Müller, Karl-Georg & Patrick / Roth, Manfred / Franke, Jürgen E. – Cuanscadan – Tor nach Erainn (Midgard)

„Cuanscadan“ ist ein Quellenbuch zum Fantasy-Rollenspiel MIDGARD. Es beschreibt das Fürstentum und die Stadt Cuanscadan, die als Tor nach Erainn bezeichnet wird. Erainn, ein an der irischen Mythologie orientiertes Land, wird ebenfalls näher unter die Lupe genommen. Der Band schließt mit vier groben, aber ohne großen Aufwand vorzubereitenden Abenteuerskizzen und dem komplett ausgearbeiteten Abenteuer „Das Auge des Wüstengottes“.

Die Autoren Karl-Georg Müller und Manfred Roth haben sich im mit ca. 75 Seiten umfangreichsten Teil des Quellenbandes ganz dem Fürstentum Cuanscadan und dem gleichnamigen Fürstensitz gewidmet. Der Name Cuanscadan bedeutet „Hafen der Heringe“, und so ist es nicht erstaunlich, dass die Hafenstadt vor allem von Fischfang und Handel lebt.

Nach einem kurzen Überblick über die landschaftliche Lage des Fürstentums widmet man sich der bewegten Geschichte der Gegend. Die Ureinwohner, die Ffomor, vermischten sich immer wieder mit Einwanderern, seien es Valianer, Twyneddin oder sogar Exilhuatlani. Letztere haben einige kleine Siedlungen im Fürstentum gegründet. Seit ungefähr zwanzig Jahren lenkt Fürst Amhairgin die Geschicke der Stadt. Eine Veränderung, die nicht jeder gutheißt, wie man später anhand der Beschreibung mehrerer Geheimgesellschaften erkennen kann.

Kaum ein Mond vergeht in Cuanscadan ohne ein Fest oder einen Feiertag. So feiert man die Ankunft des ersten Lachses genauso gern und ausgiebig wie das erste Bier der letzten Ernte, das natürlich ausgiebig getestet wird. Der Erainner versteht eindeutig etwas vom Feiern.

Der kurze allgemeine Überblick über die Stadt Cuanscadan, der die wichtigsten Orte und Stadtviertel beschreibt, wurde leider ein wenig unübersichtlich gestaltet. Es fehlt hier eine Legende, mit deren Hilfe man auch aktiv nach einem Ort suchen könnte, ohne sich erneut den gesamten Text zu Gemüte zu führen. Der Gebäudeindex ist auf S. 85 versteckt, hilft jedoch nur bedingt, da die Einwohner nicht explizit irgendwelchen Gebäuden zugeordnet werden können.

Anschließend wendet man sich dem Kernstück des Quellenbuches zu: der Beschreibung ausgewählter Bewohner und Örtlichkeiten der Stadt. Diese Darstellung folgt dem aus „Corrinis – Stadt der Abenteuer“ bekannten Schema, d.h. es werden nur die wichtigsten Spieldaten der Bewohner angegeben, meist nur Abenteurerklasse und besondere Eigenschaften.

Bei den Beschreibungen der Stadtbewohner und Örtlichkeiten zeigt sich das Talent der Autoren, mit wenig Text viel auszusagen. Die Einwohner werden so plastisch dargestellt, dass man mehrfach meint, den Fischgeruch eines Händlers oder das Duftwasser der Parfümerie wahrnehmen zu können. Über das Verhalten gegenüber Abenteurern braucht man sich in den seltensten Fällen Gedanken zu machen, denn selbstverständlich wird das normale Gebaren der Bewohner beschrieben.

Hinter der Fassade vieler Einwohner lauern Geheimnisse, die ein Spielleiter problemlos in Abenteuer einfließen oder gar als Anregung für solche nutzen kann. Wirken einige Cuanscadaner auf den ersten Blick normal, offenbart sich in einem Nebensatz ein kleiner Abgrund. Als harmloseres Beispiel sei hier ein Fährmann genannt, dessen Frau ihn nur selten zu Gesicht bekommt, es sei denn, das Hochwasser macht ihn beschäftigungslos, „was meist im Herbst geschieht, weshalb seine Kinder in den Sommermonaten geboren wurden. Bis auf eines …“.

