Kit Pedler & Gerry Davis – Gehirnpest

Parkinson, das Dinosaurier-Syndrom?

Dr. Alexander Mawn, ein englischer Physiker und Mathematiker, beschäftigt sich mit dem Problem des sog. Mensch-Maschinen-Interface, des Zusammenarbeitens hochkomplizierter Maschinen mit den sie bedienenden Menschen, wie es bei Computer-Operateuren, Fluglotsen, Kernenergie-Technikern und ähnlichen Berufen der Fall ist. Er vertritt die Hypothese, daß diese Maschinen bereits zu hochgezüchtet sind, um von Menschen noch wirklich kontrolliert werden zu können.

Eine wachsende Zahl von Unfällen, deren Ursache auf „menschliches Versagen“ zurückzuführen ist, scheint ihm recht zu geben. Als er Anschuldigungen gegen die Industrie erhebt und sie bezichtigt, aus Gewinnsucht in unverantwortlicher Weise die Sicherheitsrisiken zu erhöhen, hat er sich unversöhnliche Feinde geschaffen, die ihn zum Schweigen bringen wollen. (Verlagsinfo)

Die Autoren

Kit Pedler: Autorenpseudonym des britischen Autors und Wissenschaftlers Magnus Howard Pedler (1927-1981). Er war ein Arzt, der drei Jahre lang praktizierte, doch danach forschte er über Augenerkrankungen, was ihm seinen zweiten Doktortitel einbrachte. Im Jahr 1970 konzipierte er zusammen mit Gerry Davis die TV-Serie „Doomwatch“, die immerhin 37 Episoden lang lief. Darin ging es um die futuristische Verhinderung und Beseitigung von menschengemachten Bedrohungen der Erde. Leider waren Pedlers wissenschaftliche Ideen überzeugender als die Methoden, mit denen er versuchte, sie in dramatische Form umzugießen. In den späteren Jahren setzte er sich für Ökologie ein und drehte entsprechende TV-Filme.

Gerry Davis, 1930-1991, britischer Autor, arbeitete meist fürs Fernsehen und kollaborierte mit Kit Pedler an drei Romanen. „Mutant 59: The Plastic eaters“ (!) war von der TV-Serie „Doomwatch“ der beiden Autoren abgeleitet; „Brainrack“ erschien 1974 und „The Dynostar Menace“ 1976 (letztere auch bei Heyne). Davis schrieb auch Jugendbücher: Romanfassungen der beliebten britischen Dr.-Who-SF-Serie.

Handlung

Seit Alexander Mawns Vater an einer Bleivergiftung gestorben ist, befasst er sich manisch mit Umweltproblemen und hat sich an einer Universität in Südengland sein eigenes Labor einrichten lassen. Hier untersucht er zusammen mit seiner Assistentin Nina Hart diverse Machenschaften der Industriekonzerne. Sein besonderes Augenmerk gitl dem Mischkonzern von Brian Gelder, der sowohl Computersysteme als auch Atomkraftwerke baut.

Als das neuartige ACE-Computer-Netzwerk in Betrieb genommen worden, schmuggelt sich Alex deshalb in eine Pressevorführung des Systems ein, die in dem Flugsicherungszentrum von Plymouth stattfindet. So wird er bestürzt Augenzeuge einer Beinahekatastrophe: ein vollbesetzter Jumbojet verfehlt wegen eines Fehlers des Fluglotsen um Haaresbreite einen Militärjet, der sich gerade auf einem Übungsflug befindet. Wie konnte das passieren? Vor laufender Kamera klagt er Brian Gelder des Fahrlässigkeit an – diese Systeme seien einfach nicht ausgereift und ihre Bediener überfordert.

