Gentle, Mary – 1610: Söhne der Zeit

Band 1: [„Der letzte Alchimist“ 2360
Band 2: [„Kinder des Hermes“ 2662

Mary Gentle (* 1956, Sussex), so könnte man meinen, sollte aufgrund ihrer Master-Abschlüsse in Kriegsgeschichte und Geschichte des 17. Jahrhunderts vermutlich Romane des Genres schreiben, das man gemeinhin als „historischer Roman“ bezeichnet.

Doch sie hat einen sehr eigenwilligen Stil und verbindet historischen Roman mit Science-Fiction-Elementen zu ihrer sehr eigenen Art von Phantastik; sehr oft verwendet sie einen Ich-Erzähler oder rekonstruiert die Handlung aus den Memoiren ihrer Hauptperson. Eine ungewöhnliche Mischung, die jedoch ankommt: Ihre [Legende von Ash, 303 einer Söldnerführerin, die im späten 15. Jahrhundert Burgund und Westeuropa vor einer karthagischen Invasion verteidigt, die in keinem Geschichtsbuch zu finden ist, wurde mit dem |British Science Fiction Award| sowie dem |Sidewise Award for Alternate History| ausgezeichnet.

„1610: Die Söhne der Zeit“ ist der dritte und abschließende Teil der (erstklassigen) Übersetzung von „1610: A Sundial in a Grave“, für die wie bereits bei „Ash“ Rainer Schumacher verantwortlich zeichnet. Gentle erzählt die Geschichte einer Figur, die literarisch stets als Antagonist der drei Musketiere aufgetreten ist: Valentin Rochefort. In seinen Memoiren lässt sie den amüsanten und teilweise gar selbstkritischen Rochefort aus dem Nähkästchen eines als Spion und Attentäter bekannten Haudegens über die Ereignisse des Jahres 1610 berichten.

Rochefort fällt in „1610: Der letzte Alchemist“ in Ungnade; er soll im Auftrag der Königin, Maria von Medici, ihren König und Gemahl Heinrich töten. Sie erpresst ihn mit dem Leben seiner Vertrauten Maignan und Santon und zwingt ihn somit, gegen die Interessen seines Herrn, dem Duc de Sully, einen Freund Heinrichs, zu handeln. Rocheforts Plan, das Attentat so stümperhaft durchzuführen, dass es scheitern muss, schlägt fehl: Wider Erwarten gelingt es dem unfähigen François de Ravaillac, Heinrich zu ermorden.

Rochefort muss aus Frankreich fliehen, gesucht wegen Beteiligung am Königsmord – zusätzlich gejagt von den Agenten Maria von Medicis wegen Mitwisserschaft. Er muss das Land verlassen und wird von dem jungen Duellanten Dariole begleitet, zu dem er eine seltsame Hassliebe hegt. Auf der Flucht nach England retten sie an der Küste Frankreichs den schiffbrüchigen japanischen Samurai Saburo, der dem englischen König James ein Geschenk überbringen soll.

In England angekommen, entpuppt sich Dariole zu Rocheforts Überraschung als eine junge Dame, was ihn in gewisser Hinsicht erleichtert, aber sein Gefühlsleben gehörig durcheinander bringt. Die Drei geraten unter den Einfluss des Mathematikers und Astrologen Robert Fludd. Fludd kann die Zukunft berechnen und vorhersagen, und was er sieht, gefällt ihm nicht. Rochefort versucht, sich ihm zu entziehen, doch Fludd kennt alle seine Winkelzüge bereits im Voraus. Er wird von Fludd erpresst, die Zukunft nach seinen Vorstellungen zu verändern: Er soll König James ermorden; nach Fludds Berechnungen kann nur Rochefort das Attentat erfolgreich ausführen und die Zukunft in die gewünschte Richtung lenken. Doch nicht nur er beherrscht diese häretische Kunst. Die Karmeliterin Schwester Caterina warnt Rochefort: Sollte er James ermorden, wird Dariole ebenfalls sterben …

In „1610: Die Kinder des Hermes“ gelingt es Rochefort dank Caterinas Ratschlägen, König James in seine geplante Ermordung einzuweihen und das Komplott Fludds zu vereiteln. Leider kann er nicht die Vergewaltigung und Entführung Darioles durch Handlanger Fludds verhindern, aber entgegen Fludds Berechnungen nimmt sich diese nicht das Leben und treibt damit auch nicht Rochefort zu unüberlegten Handlungen.

Zwar gelingt es Rochefort, Fludd in eine Falle zu locken, aber Caterina wird getötet und Dariole kann ihm die Vergewaltigung nicht verzeihen und fordert seinen Tod. Rochefort ist jetzt weniger Handelnder als Getriebener, denn König James und andere Machthaber wollen Fludd – als lebendigen Propheten und somit als ein Machtmittel ohne Gleichen.

