Waites, Martyn – Gnadenthron, Der

_Das geschieht:_

Keine 15 Jahre ist Jamal alt, aber schon lange familien- und heimatlos. Als Strichjunge schlägt er sich in London durch. Sein Pech bleibt ihm treu: Aus einem Hotelzimmer lässt er einen Mini-Disc-Player mitgehen, der ausgerechnet dem „Hammer“ gehört, einem in der Unterwelt gefürchteten Killer mit saphirblauem Schneidezahn, der seine Opfer auf dem „Gnadenstuhl“ zu Tode zu foltern pflegt. Seine letzte ‚Sitzung‘ hat er auf eine Mini-Disc aufgezeichnet, die Jamal mit besagtem Player in die Hände fiel.

Der Dieb weiß, was seine Beute im 21. Jahrhundert wert ist: Er wendet sich nicht an die Polizei, sondern an die Medien und verlangt viel Geld für die Disc. Als Kontaktperson fordert Jamal den Starreporter Joe Donovan. Der ist allerdings ein ausgebrannter und selbstmordgefährdeter Säufer, seit sein Sohn vor zwei Jahren spurlos verschwand. Erst das Angebot, die Ressourcen der Zeitung für eine ausgedehnte Suchaktion einzusetzen, lässt ihn wieder einsteigen.

Jamal hat sich inzwischen nach Newcastle abgesetzt. Er weiß, dass ihm Hammer auf den Fersen ist. Untergetaucht ist er ausgerechnet bei „Father Jack“, einem sadistischen Mafioso, der von Jamals Coup Wind bekommen hat. Auch Donovan gerät in Schwierigkeiten. Der Journalist Gary Myers, der einen Korruptionsskandal recherchierte, wurde von Hammer gekidnappt. Unter der Folter hat Myers auch Donovans Namen genannt, und als dieser Verbindung mit Jamal aufnimmt, setzt er sich selbst auf Hammers Liste.

Gemeinsam nehmen Donovan und Jamal den ungleichen Kampf auf, in den sich zwei schlagkräftige Privatdetektive einmischen. Als Donovan in Erfahrung bringt, dass Hammer einen Auftraggeber hat und er dessen Namen zu enthüllen droht, ist sein Leben endgültig keinen Pfifferling mehr wert. Hammer ist ihm und Jamal ganz nah, und der Gnadenstuhl steht bereit …

_Krimi aus der britischen Mitte = mittelmäßiger Krimi?_

Newcastle-upon-Thyne ist eine Stadt im Norden Englands, gelegen etwa zwischen London und Edinburgh. Als Schauplatz kriminalliterarischer Aktivitäten ist sie bisher nicht bekannt geworden, eine Tatsache, der Martyn Waites offenbar ohne weitere Verzögerung abhelfen möchte. Intensiv bemüht er dafür jene modernen Ingredienzen, die – geschickt eingesetzt – Gesellschaftskritik suggerieren und als solche wohlwollend zur Kenntnis genommen werden.

Hier sind Reizthemen wie soziale Ausgrenzung, moralische Verrohung und globalisierte Menschenverachtung die Pfunde, mit denen Autor Waites wuchern möchte. Er mischt sicherheitshalber Folter, Pädophilie und „Spurlos-verschwunden“-Melancholie hinzu. Die daraus resultierende Übertreibung ist eine trittsichere Brücke zur Lächerlichkeit. Das Böse ist für Waites darüber hinaus nicht nur Wesenszug, sondern auch prägend für das Äußere. Diese Ansicht führt zu Figuren wie „Father Jack“ und dem „Hammer“: Was jeweils als Kreatur aus der Hölle namens „Menschheit“ geplant ist, wirkt eher wie eine Karikatur.

_Das Böse wirkt blöde_

Waites gibt sich erfolgreich große Mühe mit dem Ausdenken scheußlicher und detailreich geschilderter Brutalitäten. Weil er sie durch horrorfilmkompatible Klischee-Gestalten (Satanist mit blauem Zahn, Kinderschänder mit Mastschwein-Korpus) zum Einsatz bringt, verlieren sie an Intensität und verkommen zur Masche: Folter-Thriller à la „Hostel“ oder „Saw“ sind just erfolgreich, also rankt sich diese Geschichte um den „Gnadenstuhl“, der im ersten Drittel zum Einsatz kommt und später keine Rolle mehr spielt.

