Harrison, M. John – Nova

Saudage ist in ihren Außenbezirken eine verfallene, von Randexistenzen und Kriminellen bewohnte Stadt auf einem erdfernen Planeten der Zukunft, die indes eine Besonderheit aufweist: Vor Jahren tat sich ein Riss im Raum-Zeit-Gefüge auf, der Saudage zur Hälfte verschlang bzw. eine Region mit fest umrissener Grenze schuf, innerhalb derer die bekannten Naturgesetze keine Gültigkeit besitzen.

Menschen können hier geraume Zeit überleben, doch sie zahlen dafür mit Krankheit und einem beschleunigten Alterungsprozess. Das Risiko gehen Glücksritter gern ein, denn die „Aureole“ birgt außerirdische Artefakte, mit denen sich viel Geld verdienen lässt. Weil das Risiko groß ist, dass sich diese als gefährlich entpuppen, steht das Betreten des Ereignisgebiets unter Strafe.

Einer dieser Abenteurer ist Vic Serotonin. Derzeit steht er unter Druck, denn er hat ausgerechnet dem mächtigen Schwarzhändler Paulie DeRaad ein Artefakt verkauft, das diesen körperlich und geistig mutieren lässt. Außerdem ist ihm der hartnäckige Ermittler Lens Aschemann auf den Fersen, der ihn angeblich überführen möchte, während er tatsächlich selbst Ungesetzliches plant. Zu allem Überfluss verliebt sich Vic in die psychisch instabile Elisabeth Kielar, die eine neue Lebensperspektive ausgerechnet im Inneren der Aureole sucht, wohin Vic sie führen soll.

Die Aureole wächst, und in ihrem Inneren geht Seltsames vor, das zunehmend auf die Außenwelt übergreift. Wie weit wird diese Ausbreitung gehen – und lässt sie sich notfalls zum Stoppen bringen? Fieberhaft studiert Vic die verworrenen Aufzeichnungen Emil Bonaventuras, seines Mentors, der angeblich bis ins Zentrum der Aureole vorgedrungen ist. Ist dort der Schlüssel zum Verständnis dieses Phänomens zu finden? Vic geht zurück, und Elisabeth will ihn auf seine Expedition begleiten. An der schwankenden Grenze zur Aureole treffen sie auf Aschemann und einen schrecklich veränderten, rachsüchtigen Paulie. Vic und Elisabeth flüchten in die Aureole, wohin Aschemann ihnen folgt …

Die Zukunft wird ein absonderlicher Ort sein. Das mag als Einleitung zur Rezension eines Science-Fiction-Romans wie eine Binsenweisheit klingen. Wer diese Lektüre liebt und sie sich nicht durch „Battletech“-Balla-Ballereien, Fließband-Epen und andere Sünden des Genres vermiesen lässt, muss freilich viel oft feststellen, dass die Welt von Morgen als mehr schlecht als recht getarntes Spiegelbild der Gegenwart daherkommt. Simpel-Action und Soap-Opera scheinen sich mit leichten futuristischen Elementen prächtig zu verkaufen, aber Science-Fiction ist das nicht.

Der Mensch wird sich voraussichtlich – oder sollte man sagen: hoffentlich? – in seinem Denken und Handeln weiterentwickeln, obwohl Grundsätzlichkeiten vermutlich bleiben werden; Liebe und Hass, Gier und Großzügigkeit, Mut und Angst prägen uns und werden uns immer prägen. Das Umfeld dieser Menschen der Zukunft wird hingegen ein deutlich anderes sein, und es wird die beschriebenen Emotionen und Denkweisen und die daraus resultierenden Handlungen beeinflussen.

Das ist das Spielfeld für ‚richtige‘ SF. Sie stellt Ansprüche an ihre Autoren, fordert sie heraus, eher zu extrapolieren als zu variieren. Auf der anderen Seite sehen sich die Leser intellektuell herausgefordert. Wenn sie sich einem ambitionierten Verfasser wie M. John Harrison anvertrauen, werden sie erfreut feststellen, dass es abseits der ausgetretenen Pfade literarisches Neuland zu entdecken gibt.

Die Expansion der „Aureole“ ist nur ein Handlungsstrang; er ist nicht einmal der wichtigste und endet noch weit vor dem Finale. „Nova“ ist ein Roman, in dem Handlung und Stimmung sich die Waage halten. Harrison beschreibt eine fremdartige, exotische Welt, die er nicht unbedingt erklärt. Er betrachtet sie durch die Augen seiner Figuren, die selbstverständlich mit ihr vertraut sind und sich die Erläuterung des Alltags sparen. Das lässt viel Raum für eigene Interpretationen, was reizvoll sein aber durchaus in Verwirrung enden kann. Davon sollte man sich nicht schrecken lassen; nur jene Leser, die partout keine ungelösten Rätsel, schwer zu deutenden Visionen oder offen bleibenden Fragen lieben, sollten besser in ihrer kleinen, klaren Welt bleiben, wie sie z. B. in der „Sendung mit der Maus“ definiert wird.

