Jahn, Ryan David – Ein Akt der Gewalt (Lesung)

Ein Akt der Gewalt war es, als Catherine Genovese 1964 niedergestochen und vergewaltigt wurde, während etliche Menschen ihre Schreie gehört haben, ohne einzugreifen oder auch nur Hilfe zu rufen. Diesen Mord hat Drehbuchautor Ryan David Jahn als Vorlage für seinen ersten Thriller genommen.

_Wenn es Nacht wird_

Um vier Uhr morgens macht sich Katrina Marino auf den Heimweg. Ihr Auto hat einen Platten und so muss sie trotz der späten Stunde das Ersatzrad aufziehen. Auf der Fahrt nach Hause nimmt sie eine Abzweigung – wäre sie geradeaus weitergefahren, wäre sie Zeugin eines Unfalls geworden. So parkt sie ihren Wagen in der Nähe ihres Apartments und trifft auf dem Weg zu ihrer Haustür einen Nachbarn – Frank heißt er, meint sie sich zu erinnern. Noch bevor sie ihre Haustür erreichen kann, hört sie ein Geräusch. Ein Mann folgt ihr. Sie beeilt sich, kann die Haustür aufschließen. Aber noch bevor sie sicher in ihre Wohnung schlüpfen kann, ist der Mann bei ihr, sticht auf sie ein und überwältigt sie.

Zur gleichen Zeit kämpfen ihre Nachbarn mit ihrem eigenen Schicksal: Frank macht sich auf den Weg, weil seine Frau Erin der Meinung ist, einen Kinderwagen überfahren zu haben. Also will er kontrollieren, ob seine Frau tatsächlich ein Kind auf dem Gewissen hat. Der 19-jährige Patrick hat einen Einberufungsbefehl erhalten, dabei kümmert er sich doch immer um seine todkranke Mutter, die den Wunsch hegt, ihr unwürdiges Leben zu beenden. Diane streitet sich mit ihrem Ehemann, da sie herausgefunden hat, dass er sie betrügt. Ein Ehepaar liegt im Clinch, weil ein möglicher Paartausch zur Sprache gekommen ist. Ein Mann entdeckt seine Gefühle für einen anderen Mann.

Sie alle kämpfen mit ihren Problemen, hören aber auch Katrinas Schreie. Sollen sie die Polizei rufen? Oder lieber doch nicht die Leitung blockieren? Dann lässt der Mann von Katrina ab und sie versucht schwer verletzt, sich ins Haus zu retten. Zentimeterweise schiebt sie sich vorwärts, sie kämpft, will überleben, die rettende Wohnung erreichen, aber dann hört sie wieder Schritte hinter sich …

_Anfängliches Verwirrspiel_

Eine schreckliche Gewalttat hat Ryan David Jahn dazu veranlasst, seinen packenden Thriller über die mangelnde Hilfsbereitschaft der Menschen zu schreiben. Zunächst begleiten wir Katrina auf ihrem Heimweg. Doch schon auf den ersten Blick merken wir, dass die Nacht für sie nicht gut enden wird. Denn zunächst wird sie von ihrem platten Reifen aufgehalten, dann hört sie bereits beim Reifenwechsel merkwürdige Geräusche, unterwegs wäre sie fast Zeugin eines Unfalls geworden und zuhause schließlich greift ein Mann sie mit einem Messer an. In schrecklichen Einzelheiten schildert Ryan David Jahn die nächtlichen Vorkommnisse, beschreibt Katrinas Gefühle, ihre Ängste, ihr Aussehen und ihre Gedanken. Wir sind ganz nah dran und merken selbst den Luftzug, als der fremde Mann sie von der Wohnungstür zurückreißt und mit dem Messer verletzt. Schonungslos beschreibt Jahn die nackten, bösen Fakten und sorgt damit bereits für Gänsehaut.

Doch dann wechselt plötzlich die Perspektive. Wir lernen neue Menschen kennen – Nachbarn von Katrina, die ebenfalls nicht schlafend im Bett liegen, sondern eigene Sorgen haben, mit ihrem Partner streiten, trauern, über Betrug oder Homosexualität nachdenken. All diese Menschen haben eigene Schicksale, eigene Nöte, andere Gedanken, anderes im Sinn als Hilfe zu leisten. Zu einem Zeitpunkt aber stehen sie alle am Fenster und schauen in den Hof, von dem sie Katrinas Hilferufe hören. Sie alle bemerken, was der jungen Frau Schreckliches widerfahren ist. Sie alle überlegen, ob sie Hilfe rufen sollen. Doch nach und nach beschließen sie alle, den Notruf nicht zu betätigen – um nicht in die Sache hineingezogen zu werden, um die Leitung nicht zu blockieren oder in der Gewissheit, dass sicher schon jemand anderes Hilfe geholt hat. Und so setzt sich Katrinas Martyrium, ihr Kampf um das nackte Überleben, weiter fort.

