Partridge, Norman – dunkle Saat, Die

_Das geschieht:_

Irgendwo im Mittleren Westen der USA liegt eine kleine Stadt ohne Namen. Die Einwohner leben von den Erträgen der Maisfelder, die sich endlos außerhalb der Gemeindegrenze erstrecken. Unabhängig von den Widrigkeiten der Landwirtschaft sind die Ernten dauerhaft hoch. Das hat seinen Grund, der gleichzeitig das düstere Geheimnis der Bürgerschaft ist: Irgendwann wurde ein Pakt geschlossen. Der Preis für den Mais ist die Jagd auf den „October Boy“. In jedem Jahr wächst er aus dem Feldboden – ein Wesen aus Ranken mit einem Kürbis als Schädel. Sein Ziel ist die Kirche in der Mitte der Stadt. Sollte er sie je erreichen, ist die Gemeinde dem Untergang geweiht.

Doch die mächtige Schnittergilde sorgt dafür, dass es so weit nie kommt. Zu Halloween wird die Jagd auf den October Boy eröffnet. Alle männlichen Bewohner unter 18 Jahren müssen ihn in der Nacht jagen und umbringen. Wem dies gelingt, der darf die Stadt als reicher Mann verlassen.

Pete McCormick gehört in diesem Jahr 1963 zu den Jägern. Er will unbedingt gewinnen, denn er hat nichts zu verlieren. Jedes Mittel ist ihm recht und seine Intelligenz erstaunlich. Sie macht Pete zum ernsten Gegner für den October Boy, der voller Schrecken erwacht und alles andere als der Schrecken ist, als der er hingestellt wird. Der Boy kennt die grausame Wahrheit hinter dem Ritual, das keine Gewinner kennt. Er will die Wahrheit verkünden und den Teufelskreis durchbrechen, doch wer wird eine Kreatur aus dem Reich der Schatten anhören, zumal im Hintergrund die Schnittergilde dafür sorgen wird, dass der October Boy auf jeden Fall seinen Kürbiskopf verliert …

_Die Frage nach dem wahren Monster_

In einer großartig geschilderten Szene reinen Schreckens wird in einem toten Maisfeld der October Boy geboren – ein Monster wie aus dem Bilderbuch mit einem Körper aus verdrehten Pflanzenranken, gekleidet in die zerrissenen Gewänder einer Vogelscheuche und mit einem Kürbis als Kopf, in dem ein geisterhaftes Licht flackert: Das MUSS ein Monster sein, zumal es ein großes Messer bei sich trägt und seine Verfolger schlau und mit üblen Folgen in schmerzhafte Fallen lockt.

Kein Wunder, dass so ein Geschöpf gejagt und zur Strecke gebracht werden soll. Angenehme Schauder lenken erst einmal von Frage ab, was hinter dem Ritus steckt, der ja selbst für US-Landgemeinden ganz und gar nicht typisch ist. Warum gibt es den October Boy? Muss es ihn geben?

Allmählich wird dieses Rätsel größer, des Lesers Unbehagen steigt. Seine Sympathien schlagen um, als er erkennen muss, dass der October Boy selbst nur ein Opfer ist. Er wird in seine Rolle gepresst und will nichts sehnlicher als aus dem Albtraum zu erwachen, der sein ‚Leben‘ geworden ist.

Zu diesem Zeitpunkt hat uns Autor Partridge einen aus der Verfolgerhorde als Identifikationsfigur ans Herz gelegt. Pete McCormick steckt in seiner eigenen privaten Hölle, aus der ihn scheinbar nur der ‚Tod‘ des October Boy retten kann. Gerade der ist sein natürlicher Verbündeter – eine spannende Situation, da sich die beiden Kontrahenten selbstverständlich treffen werden.

_Es gibt Schlimmeres als böse Geister_

Die kleine Stadt ohne Namen ist ein verdammter Ort. Nach und nach schält sich heraus, in welche Abgründe der Verworfenheit sich seine Bewohner gewagt haben. Das wahre Grauen besteht indes in der Tatsache, dass sich keine übernatürliche Macht um die Einhaltung des Paktes kümmern muss. Außer dem October Boy spukt niemand umher.

Gibt es überhaupt jemanden, der Verstöße gegen den Ritus ahnden würde? Die Beantwortung dieser Frage verhindert entschlossen die Schnittergilde, deren Mitglieder sich zum Hüter des Zeremoniells und damit zu den eigentlichen Machthabern der Stadt aufgeschwungen haben. Sie schützen das System und damit ihre Privilegien nicht nur durch nackte Gewalt, sondern auch durch das Schüren der Furcht vor den Folgen, die ein Ende der „Jagd“ auf den October Boy nach sich ziehen könnte.

Die Folge ist ein Riss, der sich durch die Bevölkerung zieht: Da sind die Jugendlichen, die der Jagd und ihrer Belohnung entgegenfiebern, während ihre Eltern Bescheid wissen und still leiden. Niemand wagte bisher ernsthaft aufzubegehren. Erst die Jagd von 1963 bringt die Wende, weshalb Norman Patridge von ihr ‚berichtet‘.

