Russell, Sean – Sturmvogel (Das verlorene Königreich 3)

Band 1: [„Nachtvogel“ 2673
Band 2: [„Goldvogel“ 2678

Wider erwarten ist es am Ende des zweiten Bandes sämtlichen Protagonisten gelungen, die stillen Wasser zu verlassen. Leider auch Eremon. Ja sogar Beldor ist entkommen, wenn auch auf ungewöhnliche Weise: Der Schatten, der ihn aus der Gruppe der Kämpfenden herausgerissen hat, hat ihn zur Pforte des Todes gebracht, wo ihm der Tod höchstpersönlich sein Leben gegen einen Dienst anbietet: Er soll ein Päckchen zu Eremon bringen. Beldor hat solche Angst vor dem, was ihn hinter der Pforte erwartet, dass er gehorcht. Kaum hat Eremon das Päckchen erhalten, lässt er Kilydd entführen, damit dieser ihm den Weg zur Insel des Wartens und zum Mondspiegel weist, einem geheimen Ort, an dem der Körper Wyrrs ruht. Zusammen mit Beldor, Kilydd und einigen seiner Leibwächter macht Eremon sich auf den Weg, und auch Carls Vater nimmt er mit. Niemand weiß, was genau Eremon vorhat, doch A’denné weiß, dass seine Chancen auf Überleben gering sind. Aber sinnlos sterben will er nicht …

Alaan, die Seetaler und Cynndl haben das Lager der Fáel erreicht, wo sie bereits erwartet wurden, denn Llya, Ebers kleiner Sohn, wusste vom Fluss, dass sie dorthin unterwegs waren. Die Fáel sind höchst beunruhigt, nicht nur durch die seltsamen Fähigkeiten des kleinen Jungen, sondern vor allem auch von einem Bild, das eine ihrer Gesichtestickerinnen hergestellt hat. Es zeigt einen Seelenfresser! Alaan ist entsetzt, denn dass die hellsichtige Frau dieses Bild gestickt hat, kann nur bedeuten, dass Eremon vorhat, ein solches Geschöpf zu erschaffen. Das muss unbedingt verhindert werden! Noch am selben Abend machen sich die Gefährten auf ins verborgene Land, um Eremon abzufangen …

Elise Willt und Gilbert A’brgail sind im Norden wieder aufgetaucht, in der Nähe der Heimat der Fáel! Zunächst werden sie gefangen genommen, und Elise droht die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen. Erst als die Fáel sicher sind, dass Sianon nicht die Oberhand über den gemeinsamen Körper gewinnen wird, lassen sie die beiden laufen. Auch sie erfahren von der Bedrohung durch den Seelenfresser. Doch Alaan ist bereits fort und Kilydd entführt. Da erklärt zu aller Erstaunen der kleine Llya, er werde sie zur Insel des Wartens führen. Auch diese Gruppe bricht sofort auf.

Carl A’denné musste auf seiner Flucht feststellen, dass Herzog Vast, ein Verbündeter der Rennés, ein Verräter ist! Mit Mühe hat er es von der Schlachteninsel bis zum Schloss an der Westrych geschafft. Nun soll er zusammen mit Jamm und Samul Renné, dem eigentlich das Schaffott droht, Michael, den Prinzen von Innes, zu seinen Soldaten zurückbringen. Michaels Vater ist von Eremon ermordet worden, und nach Eremons Abreise zur Insel des Wartens hat Menwyn Willt sich das Kommando über die gesamten Truppen unter den Nagel gerissen. Michael will sein Heer zurück und sich mit den Rennés verbünden, allerdings weniger gegen Menwyn als gegen Eremon! Schon bald sind die Vier wieder auf heimlichen Schleichwegen zwischen Scharen von Suchtrupps unterwegs.

_Showdown_

Das Pozedere ist vom zweiten Band bereits bekannt: Sämtliche Gefährten brechen in neuer Zusammenstellung zum wiederholten Male auf, um Eremon das Handwerk zu legen, beziehungsweise um auf irgendeine Weise Krieg zu führen. Der Handlungsstränge sind es diesmal nicht ganz so viele, dennoch ist die Übersicht noch schlechter als im zweiten Band! Das liegt daran, dass der Erzähler innerhalb der verschiedenen Fäden aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt; im Falle der Gruppe um Eremon heißt das, es wird mal aus Beldors, mal aus A’dennés, mal aus Kilydds Sicht berichtet. Dasselbe gilt für die anderen Gruppen. Carl und Jamm werden kurzzeitig von Samul und Michael getrennt, erhalten aber gleichzeitig Zuwachs, sodass sich auch hier die Perspektive oft ändert. Inzwischen wechselt die Handlung auch innerhalb von Kapiteln von einem Strang zum andern! Das machte die Lektüre schon fast mühselig. Erst als die Erzählung sich auf die Ereignisse am Mondspiegel konzentriert, wo drei der verschiedenen Gruppen zusammentreffen, um sich – natürlich! – neu zu formieren, wird das besser. Danach lösen sich die Verwicklungen der Geschehnisse, die mit der verborgenen Welt und den Sagen aus der Vergangenheit zu tun haben, relativ rasch auf, und der Rest des Buches konzentriert sich auf den Showdown in der menschlichen Welt.

