Lewycka, Marina – Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch

Ich hätte es im Leben nicht für möglich gehalten, dass ich eines Tages mal ein Buch lesen würde, das „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ heißt. Die Geschichte des Traktors würde mich nicht einmal auf Deutsch so brennend interessieren, dass ich unbedingt ein Buch darüber lesen müsste …

Aber wie gut, dass bei Marina Lewyckas Debütroman der Name nicht Programm ist, denn (der geistreiche Leser mag es schon anhand des deutschsprachigen Titels scharfsinnig kombiniert haben) ein Buch mit deutschem Titel dürfte wohl kaum wirklich ukrainischen Inhalts sein. So gesehen ist also auch die Sache mit dem Traktor nicht all zu wörtlich zu nehmen.

Was soll das also für ein Buch sein, wo schon der Titel so sonderbar ist? „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ erzählt im Grunde eine Familiengeschichte. Erzählt wird die Geschichte von Nadias Familie, deren Eltern zu Kriegszeiten aus der Ukraine geflüchtet sind und die es über Umwege schließlich nach England verschlagen hat.

Nadias 84-jähriger Vater ist mittlerweile verwitwet, hegt aber bereits neue Heiratspläne, die für seine beiden Töchter Nadia und Vera kaum schockierender sein könnten, denn die Auserwählte ist Valentina, Mitte Dreißig und ein üppig bestücktes, ukrainisches, wandelndes Blondinenklischee. Nadias Vater Nikolai ist hin und weg, aber für die beiden Töchter ist von vornherein klar, wie sich Valentinas „Liebe“ zu dem alten Mann begründet: Sie will eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung für sich und ihren Sohn Stanislav – und dazu muss sie Nikolai nun einmal heiraten.

Nikolai ist im Taumel der späten Liebe blind für Nadias und Veras Versuche, eine Eheschließung zu vereiteln, und so kommt es, wie es kommen muss: Die beiden heiraten, Valentina zieht zusammen mit Stanislav in Nikolais Haus ein. Als die gute Valentina dann jedoch feststellen muss, dass Nikolais Rente dermaßen spärlich ausfällt, dass er ihr nach ihrer Auffassung kein guter Ehemann sein kann, nimmt das Unglück seinen Lauf.

Für Nadia und Vera steht fest: Sie müssen ihren Vater schleunigst aus den Klauen dieses skrupellosen Frauenzimmers befreien – koste es, was es wolle. Dafür nehmen die beiden Schwestern es sogar in Kauf, dass sie wieder miteinander reden müssen, nachdem sie im Streit um das Erbe der Mutter eigentlich nie wieder ein Wort miteinander wechseln wollten.

Und so schreiten die beiden beherzt zur Rettung des Vaters, der unterdessen dem Unheil im eigenen Haus immer wieder dadurch entflieht, dass er sich schriftstellernder Weise seinem Lieblingsthema widmet: den Errungenschaften der Industrialisierung und dabei im Speziellen den Errungenschaften der ukrainischen Traktorindustrie …

Marina Lewycka ist mit „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ ein herzerfrischendes Debüt geglückt, das nicht umsonst nach seiner Veröffentlichung in England von Kritikern und Presse gefeiert wurde. Ganz leichtfüßig steigt Lewycka in ihre Geschichte ein und serviert dem Leser ein Buch, das zunächst einmal nach einem luftig-lockeren Unterhaltsroman aussieht.

Die Figuren wirken ein wenig klischeebeladen. Nikolai, der 84-jährige Rentner, der auf die junge Blondine hereinfällt, Valentina, die nicht ein einziges Klischee auslässt und wie das Abziehbild der üppigen Ostblock-Blondine wirkt – Lewyckas Figuren mögen im ersten Moment platt wirken. Dennoch schafft die Autorin es, ihren Figuren mit jedem Kapitel mehr Tiefe zu verleihen. Der Leser lernt ihre Geschichten kennen, wirft einen Blick hinter die Klischees und schafft es in zunehmendem Maße, die Persönlichkeiten zu begreifen, die dahinter stecken.

