Savage, Sam – Firmin – Ein Rattenleben

So manch einer musste sich in Kindheitstagen und sicherlich auch als Erwachsener noch als Bücherwurm oder Leseratte betiteln lassen – vielleicht als Vorwurf gedacht, sicherlich überwiegend aber augenzwinkernd und manchmal auch verwundert. Der Wissensdurst oder die Spannung an der Geschichte, die Möglichkeit, teilzuhaben am Schicksal der Protagonisten, entführen den Leser, der dies zulässt, in eine ganz eigene Welt.

In diesen Geschichten können wir verwegene Helden sein, romantische und stürmische Liebhaber, oder in die Gedankenwelt von bösen Charakteren eintauchen; all dies ganz gefahrlos, es sei denn, man verliert dabei den Bezug zur Realität. Bücher können Waffen sein in den Händen ihrer Autoren oder Leser, sie können Existenzen erklären, aufbauen und vernichten, sie können uns viel lehren und unser Leben bereichern, manchmal sogar Schlüsselerlebnisse für das weitere Leben erzeugen.

Der Autor Sam Savage zeigt uns in seinem Debütroman „Firmin – Ein Rattenleben“, dass belesene langschwänzige Ratten durchaus auch zwischen den Zeilen lesen können und die Literatur uns manchmal genauso real erscheint wie die Wirklichkeit.

_Inhalt_

In der Heimat des Jazz, Boston in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts erblickt Firmin eines von dreizehn Rattenbabys das Licht der Welt. Seine Geburtsstätte ist eine Buchhandlung in der auch seine Jugend verbringt. Firmin ist sonderbar, nicht nur für seine Geschwister oder seine alkoholabhängige Mutter.

Sein Verhaltensmuster entspricht nicht unbedingt seinem Wesen. Firmin ist neugierig und entdeckt dabei sein Faible für die Literatur. Das Nest, in dem er und seine Geschwister aufwachsen, ist isoliert und ausgelegt mit den losen Seiten eines dicken Buches, wohl einer Enzyklopädie. Firmin verschlingt diese Seiten quasi, sprich: Er isst sie ganz einfach auf. So werden in frühen Kindheitstagen schon viele Seiten aus Büchern der Philosophie, der Linguistik, Astronomie und Astrologie ebenso verschlungen wie abscheuliche Gräueltaten, Bekenntnisse, Geständnisse und Apologien.

Im Verlauf seines Heranwachsens ist die ‚Beschäftigung‘ mit der Literatur eine prägende Phase seiner Bildungsbiographie, und Firmins absonderliche Essgewohnheiten beginnen sich zu wandeln. Er nutzt die vielen Bücher nun nicht für seine Gier nach Essbarem, sondern beginnt diese auch zu lesen. Zudem weitet er langsam seine Expeditionen aus und erforscht die Räume und Ecken der Buchhandlung. Er beobachtet die Menschen dabei, wie sie gleich der Suche nach einem Schatz die Regale voller Bücher sichten, und verfolgt, wie Norman, der Besitzer des Bücherladens namens „Pembroke Books“, routiniert seinem Tagesablauf nachgeht.

Firmin lernt neben der Literatur auch das Lichtspielhaus „Rialto“ kennen und lieben. Seine Helden sind neben Charlie Chan und Gene Autry auch Western, Krimis, Musicals und Filme mit Joan Fontaine, Abbott und Costello. Fred Astaire entwickelt sich ebenso zu einem Vorbild wie wenig später Ginger Rogers.

Firmin wird zu einem Einzelgänger und lebt seine gelesenen und gesehenen Helden nach. Seine Welt verwandelt sich ein Universum von Gefühlsstürmen und miterlebten Schicksalsschlägen, mit Augenblicken dramatischer Gewalt und unerfüllten Liebesbekenntnissen. Zu Norman Pembroke entwickelt die kleine Ratte eine tiefgehende Zuneigung; schon am Frühstückstisch nimmt Firmin die stille Rolle eines Voyeurs ein, der aus einem Loch in der Decke die morgendliche Zeitung mitliest und sich so über das politische Geschehen, den Sport und natürlich auch den Klatsch und Tratsch informiert.