Auch diesmal passiert zunächst nicht wirklich viel. Das Buch füllt seine Seiten schlicht durch die Masse der parallel verlaufenden Fäden, die für sich betrachtet erstaunlich knapp wirken. Eremon befährt den Fluss, gefolgt von Sianon, die er mit Feuer aufzuhalten versucht, was ihm natürlich nicht gelingt. Alaan ist zu Pferd unterwegs und muss sich gegen Wesen aus dem Schattenreich zur Wehr setzen. Und Michael und sein Gefolge sind damit beschäftigt, wie zuvor schon Carl, durch Hecken und Wiesen zu kriechen, nur um am Ende verraten zu werden. Im Grunde also nichts wirklich Neues im Vergleich zu den Vorgängerbänden: eine Reise mit Hindernissen, die den Spannungsbogen aufrecht halten. Das gelingt im Großen und Ganzen auch, wirklich spannend wird es aber erst am Mondspiegel und dann noch einmal in der Schlacht zwischen Eremon, Alaan und Elise.

Der Tod, den Russell gegen Ende des zweiten Bandes als neues Element einbaute, hat die Seite der Sagenwelt noch einmal ein Stück erweitert. Die Auflösung dieser Bedrohung erfolgt allerdings erstaunlich unspektakulär und überzeugt weniger durch ihre Wucht als durch ihre Findigkeit. Vielleicht hätte ich den Kniff schon früher geahnt, wäre ich nicht so damit beschäftigt gewesen, die vielen Personen und die dazu gehörige Entwicklung der Ereignisse auseinander zu halten. Vielleicht war das ja Russells Absicht.

Die Erschaffung des Seelenfressers gehört zu den unappetitlicheren Szenen des Buches, und auch die Schilderung der Schlacht gegen Eremon war weit unangenehmer geschildert als der Kampf um die Schlachteninsel im zweiten Band. Für das Finale seiner Geschichte hat der Autor noch einmal schweres Geschütz aufgefahren. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob Details wie schreiende Totgeburten oder Scharen brennender Soldaten und Pferde die Sache wirklich spannender machen! Wie auch immer, offenbar ist die moderne Fantasy nicht ganz willens oder in der Lage, ohne solche Szenen auszukommen.

Auch vor kleinen Pannen ist dieser Zyklus nicht gefeit. So passiert es im Laufe der Geschichte, dass Theason, der sonst immer nur in der dritten Person von sich spricht, auf einmal „ich“ sagt. Außerdem habe ich den Verdacht, dass dem Verlag in der Beschreibung von Elises Kampf mit Eremon eine Panne mit der Kursivschrift passiert ist. Sianons Erinnerungen sind erst kursiv, dann normal, dann wieder kursiv gedruckt.

_Unterm Strich_

Insgesamt kann man sagen, dass Russell nicht unbedingt die Fantasy neu erfunden hat. Vieles, was in seinen Schilderungen auftaucht – die Verbindung zwischen den Nagar und den Elementen, das verborgene Land und seine geheimen Wege, die Machtgier von Menschen und Zauberern – hat man schon bei anderer Gelegenheit mal gelesen. Auch ein Großteil der Personen – Toren Renné, Menwyn Willt, Fürst Innes oder Beldor – entstammt dem üblichen Vorrat an Charakteren: Helden, Machtmenschen, sture Narren oder fanatische Neidhammel. Die Welt der Menschen, die Russell entwirft, besteht vor allem aus Hass und Verrat.

Weit interessanter waren die Personen, die mit dem verborgenen Land in Kontakt standen. Rabal Krähenherz, Orlem Leichthand, Kilydd und Theason, sowie Eber und sein kleiner Sohn waren diejenigen, die dem Buch seinen Zauber verliehen, zusammen mit den Sagen aus der alten Zeit und den wunderlichen Orten, die im verborgenen Land existieren, wie der sprechende Felsen, die Insel des Wartens und der steinerne Wald. Hier zeigen sich die eigenen Ideen des Autors, und sie können sich durchaus sehen lassen.

Was das Buch ausmacht, ist die Mischung aus beidem. Russell hat mit dem verlorenen Königreich eine spannende, aufwändige Trilogie mit vielen Wendungen, Wirren und Geheimnissen geschrieben. Wer sich also an komplizierten Handlungsverläufen, einer großen Anzahl an handelnden Personen und ständig wechselnden Gruppenzusammensetzungen nicht stört, der liegt hier nicht falsch. Einen einzelnen Band der Trilogie zu lesen, womöglich noch außerhalb der Reihenfolge, macht allerdings keinen Sinn, da alle drei Teile voll aufeinander aufbauen und die ersten beiden Bände am Ende völlig offen sind! Wer sich auf diese Trilogie einlässt, muss sie vom Anfang bis zum Ende durchstehen, oder er wird nicht viel davon haben.

Sean Russell lebt in Vancouver. Er hatte bereits als Kind eine Vorliebe für phantastische Erzählungen und begann schließlich selbst zu schreiben. 1991 erschien sein erstes Buch. Aus seiner Feder stammen „Das Reich unter den Hügeln“ und „Der Seelenkompass“, „Welt ohne Ende“ und „Meer ohne Ufer“ sowie die Barbaren-Trilogie. Nicht alle dieser Bücher sind auf Deutsch erhältlich.

http://www.sfsite.com/seanrussell

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