Schami, Rafik – dunkle Seite der Liebe, Die

_Inhalt_

Damaskus, 1969: Über dem Tor der Pauluskapelle wird in dem Korb, in dem ein Märtyrer einst sein Leben aushauchte, ein Toter gefunden. Allerdings handelt es sich nicht um einen Christen, sondern um einen muslimischen Offizier. Kommissar Barudi steht vor einem Rätsel, das ihn reizt, in das er sich aber nicht verbeißen darf: Er wird von höherer Stelle aus zurückgepfiffen. Heimlich ermittelt er weiter und kommt dahinter, dass der Tote in Verbindung mit einer Familienfehde stand, die seit Generationen zwischen den Muschtaks und den Schahins tobt: 1907 nimmt eine blutige, traurige, unversöhnliche Geschichte ihren Anfang mit einer Liebe, die nicht sein darf, sich aber nicht darum schert und trotzdem blüht.

Der Beginn ist märchenhaft, doch der Preis ist hoch, denn wer von Hass und Rachegelüsten zerfressen ist, lebt selten glücklich bis an sein Lebensende. Auch die nächsten Generationen können sich aus den Banden der Feindschaft nicht lösen; sie saugen den Hass auf die andere Partei mit der Muttermilch auf, können gar nicht anders, als ihn als Naturgesetz zu betrachten. 1953 aber, als Farid Muschtak und Rana Schahin aufeinandertreffen, steht die Welt still in ihrem Lauf, hebt die Naturgesetze aus den Angeln und verwandelt für diese beiden Hass in Liebe.

Liebe allerdings hat es schwer in diesen Zeiten der Wut und der Rache, wo die innerfamiliäre Art der Auseinandersetzung mit Renegaten die politische des ganzen Landes widerspiegelt: Mit äußerster Gewalt wird durchgesetzt, was gerade Regel ist. Und Farid macht alles noch komplizierter, indem er zum Kommunisten wird: Er verrät nicht nur seine Familie, sondern obendrein die Regierung. Und während er für seine Überzeugungen in verschiedenen Gefängnissen unter der Folter zu leiden hat, ereilt Rana die Vergeltung des Clans – sie wird nicht wie ihre geliebte Tante erschossen, aber es wird ihr unmissverständlich klargemacht, dass Abweichler nicht geduldet werden. Was die Schahins jedoch nicht wissen, ist, dass es für Rana so lange Hoffnung gibt, wie sie und Farid am Leben sind. Irgendwann wird die Welt wieder innehalten und die Naturgesetze für sie ändern, denn Liebe ist größer als Hass. Der Tote von der Pauluskapelle ist ein Dominostein, einer der letzten in einer langen Reihe, die unausweichlich fallen mussten. Doch selbst Dominosteine können zu Stolpersteinen werden …

_Kritik_

Die lange Sage der beiden verfeindeten Familien bietet ein Gerüst für unendlich viele kleine Geschichten und Anekdoten, die ein facettenreiches, kunterbuntes Bild Syriens und speziell Damaskus‘ zeigen. Das Rot in all dem Kunterbunt ist leider meistens Blut, und so feinsinnig, amüsant und sanft manche der Geschichten sein mögen, so derb, brutal und abartig sind andere. Aber das ist gut so, es ist die Mischung, die die Faszination ausmacht, und wenn man gerade ganz nah an eine der Geschichten herangetreten ist, so trifft die nächste umso unmittelbarer, während man bar jeglicher geistiger Deckung ist.

Schami bietet Geschichten – nun, nicht für tausendundeine Nacht, aber doch immerhin für einige Nächte hintereinander, selbst, wenn man das Buch gar nicht weglegen mag. Er betört mit einem Stil, der die schrecklichsten Dinge wunderschön verpackt und liebevoll präsentiert, so dass man ihm danken möchte, während er eigentlich die Geißel in der Hand hält.

„Die dunkle Seite der Liebe“ ist Poesie in Prosa, wenn man so will: Es nimmt den Leser nach wenigen Seiten an der Hand und führt ihn weit, weit fort, stellt ihn neuen Freunden vor und zeigt ihm das hässliche Antlitz der Feinde. Man ist so nahe an den Figuren, dass man mit ihnen interagieren möchte, und das ist es einfach, was einen guten Erzähler ausmacht. Rafik Schami erzählt zauberhaft, knüpft aus tausenden unterschiedlicher Fäden von zart bis hart einen Teppich, auf dem die Gedanken fliegen lernen.

_Fazit_

„Die dunkle Seite der Liebe“ ist einer der ganz großen Romane der letzten Jahre. Dass der Autor vom ersten kläglichen Versuch als Jungspund bis zur Veröffentlichung 39 Jahre lang daran gefeilt hat, hat sich gelohnt. Zu Recht gibt es bisher so viele gute Kritiken, doch wurden auch andere Stimmen laut: Zu lang sei der Roman, zu unverständlich, man hätte locker fünfhundert Seiten rauskürzen können. Das ist, mit Verlaub, Schwachsinn. Wem tausend Seiten zu viel sind, der möge etwas anderes lesen. Wer hier mal eben fünfhundert Seiten fortkürzte, der beschnitte dieses Werk herab zu einem normalen Krimi bzw. einer normalen Familiengeschichte und zerbräche dieses unglaubliche Füllhorn an Bildern, Eindrücken und Anekdoten, und schon wäre die Welt wieder ein wenig ärmer. „Die dunkle Seite der Liebe“ ist wundervoll, so wie es ist.

|Taschenbuch: 1040 Seiten
ISBN-13: 9783423135207|
[www.dtv.de]http://www.dtv.de
[www.rafik-schami.de]http://www.rafik-schami.de

_Rafik Schami bei |Buchwurm.info|:_
[„Die dunkle Seite der Liebe“ (Lesung)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=2102
[„Märchen aus Lalula“ (Lesung)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=2868

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