Dieser augenzwinkernde Humor zieht sich durch die gesamte Stadtbeschreibung. Deshalb macht schon das Lesen jede Menge Spaß. Wie muss das erst sein, wenn man diese Bewohner am Spieltisch zum Leben erweckt? Ich kenne so einige Stadtbeschreibungen, doch so lebendig wie Cuanscadan wurde bisher keine andere Stadt geschildert. Diese Darstellung passt wie die Faust aufs Auge zum lebenslustigen Volk der Erainner.

Die wichtigsten Gebäude der Stadt, u. a. der Garten Nathirs, die Wachen und die Verwaltung werden ausführlich beschrieben. Dabei wurden zahlreiche hübsche Karten in den Text integriert. Ein eigenes Kapitel befasst sich mit diversen Geheimgesellschaften Cuanscadans, die sich auch gegenseitig Konkurrenz machen. Auch hier sind jede Menge Abenteuerideen angerissen.

Dún Cloighteach, die Burg des Fürsten Amhairgin, wird in Form einer Reisebeschreibung näher unter die Lupe genommen. Man erfährt nicht nur, wer dort lebt und wie die Gebäude aussehen, sondern erhält auch einen tiefen Einblick in die politische Lage der Region, die alles andere als stabil ist. Dem Ränkespiel am Hof ist Tür und Tor geöffnet, was zu einem großen Teil auch an der Abstammung des Fürsten und seinen persönlichen Vorlieben liegt. Ein gefundenes Fressen für jeden Spielleiter.

Das Kapitel „Meine Ankunft in der Bardenschule“ vermittelt viel vom Flair dieser Ausbildungsstätte. Zum Schluss des ersten Teils des Quellenbandes wird der Silberne Turm des Erzmagiers Ultan ay’siochan ausführlich beschrieben. Dort könnte ein hervorragender Zauberer unter den Abenteurern eines Tages vom Erzmagier selbst unterrichtet werden.

Jürgen E. Franke gibt auf den nun folgenden 40 Seiten einen allgemeinen, aber doch detaillierten Überblick über das Land Erainn. Den wichtigsten Landschaften, Pflanzen, Tieren und Fabelwesen wird jeweils ein kleiner Absatz gewidmet. Einigen ungewöhnlichen Kreaturen, dem Weißfalken, einem Naturgeist namens Rutacorcach und dem Leprachán gönnt man eine ausführliche Darstellung. Letztere beherrschen zwei neue Zaubersprüche.

Der Bevölkerung Erainns, die sich aus diversen Bevölkerungsgruppen zusammensetzt, wurde ein umfangreiches Kapitel gewidmet, das sich mit ihrer Abstammung, Kleidung und Geschichte befasst. Ein wichtiges Kapitel sind die Aussprachehilfen für die unserer Zunge doch recht fremdartigen Namen.

Die Siedlungsformen und die wichtigsten Städte und Ortschaften des Landes werden zwar knapp, aber mit Informationen voll gepackt vorgestellt. Eine Übersichtskarte Erainns hilft bei der Planung von Reisen innerhalb des Landes. Die Gesellschaft der Erainner ist eher am Landbesitz als an der Abstammung orientiert, doch zeigt sich auch hier die Vielschichtigkeit des Landes. Den Kriegern der Schlange ist der Ehrbegriff sehr wichtig, was sich auch in der Kriegsführung bei Streitigkeiten untereinander auswirkt. So wurde manche Schlacht Erainns ohne einen einzigen Todesfall ausgefochten, weil die Anführer in einem Zweikampf über Sieg oder Niederlage entschieden.

Dass Erainner fast so viel Wert auf Gesetze zu legen scheinen wie Valianer, war mir neu. Erklärt wird dies mit der fast schon religiösen Bedeutung, die sie dem Recht beimessen. Dementsprechend ausführlich wird auf Recht und Gesetz eingegangen. Familien und Sippen, Wirtschaft und Unterhaltung sind Kapitel, die Erainn zusätzliches Leben einhauchen.

