auf einen etwa zehnjährigen Jungen, der Rad fährt und mit einem Tennisball spielt. Schon ist er wieder weg, verschwunden. Hat Rejnholds nicht „leichte Schritte“ erwähnt, Schritte wie von einem Kind vielleicht? Es soll mehrere Tage dauern, bis Winter den Wohnort dieses Jungen ausfindig gemacht hat und ihn befragen kann.

In Rizais Wohnung stoßen Winter und seine Kollegen auf die Leiche von Rizais Frau Shahnaz. Ihr wurde allerdings die Kehle durchgeschnitten, offenbar eine Tat der Rache, nicht die von Profis. Winter ist sicher, dass ein Zusammenhang mit dem Dreifachmorden besteht, tippt aber zunächst auf Zaid als Täter. Er könnte nicht falscher liegen.

Im Mietsviertel laden eine Reihe von Cafés und Pizzerien ein. Hier redet Winter mit den Kollegen über die Abschiebungspraxis, der die Ausländer dieser Gegend wehrlos unterworfen seien. Täglich verschwänden Menschen, die sie abschieben müssten, neue kämen ins Viertel. Es ist alles ständig im Fluss. Sie erspähen Hiwa Aziz‘ 17-jährige Schwester Nasrín, aber sie kann wie der Junge auf dem Rad spurlos verschwinden. Das Ganze wird Winter allmählich unheimlich.

Rumsitzen bringt nichts, also nimmt Winter die Familie Aziz aufs Korn, die immerhin schon fünf Jahre hier lebt. Als er vor deren Wohnung eintrifft, wartet dort bereits der kurdische Dolmetscher Muzafa Kerím, der bei der Verständigung helfen soll. Wie sich zeigt, ist Nasrín jedoch bestens in der Lage, sich verständlich zu machen. Von ihr hört Winter erstmals von einem Mitarbeiter Jimmy Foro, einem Mann namens Hussein Hussein. Winter und Haldersch sind verblüfft, lassen den Mann aber sofort zur Fahndung ausschreiben – die seltsamerweise ergebnislos verläuft. Einer der Gründe dafür: Alle Befragten haben maßlose Angst nach den Morden.

Bei einem Pizzeria-Gespräch mit Kerím wird Winter klar, dass Hiwa dessen Freund war. Er fragt Nasrín danach. „Was hat Hiwa getrieben? Was wusste Hiwa, dass er sterben musste?“ Doch sie schweigt hartnäckig. Hat auch sie Angst oder weiß sie mehr?

Kaum haben sie das ausgebrannte Fluchtauto und die Leiche eines verschwundenen Polizeispitzels entdeckt, hört Winter erstmals von Polizeichef Sievertsen die elektrisierende Nachricht, es gebe Gerüchte, dass es einen schwunghaften Menschenhandel mit blutjungen Mädchen gebe, die als Prostituierte hier arbeiten müssten. Kerím hatte etwas von Kindern erwähnt, die in den Wohnungen der Migranten versteckt gehalten würden. Aber wie finden die Mädchen den Weg zu ihren Kunden, fragt sich Winter, denn noch fehlen ihm viele Puzzleteilchen.

Dann erspäht er aus einer Pizzeria heraus, wie ein Taxi hält. Nasríns Freund Alan Darvish steigt aus, doch ein Mann bleibt im Taxi sitzen und fährt weiter. Zu Winters Überraschung ist es Muzafa Kerím. Die Taxifahrer dieser Gegend wissen offensichtlich viel mehr, als Winter und seine Kollegen bisher herausgefunden haben …

_Mein Eindruck_

Flüchtlinge und Asylanten spielen diesmal die Hauptrolle in Edwardsons neuestem Krimi, und der Autor führt den Leser nur langsam an deren Elend heran. Erst weit in den Roman hinein lässt der Autor Schockmomente in feiner Dosis auf den Leser los. Es geht um Menschenhandel von Schleuserorganisationen, Prostitution von jungen Mädchen, deren Kunden allesamt weiße Schweden sind. Der Unterschied zu den einheimischen Banden liegt jedoch darin, dass die Zuhälter aus den Kreisen der Migranten selbst kommen. Kein Wunder, dass sie als Verräter der eigenen Volksgruppe verachtet werden. Denn damit treten sie das, was die Migranten durchgemacht haben, in den Dreck.