Das Verhältnis zwischen Rochefort und Dariole leidet darunter. Eine unerwartete Wendung zwingt Rochefort zur Seereise nach Japan: Saburo ist mit Fludd geflüchtet – und die tollkühne Dariole hat sich sofort an die Verfolgung gemacht!

Hier setzt die Handlung von „1610: Söhne der Zeit“ ein. Rochefort gelingt es, Dariole einzuholen und Saburo und Fludd in Japan zu stellen. Doch Fludd ist kein Gefangener; Saburo weiß Dinge über eine 500 Jahre ferne Zukunft, die es unerlässlich machen, sich seiner zu bedienen – nicht nur im Interesse Japans. Aus diesen Überlegungen wird eine bekannte Geheimorganisation hervorgehen …

Mary Gentle überrascht den Leser bereits zu Beginn dieses dritten Teils gleich zweimal: Wer eine detaillierte Schilderung Japans im 17. Jahrhundert erhofft, was man erwarten könnte, wird überrumpelt werden. Denn Mary Gentle lässt Saburo mit Rochefort über die Zukunft reden. Vor ihrem Tod hat Caterina ihm von der glorreichen Zukunft Japans, aber auch von seinem Niedergang berichtet. Ein grausamer „Feuerregen“, der die japanischen Inseln verwüsten wird, droht in knapp 400 Jahren. Die offensichtlich damit beschriebenen Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki sowie der Zweite Weltkrieg werden auch durch Fludds Berechnungen bestätigt, die hinsichtlich zukünftiger Verwendung nuklearer Waffen für die Zukunft gar noch Schlimmeres voraussehen.

Dass Rochefort zu den Mitbegründern einer der bekanntesten Geheimorganisationen des 17. Jahrhunderts wird, mag überraschen, dramaturgisch wird es jedoch genauso wenig ausgeführt, wie die Schiffsreise nach Japan nötig ist. Hier wird nicht viel Konkretes beschrieben; die entscheidenden Aussagen werden wieder einmal bereits zu Beginn des Buches gemacht, was wegen der Dreiteilung der deutschen Übersetzung leider besonders antiklimatisch und negativ auffällt. Stattdessen wird die Beziehung zwischen Dariole und Rochefort erneut thematisiert. Leider ist Mary Gentle keine Romantikerin, und der Reiz dieser ungewöhnlichen Beziehung blieb bereits im zweiten Band auf der Strecke. Allerdings können Rochefort und der wieder aus der Versenkung aufgetauchte Robert Fludd diesmal wieder punkten. Rochefort ist nach wie vor ein unterhaltsamer Erzähler, auch Darioles Schlussmonolog ist humorvoll und amüsant; so bringt sie ihren Beichtvater mit einigen Jugenderinnerungen an Rochefort arg in Verlegenheit.

Die plötzliche Wende hin zur Gründung einer Geheimorganisation mit Wissen um die Zukunft erfolgt recht früh, ohne dass darauf Näheres zum Thema folgen würde. Auch wenn Gentle Rochefort und Dariole zu einer Art Happy-End verhilft – diese seltsame Liebesgeschichte allein sowie Darioles persönliche Fehde mit Fludd können dies nicht wettmachen.

Vorzüglich ist Mary Gentle aber die Hommage an den meist als Antagonisten der Musketiere dargestellten Rochefort gelungen. Der alte Haudegen ist wesentlich amüsanter und unterhaltsamer als bisherige Helden Gentles und verleiht dem Roman Schwung und Elan. Gewisse Ähnlichkeiten zu der „Legende von Ash“ lassen sich nicht verleugnen, phantastische und Science-Fiction-Einflüsse treten hier allerdings weniger stark hervor, dafür wurde mehr Wert auf Charaktere und ihre Interaktion gelegt, was der Geschichte gut getan hat. „1610“ liest sich wesentlich einfacher und unterhaltsamer als Mary Gentles bisheriges Meisterwerk, der Aufbau der Geschichte ist leider nicht so gut gelungen. Ist der erste Teil noch spannend und eine hervorragende Einleitung, leiden sowohl der zweite als auch dieser dritte und abschließende Teil unter den an den Anfang gestellten unerwarteten entscheidenden Wendungen, die zwar überraschen aber auch spannungszerstörend wirken. Wenn man klassische Spannungsbögen so bewusst dekonstruiert, sollte man alternativ etwas Besseres als Ersatz anbieten. Selbst Rocheforts geistreiche und unterhaltsame Erzählweise sowie die Beziehung zwischen ihm und Dariole können das jedoch nicht völlig kompensieren.

Trotz dieser Schönheitsfehler kann man „1610“ aufgrund des überzeugenden Rochefort historisch interessierten Lesern mit Liebe zu ungewöhnlicher Phantastik nur empfehlen.

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