Derartige Provokationen sind natürlich Wasser auf die Mühlen der Medien. Sowas sorgt für Publicity. Der TV-Reporter Sheldon Peters lässt Alex seine Thesen in seiner News-Shows wiederholen, und nun verbreitet Alex seine These vom Dinosaurier-Syndrom. Als die Saurier immer größer wurden (das tropische Klima erlaubte es ihnen), musste sie ein zweites Gehirn entwickeln, das ihre unteren Extremitäten steuern konnte – sondern hätten die Befehle, die ihr Spatzenhirn aussandte, viel zu lange gebraucht, um am anderen Ende anzukommen.

Auf ähnliche Weise war der Fluglotse überfordert, als er die Anweisungen des ACE-Computers in praktische Handgriffe und Tastendrücke umsetzen sollte. Die Mensch-Maschine-Schnittstelle ist offensichtlich ein Problem. „Aber vielleicht nicht das einzige“, sagt Sheldon Peters und stellt Alex Dr. Marcia Scott vor, eine Psychologin. Sie behauptet, einen Rückgang der Intelligenz bei ihren Testpersonen festgestellt zu haben, und zwar um nicht weniger als zehn Prozent. Das glaubt ihr Alex nicht, also will sie es ihm beweisen.

Unterdessen war jedoch auch Brian Gelder nicht untätig und hat einen Privatdetektiv engagiert, der Alex Mawns Forschungsunterlagen kopieren soll. Gerade als sich der Detektiv Zutritt verschafft und die Kopien mit einem Scanner angefertigt hat, betritt Nina Hart das Labor. Sie soll auf Alex‘ Geheiß die Leitungen zwischen Probenbehälter durch sicherere austauschen. Da entdeckt sie den Eindringling. Es kommt zu einem Handgemenge, das alle möglichen Dinge in gefährliche Bewegung versetzt. Ein Laser versengt das rechte Auge des Detektivs, der sich sofort aus dem Staub macht. Nina Hart hat nicht so viel „Glück“: Sie wird von Flammen umringt, die das Labor und sämtliche Unterlagen verschlingen…

Mein Eindruck

Ich dachte, ich hätte mit einem Virenthriller zu rechen, als ich das Buch aufschlug. Doch was ich bekam, war die Buchvorlage für den Öko-Thriller „Das China-Syndrom“, in dem einst Michael Douglas und Jack Lemmon auftraten. Der mit wissenschaftlichen Fakten untermauerte Roman – es wird ein Aufsatz aus dem Jahr 1968 erwähnt – kombiniert das Thema Gefahren durch Hochtechnologie mit der Suche nach den Ursachen für den Schwund an Intelligenz.

Dass es es einen Zusammenhang gibt, ist gar nicht so offensichtlich. Deshalb dauert bis zum letzten Drittel, bis dieser Knalleffekt enthüllt wird. Was die beiden Autoren behaupten, ist mittlerweile als gar nicht so abwegig von der Hand zu weisen und durchaus besorgniserregend. Wie jeder heute weiß, nehmen Fälle von Parkinson und Alzheimer sowie zahlreiche weitere Gehirnerkrankungen ständig zu. Es liegt weder am Wasser, am Kohlenmonoxid, noch am Lärm in den Städten, wo das im Buch postulierte Syndrom auftaucht: Es liegt an ganz gewöhnlichem Benzin.

Bei jeder Verbrennung von Benzin in Automotoren werden laut Autoren 180 chemische Verbindungen erzeugt (in den letzten 40 Jahren dürfte man viel mehr gefunden haben), die nicht bloß krebserzeugend sind. Ein bestimmter Stoff mit dem unaussprechlichen Namen Pentatan-Acetylenid kann dem Buch zufolge auch direkt die Fette des Gehirns angreifen, die jeder Mensch benötigt, damit seine grauen Zellen überhaupt arbeiten können. Das klingt doch sehr nach dem giftigen „Feinstaub“, der auf jeder Hauptverkehrsstraße tonnenweise erzeugt und in die Umluft geblasen wird. Der Feinstaub löst sich nicht auf, sondern lagert sich auf allen Oberflächen ab, und wenn sich die Luft erwärmt, steigen die feinen Partikel mit der Luft auf und erzeugen einen unsichtbaren Smog.