|Die Geschichte einer Flucht|

Und die Migranten haben Unmenschliches durchgemacht. In die Szenen der Ermittlung Erik Winters sind Impressionen von der Flucht einer Kurdin eingeflochten. Es handelt sich um eine polizeiliche Aussage, die auf Tonband mitgeschnitten wird. Die Flucht der Familie der Sprecherin begann in der Wüste, wo die Nächte kalt waren und so mancher morgens tot aufgefunden wurde. Aber es war immer noch besser, als von den Soldaten im Heimatdorf abgeschlachtet zu werden.

Schleuser brachten sie in Lastwagen und Viehwaggons über Grenzen und Länder hinweg bis in den kalten Norden, wo die Winter eisig sind und der Nachthimmel im Sommer nie dunkel wird. Was für ein seltsames fremdes Land, dieses Schweden. Es gab im Mittelalter die Strafe der Vierteilung, und wie eine so Zerrissene fühlt sich die Sprecherin jetzt. In der Heimat war die kurdische Sprache verboten, man durfte nicht mal kurdisch denken, doch im fremden Land versteht niemand die Sprache, wenn man sie auch wieder sprechen darf. Deshalb ist die Musik so wichtig: einst zwar verboten, aber ein Stück Identität, endlich frei. Und traurig, unendlich traurig.

|Brainstorming|

Was mir sehr gut gefiel, waren die Szenen, in denen sich Erik Winter und sein Kollege Bertil Ringmar die Einfälle und Urteile wie Spielbälle zuwarfen. Es ist eine Art Brainstorming unter Gleichgestimmten auf gleicher Wellenlänge. Sie schließen Möglichkeiten aus und stellen Verbindungen her, die vorher nicht bestanden. Das ist eine faszinierende Sache und sie kommt zweimal vor.

|VORSICHT, SPOILER|

Auf diese Weise kommen sie zu der Einsicht, dass es sich bei den Dreifachmördern vielleicht gar nicht um gedungene Auftragsmörder gehandelt haben könnte, sondern um eine Art Racheakt, der als Befreiungsschlag dienen sollte. Aber wer hätte die Waffen und den Mumm dafür, fragen sich die Kriminaler. Asylanten verfügen für gewöhnlich nicht über Bewaffnung, wenn sie irgendwo über die Grenze gelassen werden. Sie müssen sich in Göteborg bewaffnet haben. Ein Spitzelbericht bestätigt diese Vermutung. Bewaffnete Banden gibt es in Göteborg genügend, und sie alle bekämpfen einander an den Reibungspunkten.

Nun braucht man nur noch Leute, die genügend Mumm haben. Oder ausreichend verzweifelt, meint der andere. Was, wenn es eine der Prostituierten selbst war? Dann würden aus den Mordopfern plötzlich die eigentlichen Schurken werden, nämlich die Zuhälter, die die Asylantenmädchen zu ihren Opfern machten. Die Kategorien „gut“ und „böse“ würden dann überhaupt keinen Sinn mehr ergeben.

_Der Sprecher & Die Sprecherin_

|Aljinovic|

Dass Boris Aljinovic einen „Tatort“-Kommissar spielt, gereicht ihm in vielerlei Hinsicht zum Vorteil. Die Aufgabe, die verschiedenen Figuren stimmlich und sprachlich auf erkennbare Weise zu charakterisieren, bewältigt der Sprecher mit Bravour – ohne sich jedoch zu Karikaturen hinreißen zu lassen. Man merkt aber nach einer Weile, dass ihm die Einzelfiguren nicht so sehr liegen wie das Kollektiv des Ermittlungsteams. Ich bewundere, wie es ihm gelingt, die einzelnen Figuren auseinanderzuhalten und stets die gleiche Ausdrucksweise für die jeweilige Figur zu finden.