Der naturverbundene Glaube der Erainner und seine Beschäftigung mit der Grünen Magie, der Magie der Natur (Dweomer), werden ausführlich dargestellt. Leider wurde die Beschreibung des Glaubenszentrums Teámhair als Reisebericht dargestellt. Die erzählende Heilerin verzichtet bei fast all ihren Sätzen auf Verben, was das Lesen ihrer Beschreibungen sehr anstrengend macht. An dieser Stelle hätte ich mir eine blumigere Schreibweise wie die eines überschwänglichen Barden gewünscht. So wirkt das vermutlich faszinierende Teámhair leider sehr trocken.

Dass die Erainner ein sehr lebenslustiges Volk sind, wird durch die Beschreibung einiger Zaubertänze wieder einmal bestätigt. Die Tänze erschienen ursprünglich bereits im |Gildenbrief| 46, wurden allerdings an die vierte Auflage der Regeln angepasst. Außerdem ist es jetzt auch möglich, die Tanzschritte unabhängig von der Zauberwirkung des Tanzes zu lernen, was besonders bei den Gruppentänzen von Vorteil ist.

Für Abenteurer aus Erainn bietet das Quellenbuch die Rasse der Elfenmenschen an, eine recht häufig vorkommende Personengruppe, die sowohl von Elfen bzw. Coraniaid und Menschen abstammen. Die neue Charakterklasse der Fionnacórach (Rechtfinderin), eine magiebegabte Ermittlerin, verfügt über Zauber, die sich an Heilerinnen anlehnen, ergänzt um etliche Informationszauber. Es handelt sich dabei um eine durch die Wichtigkeit der Gesetze und der Heilerinnen gut in die Kultur integrierte neue Klasse.

Der dritte große Abschnitt des Quellenbuches bietet vier Abenteuerskizzen von Karl-Georg und Patrick Müller und ein Abenteuer von Ulf Zander & Andreas Mätzing. In „Noch eine Diebesbande“ dürfen die Abenteurer Dieben hinterherjagen und auch bei „Sport ist Mord“ ist der Titel Programm. Beides sind kurze Szenarien, die geschickt in die Stadt Cuanscadan einführen. Letzteres ist zwar kurz gehalten, aber einmal mehr verbirgt sich mehr hinter den Fassaden als nur einfacher Mord. Die Abenteuerskizzen „Freiheit für Ceallach an’ailgin“ und „Der Kult der Blauen Auster“ beschäftigen sich mit den ansässigen Geheimgesellschaften. Alle vier Abenteuerskizzen kann man sofort in Szene setzen, ohne viel Arbeit investieren zu müssen. Gleiches gilt für das bereits in |Spielwelt| 37 veröffentlichte, komplett überarbeitete Abenteuer „Das Auge des Wüstengottes“. Anders als die Abenteuerskizzen handelt es sich hierbei nicht um ein Stadtabenteuer, sondern eher um ein kleines Dungeon, das nicht zu unterschätzende Gefahren für die Abenteurer bereithält.

Ein kleines erainnisches Wörterbuch rundet dieses Quellenbuch ab. In einer Kartentasche am Ende des Bandes wurden ein großformatiger, schwarzweißer Stadtplan Cuanscadans und eine Farbkarte des Fürstentums untergebracht.

„Cuanscadan“, das Tor zu Erainn, der Hafen der Heringe ist ein absolut hervorragendes Quellenbuch. Die Lebendigkeit der Bewohner, ihre Abgründe, ihre Besonderheiten und nicht zuletzt die mitgelieferten Abenteuer laden zu sofortigem Spiel ein. Die Beschreibung des Landes Erainn gibt einen zwar kurz gefassten, aber dennoch gelungenen Überblick dieses bisher leider vernachlässigten Landstrichs. Hoffentlich löst Cuanscadan in Zukunft Corrinis als populärste Stadt Midgards ab.

© _Hornack Lingess_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.X-Zine.de/ veröffentlicht.|

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