Viele einzelne Episoden sind es, die Ryan David Jahn zu erzählen hat. Oft wechselt die Perspektive, viele verschiedene Charaktere bringt Jahn ins Spiel, stellt sie uns vor und gibt uns einen kurzen Einblick in ihr Leben. David Nathan, der sich nicht nur als Synchronsprecher – z. B. für Johnny Depp oder Christian Bale -, sondern auch als Hörbuchsprecher bereits einen Namen gemacht hat, muss hier eine Meisterleistung vollbringen. Denn durch die häufigen Perspektivwechsel muss er in seinem Vortrag immer wieder deutlich machen, dass nun etwas Neues kommt, wir neue Menschen kennen lernen, die alte Szene verlassen und uns auf etwas Neues einlassen müssen. Leider schafft Nathan es nicht immer, diesen Wechsel deutlich genug zu machen. Zwar legt er deutliche Pausen ein zwischen den einzelnen Abschnitten, doch vergehen diese beim Hören mitunter recht schnell, sodass man manchmal recht unvermittelt in eine neue Szene geworfen wird. Beim Zuhören verliert man gerade zu Anfang leicht den Faden, da zu viele verschiedene Personen auftauchen, die man ja erstmal einordnen muss. Ein Personenregister, das man zur Hand hätte nehmen können, wäre hilfreich, wird bei einem Online-Download allerdings nicht mitgeliefert. Mir ist das Einhören zu Beginn recht schwergefallen, doch möchte ich das nicht David Nathan ankreiden, der sicherlich sein Bestes getan hat, sämtliche Perspektivwechsel hervorzuheben, doch durch die zahlreichen Charaktere erfordern gerade die ersten ein, zwei Stunden des Hörbuchs eine hohe Konzentration.

Hat man sich aber erst eingehört, die einzelnen Personen eingeordnet und sich in die Geschichte eingefunden, verliert man sich ganz in Nathans Erzählung. Mit seiner tiefen, sonoren Stimme schafft er genau die richtige düstere Atmosphäre, die dieser schrecklichen Geschichte würdig ist. Wörtliche Rede gibt es nicht allzu häufig zu bewältigen, sodass Nathan meist als Erzähler fungiert, und genau in dieser Rolle mag ich ihn am liebsten, denn das Spiel mit verschiedenen Stimmlagen finde ich bei ihm nicht allzu überzeugend, gerade wenn er in Frauenrollen schlüpfen möchte. Aber da das hier nur selten nötig ist, gefällt mir Nathan als Sprecher dieses Hörbuchs sehr gut.

_Düster_

Die Geschichte, die Ryan David Jahn zu erzählen hat, geht unter die Haut. Vor allem, wenn man sich vor Augen hält, dass sie auf einer wahren Begebenheit beruht. Etliche Menschen hören Hilferufe, sehen eine schwer verletzte Frau im Innenhof liegen (die sie zum Teil sogar als Nachbarin kennen!) und betätigen nicht einmal den Notruf. Wie kann das sein? Sind wir so abgebrüht? Geht uns das Schicksal eines anderen nichts an? Denken wir nur an uns? Sind wir zu faul, um zu helfen? Oder möchten wir einfach nicht in etwas hineingezogen werden, das uns ja (vermeintlich) nichts angeht? Diese Fragen stellt man sich, doch natürlich kann Jahn sie nicht beantworten. Will er auch gar nicht. Stattdessen will er von menschlichen Schicksalen erzählen und zum Nachdenken anregen. Und das schafft er auch. Und zwar überzeugend!

„Ein Akt der Gewalt“ trifft den Hörer ins Mark, bewegt ihn und stimmt nachdenklich. Wie hätte man selbst gehandelt? Was wäre, wenn man selbst an Katrinas Stelle gewesen und die hell erleuchteten Fenster mit den Menschen dahinter gesehen hätte? Auf Hilfe gehofft, aber nicht bekommen hätte? Dieser Debütroman ist großes Kino und wird sicherlich dieses auch noch erobern. Als Hörbuch hat mich die Geschichte zwar überzeugt. David Nathan liest sehr routiniert vor und tut sein Bestes, um den Zuhörer durch die Geschichte zu führen. Doch leider funktioniert „Ein Akt der Gewalt“ vermutlich als Buch besser, wo man schnell nochmal zurückblättern kann, um sich einen Namen wieder ins Gedächtnis zu holen, eine Geschichte nachzulesen und um vor allem immer sofort zu wissen, wenn ein Szenenwechsel ansteht. Für die Geschichte gibt es eine klare Empfehlung, für das Hörbuch nur eine bedingte, und zwar für eingefleischte Hörbuchfans, die sehr konzentriert zuhören können.

|Download-Version mit 5:03 h Spieldauer|
[www.audible.de]http://www.audible.de

auch erschienen als:

|4 Audio-CDs mit 280 Minuten Spieldauer
Sprecher: David Nathan
ISBN-13: 978-3-8371-0832-3|
[www.randomhouse.de]http://www.randomhouse.de

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