_Der Ausbruch aus dem Teufelskreis_

Die Gründe dafür, wieso sich in diesem Jahr die Ereignisse überstürzen, lässt Partridge behutsam und überzeugend in die Handlung einfließen. 1963 ist das Maß voll. Sogar die Schnittergilde kann den Widerstand nicht mehr unterdrücken, der sich über die Jahre aufgestaut hat. Der October Boy ist intelligenter und willensstärker als seine Vorgänger. Pete McCormick hinterfragt die Routinen des Rituals. Mit Kelly Haines steht ihm eine weibliche Verbündete – so viel Klischee muss sein – entschlossen zur Seite.

„Die dunkle Saat“ spielt in der jüngeren Vergangenheit, weil diese Geschichte eine Abgeschiedenheit benötigt, die das 21. Jahrhundert dank Handy und Internet nicht mehr bieten kann. Die Isolation der verdammten Stadt trägt zur bedrohlichen Stimmung entscheidend bei. Sie ist nicht nur ein namenloser Punkt auf der Landkarte, sondern wirkt verloren in einem Dschungel aus Mais, der sie zusätzlich abschirmt.

Mais ist eine Pflanze, die sich hervorragend als ‚Requisit‘ für einen Horrorroman eignet. Sie wächst dem Menschen über den Kopf und bildet dichte und dunkle Felder, in denen sich Übles gut verstecken kann. Im Herbst, wenn die Tage ohnehin früh enden, steht der Mais trocken auf dem Feld, raschelt Unheil verkündend bei jedem Windstoß und erzeugt ein Unbehagen, dem sich niemand entziehen kann, der in der Nacht neben einem solchen Feld steht und lauscht.

Die Stadt ohne Namen ist auf Mais gegründet. In den USA war und ist für Farmer eine gute Maisernte die Existenzgrundlage für das kommende Jahr. Sie hoffen und bangen und sind womöglich sogar bereit, im Bund mit eindeutig unchristlichen Mächten diese Angst zu mildern … Wieder fügt Partridge diese Information geschickt dem Mosaik ein, das sich zur dramatischen Gesamtgeschichte formt.

_Verdiente Ehren für eine tolle Story_

Die ist für einen Roman ausgesprochen kurz. „Die dunkle Saat“ gehört indes zu den Werken, die genauso lang sind, wie sie sein sollen: Autor Partridge hat auf der 191. Seite seine Geschichte erzählt; nachdem er sie durchweg schlank gehalten und auf literarische Verzierungen und erzählerische Nebenstrecken verzichtet hat, mündet sie in ihr logisches und doch überraschendes Ende.

Im trüben Sud der aktuellen ‚Monster-als-love-interest‘-Gruselschmonzetten für kleine und klein gebliebene Mädchen ist „Die dunkle Saat“ ein echtes Highlight. Dass dies sogar hierzulande durch eine Veröffentlichung gewürdigt wird, liegt sicherlich auch an dem Ruf, den sich das Buch in kurzer Zeit erwerben konnte. Es wurde für mehrere Literaturpreise nominiert und konnte einen „Bram Stoker Award“ für den besten Roman des Jahres 2006 gewinnen. Den hat es zweifellos verdient – und Norman Patridge weitere Übersetzungen in diese unsere Sprache!

_Der Autor_

Norman Partridge wurde am 28. Mai 1958 in Vallejo, US-Staat Kalifornien, geboren. Er veröffentlicht seit Anfang der 1990er Jahre und begann mit Kurzgeschichten; die knapp, auf den Plot zentrierte Sprache hat er in seine Romane übertragen, die er seit 1994 vorlegt.

Partridge gehört in die Generation der (nicht mehr so) ‚jungen Wilden‘ um Joe R. Lansdale – der zu seinen engen Freunden gehört -, Ed Gorman oder Ed Bryant, die sich nicht in Schubladen pressen lassen. Er schreibt Phantastisches, Krimis und Abenteuergeschichten, wobei er unbekümmert die Genregrenzen ignoriert. Sein Roman „Wicked Prayer“, den er für die Mystery-Serie „The Crow“ verfasste, diente 2005 als Grundlage für das Drehbuch zum gleichnamigen Film.

Mit seiner Ehefrau lebt und arbeitet Norman Partridge in der San Francisco Bay Area. Über sein Werk informiert er auf seiner Website: http://www.normanpartridge.com.

_Impressum_

Originaltitel: Dark Harvest (Forest Hill/Maryland: Cemetery Dance Publications 2006)
Übersetzung: Bernhard Kleinschmidt
Deutsche Erstausgabe: September 2008 (Rowohlt Verlag/RoRoRo TB Nr. 24764)
191 Seiten
EUR 8,95
ISBN-13: 978-3-499-24764-4
http://www.rowohlt.de

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