Smith, Tom Rob – Kind 44

Gerade in einem so überstrapazierten Genre wie der Kriminalliteratur stechen Autoren hervor, die mit einem ungewöhnlichen Handlungsort oder der Verlagerung des Plots in eine literarisch eher weniger beachtete Epoche einen zusätzlichen Anreiz zur Lektüre schaffen. Zu diesen Autoren gesellt sich auch der Brite Tom Rob Smith mit seinem Erstlingswerk „Kind 44“.

„Kind 44“ spielt im Russland der Stalin- bzw. Nach-Stalin-Zeit. 1953 wird in Moskau auf den Bahngleisen die grausam zugerichtete Leiche eines kleinen Jungen gefunden. Doch in der Sowjetunion der damaligen Zeit gibt es offiziell keine Verbrechen, denn die würden schließlich belegen, dass das idealisierte Gesellschaftsbild des Kommunismus doch nicht so perfekt ist, wie alle glauben sollen. Warum sollte ein Mensch einen anderen töten, wo es doch allen prächtig geht und alle gleichwertig sind?

Der Mord wird also kurzerhand zum Unfall erklärt. Das Opfer war der Sohn eines MGB-Kollegen von Leo Demidow, dem nun die Aufgabe zufällt, der Familie klarzumachen, dass ihr Sohn beim einem tragischen Unfall starb und sie ihre Mordanschuldigungen dringend fallenlassen sollten, wenn ihnen Leib und Leben wichtig sind. Für den Geheimdienstoffizier Leo Demidow ist diese Angelegenheit eine eher lästige Unterbrechung seiner Jagd nach einem flüchtigen Verräter.

Doch im Laufe der Jagd nach dem flüchtigen Verräter gerät auch Leo plötzlich ins Fadenkreuz seiner MGB-Kollegen, und so wird ihm die unangenehme Aufgabe aufgedrückt, seine eigene Ehefrau zu denunzieren. Leo steckt in der Zwickmühle, steht aber zu seiner Frau Raisa und bekommt postwendend die Quittung: Versetzung und Degradierung.

Fortan hockt Leo also in der Provinz als kleiner Milizposten, und als dort eine ähnlich zugerichtete Leiche gefunden wird wie seinerzeit in Moskau, beschleichen Leo Zweifel an der Unfalltheorie, an die er früher noch so gerne geglaubt hat. Auf eigene Faust fängt er an zu ermitteln und bringt damit nicht nur sich selbst, sondern auch seine Frau in höchste Gefahr …

„Kind 44“ ist ein Krimi, der über die Grenzen des Genres hinausgeht. Nicht der eigentliche Krimiplot macht dabei den Reiz aus, sondern das Drumherum. Tom Rob Smith liefert mit „Kind 44“ eben keinen reinen Krimi ab, sondern darüber hinaus eine Bestandsaufnahme Russlands zur Zeit Stalins und kurz nach dessen Tod.

Anhand der Figur des Leo Demidow lässt Smith den Leser auf beide Seiten des Systems blicken. Anfangs ist Leo noch der systemtreue MGB-Offizier, der seine Pflichten nicht hinterfragt und stets in dem guten Glauben handelt, das Richtige zu tun. Als er aber durch den zweiten Leichenfund an seinem neuen Arbeitsplatz in Wualsk zu dem Schluss kommen muss, dass er (und nicht nur er, sondern auch das MGB; |Ministerstvo Gosudarstvennoi Bezopasnosti|, Ministerium für Staatssicherheit 1946 – 1953) sich geirrt hat und schon der Todesfall des Sohns seines Kollegen ein Mord war, ist Leo gezwungen, sich gegen das System zu wenden.