Genau dieses Szenario führt der Wissenschaftler Alex Mawn herbei, als er herauszufinden versucht, ob der verdächtige Stoff sich verflüchtigt, wenn man hergeht und sämtlichen Autoverkehr aus einer Stadt verbannt. Wie das ökologisch höchst willkommene und politisch höchst umstrittene Experiment ausgeht, darf hier nicht verraten werden. Aber es weist den Zusammenhang zwischen „Dino-Effekt“ und Stadtleben nach. Klingt zunächst etwas plemplem, aber reden wir nochmal in 20 Jahren darüber. Schon jetzt sind Innenstadtsperrungen für Autos nicht nur in der Debatte, sondern bereits politisch abgesegnet.

Der Super-GAU

Die Vorlage zu „Das China-Syndrom“ findet sich in der Mitte des Buches. Hier laufen die Autoren bei ihren Schilderungen zur Hochform auf: Als auf den Orkney-Inseln der zweite Leichtwasserreaktor von Gelder Enterprises in Betrieb genommen wird, lösen Fehlleistungen der verantwortlichen Techniker die Kernschmelze aus. Das ist der Super-GAU, wie er in Tsschernobyl passiert ist.

In packenden Szenen wissen die Autoren den Leser mit schreckenerregenden Schilderungen zu fesseln, die einem Kriegsgemälde von Goya in nichts nachstehen. Der Druckbehälter des Reaktors mit den Brennstäben fliegt ebenso in die Luft wie das komplette Kühlsystem – der GAU in Fukushima ist genau diesem Muster gefolgt. Die Menschen wirken klein und hilflos, als sie versuchen zu überleben. Sie zwängen sich in Schutzanzüge, die sie aus einer verstrahlten Umgebungen besorgen müssen, zwängen sich durch versiegelte Korridore, den jaulenden Geigerzähler in der Hand.

Ein Schneesturm macht die Flucht aus der verstrahlten Ruine schier unmöglich. Dann erreicht die radioaktive Schmelzmasse einen unterirdischen Stollen, der mit Wasser gefüllt ist. Die chemische Reaktion ist so gewaltig, dass sie einem Vulkanausbruch gleicht. Das sind apokalyptische Szenen. Aber Fukushima lässt an der Plausibilität des Verlaufs keine Zweifel mehr zu. Ich klebte förmlich an den Seiten, als ich das las, und habe den Roman an einem Nachmittag bewältigt.

Die Übersetzung

S. 43: Hier ist mal wieder die sprachliche Logik flöten gegangen. Erst heißt es: „Er ist erst knapp 40.“ Dann erfahren wir: „Er ist 43.“ Das ist ein Widerspruch. Offenbar fehlt ein Wörtchen: „Erst ist erst knapp [über] vierzig.“

S. 114: „Ich akzeptiere Ihre Vorbehalte – fünf Leute, ein Ort.“ Kurz zuvor waren es noch sechs Leute. Hier haben die Autoren wohl den Überblick verloren.

S. 120: „Krawatte in den Farben seiner Verbindung.“ Gemeint ist die Studentenverbindung oder die der Ehemaligen.

S. 136: „eine delikate Phase“: Eins-zu-eins-Übersetzung. Besser wäre es, „heikle Phase“ zu schreiben.

S. 170: „Dann gab sie eins (der Taschentücher) Naylor…“ Gemeint kann aber nur Gelder sein, der gleich Mawn auf eine gefährliche Expedition ins Reaktorinnere begleiten soll. Ein weiterer Hinweis auf schlampige Arbeit der Autoren.

S. 180: „Na ja, gefischt könnten wir’s uns schon haben.“ Gemeint ist Radioaktivität aus dem geborstenen Reaktor. Den Ausdruck „gefischt“ statt „erwischt“ oder „eingefangen“ verwendet man wohl nur im deutschen Norden.