Denn das Unerklärliche ist Programm in Saudage. Nicht umsonst liegt die Stadt direkt neben einer Anomalität, die ihre Grenzen sprengt und lange Zeit unbemerkt die Realität, wie wir bzw. die Bewohner von Saudage sie kennen, nachhaltig unterminiert. Was geschieht wirklich, was beruht auf Einbildung bzw. der Fehlfunktion von Sinnesorganen; gibt es eine erschreckendere Entdeckung als die, dass man seinen eigenen Augen nicht mehr trauen kann? So ergeht es auch uns Lesern, denen der Verfasser den festen Boden unter unseren Füßen wegzieht.

Inhaltlich wie stilistisch lässt sich „Nova“ als Post-Cyberpunk kategorisieren. Der Cyberpunk, ein SF-Subgenre, das in den 1980er Jahren für Aufsehen sorgte, weil es der Science-Fiction eine gänzlich neue literarische Dimension zu bieten schien, hat sich längst im breiten Strom der SF aufgelöst. M. John Harrison bedient sich bekannter Cyberpunk-Klischees, erschafft eine Welt mit scharfen gesellschaftlichen Kontrasten, in der sich jede/r selbst der Nächste ist. Cyberpunks sind Außenseiter, die sich um das Gesetz nicht scheren, sondern mit mehr als einem Bein im multimedialen Datenstrom stehen, der die Gegenwart dieser Zukunft prägt. Saudage ist auf allen Ebenen vernetzt, Hightech steht auch den Armen und Ausgestoßenen zur Verfügung, hat sie aber entgegen der Prognosen futurfixierter Vordenker keineswegs aus dem Elend befreit, sondern altbekannte Missstände nur in neue Formen gegossen.

Vic Serotonin ist so ein später Cyperpunk, nur dass ihm so gar kein anarchistischer Impetus mehr innewohnt. Die digitale Revolution hat längst ihre Kinder gefressen. Vic ist kein idealistischer Gegner des Systems, sondern ein Kleinkrimineller, der sich ohne Hoffnung auf eine positive Wende durch sein trübsinniges Leben treiben lässt.

So wie ihm geht es den meisten Menschen in seinem Umfeld. Nicht einmal die Tatsache, dass Vic sich regelmäßig in die Aureole wagt, macht ihn zu einer besonderen Person. Er hat keine Ahnung, was dort geschieht, sondern sammelt ängstlich Artefakte, die er nicht versteht, und verkauft sie weit unter Wert an skrupellose und clevere Ausbeuter, ohne sich Gedanken über mögliche Folgen zu machen.

Die Gesellschaft von Saudage scheint allerdings ohnehin an einem Punkt angekommen zu sein, an dem ihr herzlich gleichgültig ist, was ihr da aus fremder Dimension ins Haus schneit. Die Grenzen zwischen Realität und Aureole sind mindestens ebenso verwischt wie die Grenzen zwischen ‚analogem‘ und ‚digitalem‘ Alltag. Die Menschen lassen sich operativ ‚umschneidern‘, verwandeln sich in bizarre Kreaturen, die eine neue Mode in noch groteskere Gestalten treiben kann; sie lassen ihr Hirn und ihre Sinne künstlich ‚aufrüsten‘ und schaffen sich Ebenbilder aus Bits & Bytes – wie sollen sie überhaupt registrieren, dass etwas wirklich Fremdes über sie kommt?

In dieser Stadt der Haltlosen wirkt Lens Aschemann als Gesetzeshüter nicht fehl am Platze. Er entscheidet, was ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ ist. Scheinbar ist er niemandem Rechenschaft schuldig. Dabei ist Aschemann ein psychisch arg aus der Bahn geworfener Zeitgenosse, der sich mit seiner toten Gattin zu unterhalten pflegt und auch sonst ein auffälliges Verhalten an den Tag legt. Seine Assistentin wirkt auf den ersten Blick systemkonformer, doch sie hegt ihre eigenen Neurosen und ist eine Sklavin ihres ‚getunten‘ Körpers.

So leben die Bewohner von Saudage, obwohl auf allen Ebenen vernetzt, im Grunde nebeneinander her. Eine traurige Zukunft ist das, von der Harrison uns erzählt. „Nova“ kennt keine Helden, keine Schurken, sondern nur durchschnittliche Menschen in einer unwirtlichen Welt.