Ein wenig erinnert das Ganze auf den ersten Blick an Zadie Smiths Roman „Zähne zeigen“. Dort ging es um die Geschichte einer indischen Familie, die versucht, in England zwischen eigenen Traditionen, der eigenen Identität und den Verlockungen der modernen, westlichen Welt ihr eigenes Glück zu finden. Doch wo „Zähne zeigen“ mir manchmal etwas träge und behäbig vorkam, da ist „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ flott und spritzig erzählt.

Lewyckas Roman lebt vor allem von der Verquickung zweier gänzlich unterschiedlicher Zutaten. Auf der einen Seite steht die humorvolle Betrachtung der Gegenwart, der ironische Blick auf die Figuren und ihre Verhaltensweisen, das Spiel mit den Klischees und das Irrwitzige der Situation. Auf der anderen Seite blickt der Roman auch immer wieder in die Vergangenheit.

Der Weg von Nadias Eltern von der Ukraine nach England wird bruchstückhaft aufgearbeitet. Man begreift, wie die Figuren zu dem geworden sind, was sie verkörpern, und wirft im Falle von Nadias Eltern einen Blick auf die schicksalhaften Zeiten von Stalin und Zweitem Weltkrieg. Nadias Eltern haben in der Ukraine die schlimmsten Kapitel der jüngeren europäischen Geschichte miterlebt. Ganz ernst und sachlich schafft Lewycka es, diese Schicksale in ihren ansonsten so ironisch-heiteren Roman einzufügen.

Das dürfte ihr auch deswegen so gut gelingen, weil ein Teil davon sicherlich auch eng mit ihrer eigenen Geschichte verknüpft ist. Zwischen Nadia und der Autorin gibt es auffällige Parallelen. Beide haben ukrainische Eltern und sind in einem Flüchtlingslager geboren. Beide leben sie in England. Mit „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ dürfte Marina Lewycka sich auch einen Teil der eigenen bedrückenden Familiengeschichte von der Seele geschrieben haben.

Dass ihr dabei der Balanceakt zwischen heiterer Erzählung und ernsten geschichtlichen Hintergründen so gut gelingt, verleiht dem Lesegenuss eine besondere Tiefe. Man durchlebt bei der Lektüre vielfältigste Gefühle. Mal möchte man sich über die komischen Figuren, die witzigen Dialoge und Nadias immer wieder in Klammern eingestreute Gedanken fast kaputt lachen, mal verspürt man bei den Schilderungen der Hungersnöte in der Ukraine und bei den Zahlen der von Stalin systematisch ausgehungerten Menschen einen dicken Kloß im Hals.

Mit dieser Mischung weiß Lewycka in jedem Fall zu fesseln. „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ entwickelt sich schnell zu einer Lektüre, die man nicht mehr beiseite legen mag. Das liegt nicht zuletzt an Lewyckas leicht zugänglichem Schreibstil, der sich durchweg sehr unterhaltsam liest. Sie trifft stets den richtigen Ton und skizziert ihre Figuren mit all ihren Klischees genau so, dass sie dennoch größtenteils glaubwürdig bleiben und nicht ins Lächerliche abdriften. Sprachlich und erzählerisch hat Lewycka einen fein akzentuierten und hochgradig unterhaltsamen Roman abgeliefert, der zu begeistern vermag.

Für mich persönlich ist „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ eine der Entdeckungen des Jahres und ein Lesegenuss, den man nur jedem ans Herz legen kann: herrlich komisch, mitreißend und hochgradig unterhaltsam und dabei dennoch feinsinnig, mit großem Ernst geschrieben und voller tragischer Momente. Prädikat: zu hundert Prozent empfehlenswert!

http://www.dtv.de

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