S. 237: Hier ist wieder mal eine Regieanweisung zu lesen, die im Roman überflüssig erscheint: „die Augen des Assistenten trafen Mawns Blick, und er senkte die Augenlider.“ Es ist auch nicht sofort klar, was das zu bedeuten hat.

S. 259: „Ko[n]sequenzen“ – der einzige Druckfehler im ganzen Buch!

Unterm Strich

Ich habe dieses Buch, wie gesagt, an nur einem Nachmittag gelesen. Auf spannende Weise kombiniert der Roman zwei wichtige Themen, die heute aktueller denn je sind: die Risiken der Kernkraftwerke und die Einwirkung der Luftverschmutzung auf das menschliche Gehirn. Auf anschauliche Weise warnen die beiden Autoren durchaus kenntnisreich vor beiden Gefahren. Fukushima und Feinstaub – hier kommen sie zusammen.

Natürlich übertreiben die Autoren an mancher Stelle, um eine dramatische Wirkung zu erzielen. Die ersten hundert Seiten sind aber sehr sauber erzählt, und ich fühlte mich stellenweise an einen JAMES-BOND-Roman erinnert. Dann kommen die Dinge auf der Seite der Wissenschaft und der Politik besser in Schwung, bis in der Mitte der Super-GAU sich recht packend auswirkt, um den Leser bei der Stange zu halten.

Alternativen

Erst danach wird das Rätsel um die nachlassende Intelligenz gelöst. Am Schluss steht die Warnung: Entweder lässt man das Auto stehen oder die Kinder werden zu Idioten heranwachsen. Klarer kann man die Wahl wohl kaum formulieren. (Die Beobachtung, dass weder das eine noch das andere eingetreten ist, ist kein Anlass zur Freude. Schwachsinnige würden nicht erkennen, dass sie weniger intelligent sind als ihre Vorfahren und den IST-Zustand für die neue Normalität halten. Was sich daraus ergibt, hat man in Fukushima gesehen.)

Kandare für Forscher

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Buches soll nicht unerwähnt bleiben. Die wissenschaftliche Forschung wird eindeutig am Gängelband der Politik gehalten und ständig an die Leine gelegt, nicht zuletzt durch zensur und finanzielle Einschränkungen. Es wird auch ganz klar formuliert, dass etliche Wissenschaftler als „Wachhunde“ der Wirtschaft Zensurdienste leisten, indem sie wissenschaftliche Ansichten und Erkenntnisse, die ja allesamt in der Science-Gemeinde und ihren Publikationen diskutiert werden müssen, niedermachen.

Märchenprinzessin

So ergeht es Alex Mawn, als er in einer Talk Show mit von Gelder manipulierten Zahlen argumentiert und vom Schoßhund des Gelder-Konzerns auseinandergenommen wird. Wie raffiniert diese Intrige gesponnen ist, wird ihm erst wenig später klar. Doch er hat eine Märchenprinzessin an seiner Seite: Marcia, die amerikanische Psychologin, ist seine Freundin und Arbeitspartnerin geworden. Rein „zufällig“ hat sie einen reichen Daddy in Amiland, der mit einer bescheidenen Spende von läppischen 200.000 Pfund (das nehme man mal 40 und kommt ungefähr auf den heutigen Wert) Mawn quasi unabhängig von den kargen Brosamen der Londoner Ministerien macht. Siehe auch Bill & Melinda Gates und deren Stiftung für den Kampf gegen Malaria.

Trotz aller Unzulänglichkeiten, die auch die Übersetzung bietet (s.o.), ist „Gehirnpest“ entgegen der Erwartungen, die sein reißerischer Titel weckt, ein durchaus solider Wissenschaftsthriller. Und dass die Briten Katastrophen am besten schildern können, dürfte sich seit H. G. Wells‘ „Krieg der Welten“ (1898) herumgesprochen haben.

Taschenbuch: 240 Seiten
Originaltitel: Brainrack, 1974
Aus dem Englischen von Ilse Pauli.
ISBN-13: 9783453303690

www.heyne.de

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