So spricht Winter, der immer im Mittelpunkt steht, mit besonders tiefer Stimme, wohingegen seine Kollegen Ringmar und Brur sich ganz anders anhören. Der Taxifahrer Rejnhold hingegen klingt stets nervös und sogar ängstlich, spricht entsprechend hektisch. Am klarsten unterscheidet sich Muzafa Kerim von diesen Figuren: Er hat einen ausländischen Akzent, klingt wie ein Türke, der deutsch spricht.

|Grote|

Alle weiblichen Figuren und die kleinen Jungs weisen eine höhere Stimmlage auf, was ja naheliegt. Ulrike Grote spricht einen weiblichen Part – wen genau, ist teil des Geheimnisses, dessen Schleier erst ganz am Schluss gelüftet wird. Ihre Stimme ist also genau angemessen. Dennoch ergeht sie sich nicht in Emotionalität, sondern spricht kontrolliert und gleichmäßig selbst über die schrecklichsten Begebenheiten. Es handelt sich um eine Aussage vor der Polizei, und doch ist es auch ein Einblick in eine Seelenlandschaft. Der Hörer muss sich sozusagen seinen Teil denken und wird nicht vermeiden können, von dieser in Häppchen verabreichten Erzählung angerührt zu sein.

|Schwächen|

Eine Schwäche Aljinovics hat mich jedoch mehrmals verwirrt und meine Aufmerksamkeit abgelenkt. Seine Aussprache schwedischer Namen schwankt von Fall zu Fall. So sagt er mal Jellbö, dann wieder Jällbo. Und auch die Aussprache des Namens „Muzafa Kerím“ ist zwischen den beiden Sprechern nicht abgestimmt worden. Grote spricht das Z in „Muzafa“ deutsch aus (als TS), Aljinovic spricht hingegen ein stimmhaftes S aus.

Musik und Geräusche gibt es nicht, daher brauche ich kein Wort darüber zu verlieren.

_Unterm Strich_

Wie in einer Art Einkreisung dringt Kommissar Erik Winter immer weiter in die Gedanken- und Gefühlswelt der der kurdischen Einwanderer vor, bis sich ein Geflecht von Abhängigkeiten und Abneigungen offenbart, das sich zu einem verhängnisvollen Konflikt hin entwickelte. In einem gewalttätigen Ausbruch wurden drei Männer nicht nur hingerichtet, sondern auch noch ihrer Identität, ihrer Ehre beraubt. Kein Wunder, dass alle Asylantenfamilien vor Angst wie erstarrt sind und kaum jemand den Mund aufmacht.

Erik Winter kommt sich vor wie auf einem unheimlichen anderen Planeten und offenbart so das eigentliche Thema des Romans: die Entfremdung der Asylantenfamilien von ihren eigenen Wurzeln, die dazu führt, dass die jungen Männer nur an den Gott des Geldes glauben und die jungen Frauen ausbeuten. In zwischengeschalteten Impressionen einer dieser Frauen erleben wir das Elend und die Schrecknisse dieser Flucht ins Asyl mit und können erst nach dem Ende dieses Berichtes verstehen, was es mit der Hinrichtung der drei Männer auf sich hat. Mehr soll nicht verraten werden.

|Das Hörbuch|

Sowohl Boris Aljinovic als auch Ulrike Groten erledigen ihre Arbeit auf beeindruckende Weise und vermitteln einen Eindruck von den Emotionen, die im Spiel sind. Besonders Erik Winter ist mir im Gedächtnis geblieben, ebenso wie Grotes Impressionen der namenlosen Berichterstatterin. Vor dem Finale, einem Showdown, muss der Hörer wie ein Luchs aufpassen, um alle Zusammenhänge richtig auf die Reihe zu bekommen. Aber es lohnt sich. (Wer nicht so scharf aufpassen will, sollte das Buch lesen.)

Erst ganz am Schluss wird der Name der Berichterstatterin enthüllt. So lange muss sich der Hörer gedulden, aber ein Hörer, der mitdenkt, kann den Namen des Täters schon frühzeitig herausbekommen. Gestört haben mich die Inkonsistenzen in der Aussprache Aljinovics und zwischen beiden Sprechern. Sie hätten sich hinsichtlich der Aussprache von Namen absprechen sollen.

|Originaltitel: Vänasta Land, 2006
Aus dem Schwedischen übersetzt von Angelika Kutsch
301 Minuten auf 4 CDs
ISBN-13: 978-3-89903-477-6|
http://www.hoerbuch-hamburg.de

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