Mordermittlungen sind nicht zugelassen, denn Morde gibt es im Kommunismus natürlich nicht. Dementsprechend kann Leo nur heimlich ermitteln, und das bedeutet für ihn und seine Frau Raisa, dass er sich auf ein äußerst gefährliches Unternehmen einlassen muss. Vor diesem Hintergrund entfaltet auch der Krimiplot eine großartige Spannung. Leo kann jederzeit auffliegen, und dann hätte nicht nur der Mörder gewonnen, sondern Leo wäre bestenfalls in den [GULag]http://de.wikipedia.org/wiki/GULag gewandert oder schlimmstenfalls direkt hingerichtet worden.

Der geschichtliche Hintergrund spielt somit eine tragende Rolle im Krimiplot. Smith verdeutlicht sehr plastisch, wie sich die Menschen damals in Russland gefühlt haben dürften. Ein falsches Wort oder eine falsche Geste konnte die Anklage als Verräter bedeuten, und die Mühlen der Justiz waren damals absolut gnadenlos. Was die Menschen durchmachten – Kriege, Säuberungen, Hunger -, ist für sich genommen schon unvorstellbar. Die Angst, als Vaterlandsverräter denunziert und angeklagt zu werden, selbst ohne sich irgendeiner derartigen Tat schuldig gemacht zu haben, muss stets präsent gewesen sein. In einem Staat, den die Wahrheit nicht interessiert, muss jeder um Position und Leben bangen. Smith beschwört dieses Klima der ständigen Angst und des Misstrauens mit seinem Roman sehr greifbar herauf.

Mit Leo Demidow hat er eine sehr ambivalente Hauptfigur geschaffen, die einerseits dem System treu folgt, aber im Laufe der Geschichte ihre Meinung ändert und gegen alle Widerstände an ihren heimlichen Ermittlungen festhält. Obwohl Leo anfangs noch alles andere als ein Engel ist und sich auch im Verhältnis zu seiner Frau Raisa noch so manches Detail offenbart, das Leo in ein ungünstiges Licht rückt, hat er die Sympathien des Lesers schnell auf seiner Seite. Er ist der Held der Geschichte, aber eben ein Held mit einer dunklen Seite, und das verleiht ihm Glaubwürdigkeit.

Smith bedient sich einer klaren und präzisen Sprache und strickt einen gut inszenierten Plot, der von Anfang bis Ende einem klaren, stetig aufwärts strebenden Spannungsbogen folgt. Obwohl der Plot nicht immer ganz gradlinig verläuft und zwischen dem ersten und zweiten Leichenfund viel Zeit verstreicht, bleibt die Geschichte durchweg spannend. Smith schlägt eben zwischendurch etwas persönlichere Bahnen ein, beleuchtet Leo und Raisa näher und baut dabei seine Figurenskizzierung aus.

Für die Hörbuchfassung hat man Schauspieler Bernd Michael Lade verpflichtet, der als Vorleser leider nicht die beste Figur abgibt. Zwar hat er eine angenehme, warme Stimme, liest aber mitunter etwas abgehackt und holt an unpassenden Stellen Luft, als würde ihm manchmal mitten im Satz die Puste ausgehen. Hier und da meine ich so etwas wie ein unterdrücktes Gähnen herausgehört zu haben, und noch nie habe ich in einem Hörbuch so bewusst das Umblättern der Seiten heraushören können. Mit einem anderen Erzähler hätte man also sicherlich noch einiges mehr aus der Geschichte herausholen können.

Bleibt unterm Strich aber dennoch ein positiver Eindruck zurück. Zwar hat das Hörbuch wegen der im Vergleich zu anderen Produktionen eher schwachen Sprecherleistung abgesehen von der Tatsache, dass man nicht selber lesen muss, keinen nennenswerten Vorteil gegenüber der Buchfassung, ist schon allein der Geschichte wegen überaus empfehlenswert. „Kind 44“ ist durchweg spannend erzählt und garniert den Plot mit einer interessanten zeitgeschichtlichen Komponente. Darum sei zum Kauf unbedingt geraten – wenngleich man nach Möglichkeit lieber zum Buch als zum Hörbuch greifen sollte.

http://www.luebbe-audio.de
422 Minuten auf 6 CDs

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