Jonquet, Thierry – Haut, in der ich wohne; Die

Man nehme drei Personen, die anscheinend nichts miteinander zu tun haben, mische das Ganze mit Ereignissen aus Gegenwart und Vergangenheit und heraus kommen einige spannende Stunden Lektüre. Genau das hat der Franzose Thierry Jonquet in seinem Roman „Die Haut, in der ich wohne“ getan. Auf dem Klappentext wird nicht nur die Verfilmung von Pedro Almodóvar mit Penelope Cruz und Antonio Banderas angepriesen, sondern auch auf die außerordentliche Spannung des Buches hingewiesen. Anfangs irritiert das ein wenig, denn das Buch ist eher ein Büchlein. Mit nur 141 Seiten ist es nämlich nicht unbedingt umfangreich. Wie man bei der Lektüre schnell merkt, ist es aber nicht immer nur die Länge eines Buches, die über seine Qualität entscheidet.

„Die Haut, in der ich wohne“ hat einen beinahe kammerspielhaften Charakter. Nur wenige Personen treten auf. Genauer gesagt sind es drei, die sich dem Leser in drei Perspektiven präsentieren. Auffällig ist dabei, dass man zuerst keinen Zusammenhang zwischen dem flüchtigen Bankräuber Alex, dem Schönheitschirurgen Lafargue und der namenlosen Person herstellen kann. Sie scheinen sich nicht zu kennen und ihre Wege führen in scheinbar unterschiedliche Richtungen. Alex überlegt fieberhaft, wie er sich nach dem Bankraub der Verfolgung durch die Polizei entziehen soll. Aus Versehen hat er dabei nämlich einen Mann – und dann auch noch einen Polizisten – erschossen. Bis jetzt hat er sich verstecken können, aber wie soll es weitergehen? Und was soll er mit der Beute machen, ohne mit dem gestohlenen Bargeld aufzufallen?

Der Schönheitschirurg Lafargue hat ganz andere Probleme. Anfangs ist er dem Leser ein Rätsel. Ist er vielleicht nur ein alter Perverser, der sich daran aufgeilt, eine junge Frau zur Prostitution zu zwingen und ihr dabei durch ein verspiegeltes Fenster zuzusehen? Mysteriös ist, dass er Ève in seiner großen Villa einsperrt, ihr ansonsten aber ein sehr großzügiges Leben ermöglicht. Und auch die junge Frau scheint nicht ganz unzufrieden mit dem Arrangement, auch wenn sie Lafargue immer wieder sabotiert. Was steckt hinter dem Paar? Wie ist seine Vorgeschichte? Und wie lässt sich dieses komische Pärchen mit Alex und dem anonymen, dritten Charakter, der aus einer unheimlichen Gefangenschaft heraus erzählt, verbinden?

Jonquet schafft es auf grandiose Art, diese unterschiedlichen Menschen zusammenzuführen. Überraschend ist dabei vor allem, dass ihm dies auf eine glaubwürdige und spannende Weise gelingt. Das ist schließlich nicht selbstverständlich bei Geschichten mit diesem Aufbau, doch der Franzose meistert diese Hürde souverän. Ihm gelingt eine bemerkenswerte Erzählung, die mehr als eine überraschende Wendung nimmt und den Leser wortwörtlich in Atem hält. Daneben muss man Jonquets Fähigkeit zum Geschichtenspinnen einfach bewundern. Geradezu virtuos lässt er die verschiedenen Charaktere, ihre Perspektiven, die Gegenwart und Vergangenheit ineinander übergehen, und er benötigt noch nicht mal viele Seiten, um dies zu tun. Er verzichtet auf nebensächliche Handlungen, alles scheint auf das grandiose Ende ausgerichtet, und trotz dieser deutlichen Konstruiertheit pulsiert die Geschichte vor Leben und wirkt – trotz ihrer Skurrilität – authentisch.

Dazu trägt sicherlich der düstere Ton der Geschichte bei, der das Hauptaugenmerk auf die dunkle Seite der Charaktere legt und für beklemmende Gefühle sorgt. Der Tonfall wird von einer teilweise poetischen, stimmigen Sprache transportiert. Jonquet benutzt viele Beschreibungen von Schauplätzen, aber auch Gefühlen oder körperlichen Zuständen, um dem Leser in knappen, aber ausdrucksstarken Worten ein plastisches Bild zu vermitteln. Besonders gut gelingt ihm dies bei der Perspektive, die durch ein kursives Schriftbild hervorgehoben wird. Dabei wird nicht aus der Perspektive der ersten oder dritten Person geschrieben, sondern der Erzähler spricht den lange Zeit anonym bleibenden Charakter mit einem persönlichen „Du“ an und erzählt ihm quasi, was er gerade erlebt. Dadurch wird diese Person nicht nur sehr stark hervorgehoben, sondern auch eine sehr eindringliche und interessante Schilderung der bizarren Situation und der Gefühle ermöglicht.

Die Figuren, auf denen eine Menge Aufmerksamkeit ruht, sind stark am Schreibstil ausgerichtet. Da ihre Gefühle und Gedanken darüber transportiert werden, lernt der Leser sie durch die eindringlichen und gleichzeitig nüchternen Worte sehr gut kennen. Sie scheinen perfekt ausgelotet und sind dabei alles andere als die netten Nachbarn von nebenan. Ihr auf den ersten Blick abstrus wirkendes Handeln wird durch Emotionen geleitet, die Jonquet realistisch darstellt. Die Personen werden dadurch sehr tiefgängig, und auch wenn der Leser kaum etwas mit ihnen gemeinsam hat, kann er sich mit ihren Schmerzen und Problemen in gewissem Maß identifizieren.

Thierry Jonquets „Die Haut, in der ich wohne“ stellt sich letztendlich als ein sehr interessantes, spannendes und großartig geschriebenes Büchlein heraus. Der Franzose holt aus einer geringen Anzahl von Schauplätzen, Personen und Ereignissen das Beste heraus. Ganz wie der französische Originaltitel „Mygale“ (dt.: Vogelspinne) andeutet, webt er ein dichtes Netz, bestehend aus einer klaren Sprache, überraschenden Handlungselementen und düsteren Charakteren, das den anspruchsvolleren Leser sicher einwickeln wird.

_Thierry Jonquet bei |Buchwurm.info|:_
[„Die Unsterblichen“ 930

http://www.hoca.de

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