Die wirkt zu großen Teilen wie aus einem von Ted Benoits „Ray Banana“-Comics übernommen. Harrison übertreibt es mit seinem offensiven Mix aus futuristischer Hightech im Retro-Gewand. Wieso sollten die Bewohner von Saudage eine Vorliebe ausgerechnet für die irdische Architektur, Mode, Musik etc. der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besitzen? Antwort: So lässt sich Hirnschmalz sparen, das sonst in die Darstellung einer wirklich fortschrittlichen oder wenigstens fortgeschrittenen Gesellschaft investiert werden müsste.

Aus dem „Film Noir“ ist die düstere Atmosphäre ‚entliehen‘. Alle Figuren sind quasi verdammt, wenn wir sie kennen lernen. Manche – wie Vic oder Emil – haben es erkannt und akzeptiert, manche glauben wie Fat Antoyne Messner und Irene, die Mona, noch immer an eine Chance, die sich ihnen u. a. an Bord des Raumschiffs „Nova Swing“ schließlich bieten wird.

Post, Retro, Film Noir – Eine positive aber objektive Kritik darf und muss sogar erwähnen, dass „Nova“ nicht zwangsläufig ‚Literatur‘ sein muss, nur weil der Verfasser mit den Regeln der Simpel-SF bricht. Harrison beherrscht sein schriftstellerisches Handwerk. Dennoch keimt der Verdacht auf, dass er hier weniger neu kreiert als routiniert abspult. Auch ‚anspruchsvolle‘ Literatur kann nach Autopilot entstehen – eine Tatsache, die Literaten und Literaturwissenschaftler gern abstreiten. Sie setzen dabei erfolgreich auf die heimliche Angst des Lesers, er (oder sie) sei schlicht zu dumm, den geistigen Höhenflügen des Verfassers zu folgen. Man darf sich da nicht irremachen lassen: Hinter manchem Adler versteckt sich nur eine lahme, aber schlaue Ente.

„Nova“ ist letztlich durchschnittliche SF mit Anspruch – interessant, aber simpel geplottet, was Harrison durch eine fein ziselierte Sprache (die ihre Übersetzung wohlbehalten überstanden hat) gleichzeitig zu veredeln und zu bemänteln weiß. Die Antwort auf die Frage nach der ‚Qualität‘ dieses Romans muss sich der Leser deshalb vor allem selbst beantworten. Wer dennoch Führung wünscht, mag sich an der Tatsache orientieren, dass „Nova“ mit einem „Arthur C. Clarke Award“ als bester Roman des Jahres 2006 ausgezeichnet wurde.

Michael John Harrison wurde am 26. Juli 1945 in der englischen Stadt Rugby (Warwickshire) geboren. Nach seiner Schulzeit arbeitete er zunächst in einem Reitstall, ging dann zum College, ließ sich zum Lehrer ausbilden, ging aber ohne Abschluss nach London und versuchte sich als Schriftsteller.

Schon 1966 erschien seine erste Science-Fiction-Story in Michael Moorcocks berühmten Magazin „New Worlds“. 1968 wurde Harrison hier redaktioneller Mitarbeiter; er blieb es bis 1975 und veröffentlichte in diesen Jahren nicht nur weitere Kurzgeschichten, sondern auch Essays und Rezensionen, die sich durch Genrekenntnis und Schärfe auszeichneten.

Ein erster Roman („The Pastell City“, dt. „Die Pastell-Stadt“) erschien 1971. Harrison zeigte sich schon hier und zunehmend in seinen späteren Werken als Autor, der vordergründige Action mied und stattdessen Science-Fiction schrieb, die offene Fragen und Missstände der Gegenwart auslotete. Die Schrecken einer skrupellosen Globalisierung, das Versagen der Politik oder den Zerfall von Gesellschaften bildeten und bilden die Themen, mit denen Harrison sich beschäftigt, dem deshalb die Kritik eher gewogen ist als die breite Leserschaft. Auch seine Fantasy (u. a. der „Viriconium“-Zyklus) ist fern aller Tolkien-, Williams- oder Pratchett-Tümelei.

Der Privatmann M. John Harrison ist ein passionierter Bergsteiger. Für seinen Roman „Climbers“ wurde er 1989 mit einem „Boardman Tasker Prize for Mountain Literature“ ausgezeichnet. Auch für seine SF-Romane und Kurzgeschichten verlieh man ihm diverse Preise, so 2006 einen „Arthur C. Clarke Award“ für den Roman „Nova Swing“ (dt. „Nova“).

http://www.heyne.de

_M. John Harrison auf |Buchwurm.info|:_

[„Licht“ 907
[„Die Centauri-Maschine“ 2851

Schreibe einen Kommentar