Eines Tages aber wird Firmin von Norman entdeckt, was Firmin nichtsahnend fast zum Verhängnis wird. Das Rattengift hält Firmin für ein Geschenk und fällt naiv und unbedarft darauf herein. Firmin überlebt jedoch den feigen Mordanschlag und will nun seinen eigenen Weg gehen …

_Kritik _

Sam Savage versteht es gekonnt, in seinem Debütroman „Firmin – Ein Rattenleben“ eine philosophische Geschichte zu erzählen. Firmin ist kein typischer Roman, der eine offensichtliche Botschaft präsentiert. Bei Firmin muß man viel zwischen den Zeilen lesen, um zu verstehen, was der Autor uns zu sagen hat. Man merkt, dass Sam Savage selbst ein Literat ist. Unzählige Zitate finden sich in seinem Roman wieder, und das überhaupt nicht deplatziert oder aufdringlich, sondern ausgesprochen gut eingesetzt.

Firmins Geschichte ist im Grunde eine ernste und traurige, zugleich berührt sie aber und lädt uns dazu ein, vielleicht das Leben ein wenig ernster und zugleich freundlicher anzunehmen. Zudem wird klar: Die „Realität“ ist für jeden individuell und jeder schafft sie sich ähnlich wie unser Protagonist „Firmin“ selbst.

Die Grundstimmung des Romans ist melancholisch und Firmin als „Leseratte“ in diesem Rahmen formidabel konzipiert. Seine Bestrebungen und Hoffnungen, etwas anderes sein zu wollen als eine kleine unscheinbare Ratte, an die er sich verzweifelt klammert, sind rührend. Sein Schicksal ist eher tragisch; er ähnelt darin Don Quichotte, dem Ritter von der traurigen Gestalt. Seine ganze Motivation, geliebt, geachtet und wahrgenommen zu werden, führt letztlich zu nichts anderem als der Einsicht, dass man nicht aus seiner eigenen Haut kann.

_Fazit_

„Firmin“ ist ein philosophischer Exot für Querdenker mit einer außergewöhnlichen dichten Sprache. Für Leser, die aufgrund der Aufmachung vermuten, dass „Firmin“ ein eher witziges Buch wäre, wird die Lektüre möglicherweise eine Enttäuschung sein. Wer sich aber Zeit nimmt und das Buch, wenn es denn geht, in einem Stück durchliest, wird schnell erkennen, dass es darin weit mehr zu entdecken gibt als vielleicht ursprünglich gedacht.

Der Roman ist auch äußerlich wunderbar gestaltet. Das Cover zeigt eine traurige, mit nach unten sinkenden Mundwinkeln über einem Buch sitzende Ratte. Die Buchseiten sind etwas vergilbt und nicht gleichmäßig geschnitten, wodurch das Buch angenagt wirkt. Das passt natürlich zu Firmin, und auch sicher zu Sam Savage, der ein großartiges, dezent augenzwinkerndes Werk geschaffen hat. Es gibt noch eine kleine Besonderheit bei „Firmin“: Es wurde in drei Teilen von verschiedenen Personen übersetzt, jede Passage in ihrem ganz eigenen Stil.

„Firmin – Ein Rattenleben“ ist empfehlenswert für Menschen stillen und melancholischen Gemütes, für neugierige Leser, die gern Träumen hinterherjagen und den einen oder anderen auch wirklich einfangen können, für Menschen, die es verstehen, ihr Dasein zu akzeptieren, aber trotzdem dafür kämpfen, etwas erreichen zu wollen.

_Der Autor_

Sam Savage wurde in South Carolina geboren und lebt heute in Madison, Wisconsin. Er promovierte in Philosophie, unterrichtete kurzzeitig arbeitete als Tischler, Fischer, Drucker und reparierte Fahrräder. „Firmin – Ein Rattenleben“ ist sein erster Roman.

|Originaltitel: Firmin. Adventures of a Metropolitan Lowlife
Deutsch von Susanne Aeckerle, Marion Balkenhol und Hermann Gieselbusch
213 Seiten, gebunden, Buchschnitt mit Rattenzahnung|
http://www.ullsteinbuchverlage.de/ullsteinhc/

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