Die Weißkragen-Bösewichte scheinen zunächst nicht in dieses Bild zu passen. Bei näherer Betrachtung dominiert auch hier das Klischee: Wenn im Prolog „Mephisto“ als aalglatter Herr & Meister seinen Folterknecht „Hammer“ wüten lässt, begleitet er das mit jenem hochtrabenden Geschwätz, das Quentin Tarantino für seine Film-Gangster kultiviert hat. Die angebliche Ungerührtheit des smalltalkenden Schurken soll besondere Seelenkälte suggerieren. Dieser Kniff ist inzwischen jedoch so häufig zum Einsatz gekommen, dass er seine Wirkung verloren hat. Zumindest Waites kann ihm kein neues Leben einhauchen.

_Zu „böse“ passt „tragisch“?_

Alles Leid der Welt lädt der Verfasser auf Jamals schmale Schultern. Er muss personifizieren, was falsch läuft in der modernen Großstadtwelt. Das wirkt eine gewisse Weile verstörend, weil Waites üble Dinge in klare Worte zu fassen weiß. Allmählich verliert er jedoch entweder die Konzentration oder das Interesse an Jamals Schicksal. Tritt er im letzten Drittel noch auf, wirkt das eher pflichtschuldig: Als Hauptfigur kann ihn sein geistiger Vater schwerlich spurlos verschwinden lassen.

Ins Zentrum rückt nunmehr Joe Donovan. Nicht nur in der Kriminalliteratur ist der angeschlagene Journalist, der im tiefsten Elend sich und seine Berufsehre wiederfindet, eine oft und gern eingesetzte Figur. Einmal mehr geht Waites auf Nummer Narrensicher. Also: Donovan wurde der Sohn entführt, das hat er nie verwunden, seine Ehe zerbrach, er säuft und schleppt einen gewaltigen Colt mit sich herum, den er sich von Zeit zu Zeit dramatisch an die Stirn hält. Wenn diese Charakterskizze sarkastisch klingt, dann liegt es abermals an Waites Hang zur Übertreibung.

Der Schar unserer vom Leben gar sehr gezausten Gutmenschen gesellt sich ein ungleiches Privatdetektiv-Duo hinzu. Er ist schwul und versinkt im Drogennebel, sie schleppt die Erinnerung an eine selbstzerstörerische Liebe mit sich herum. Glücklicherweise erwachen sie stets dann aus ihrem Kummer, wenn es mit brachialer Gewalt Schurkenschädel zu knacken gilt …

Möchte man die Biografie des Verfassers mit diesen grellen Effekten in Einklang bringen, ließe sich als Begründung Waites‘ beruflicher Hintergrund anführen: Er arbeitete als Schauspieler für das Fernsehen, das auch in England auf dem Standpunkt steht, dass es ein Zuviel an knackigen Klischees gar nicht geben kann. Allerdings sollte man mit solchen Verallgemeinerungen Vorsicht walten lassen; möglicherweise hat Martyn Waites einfach verinnerlicht, dass es dem Verkaufserfolg nur nützen kann, wenn seine Werke so viel wie möglich von dem berücksichtigen, was den „Thriller der Woche“ auf den Abgreif-Paletten moderner Buchhandelsketten auszeichnet …

_Autor_

Martyn Waites wurde in der Stadt geboren, in der seine Krimis spielen: Newcastle-upon-Tyne. Hinter ihm liegen jene obligatorischen Lehr- und Wanderjahre, die sich gut in der Biografie eines später erfolgreichen Schriftstellers machen. Waites listet unter anderem Jobs als Straßenverkäufer, Barkeeper und Schauspiellehrer auf. Letzteres ließ ihn die Schauspielschule in Birmingham besuchen, die er nach drei Jahren abschloss. In den nächsten Jahren arbeitete Waites viel fürs Theater. Er trat in TV-Serien und Filmen auf, wobei er über Nebenrollen nie hinauskam.

In den frühen 1990er entstanden (nie veröffentlichte) Theaterstücke und erste Kurzgeschichten. Waites liebt die Werke von US-Autoren wie James Ellroy, James Lee Burke, Andrew Vachss, Eugene Izzi und anderen Vertretern des ‚harten‘, zeitgemäßen, realistischen Krimis, den er in Großbritannien unterrepräsentiert fand. Er verinnerlichte die genannten Vorbilder und siedelte seine eigenen Geschichten in Newcastle an, wo er inzwischen nicht mehr lebte, seine Verbindungen jedoch aufrechterhalten hatte.

1997 erschien „Mary’s Prayer“, der erste Roman einer Serie um den Reporter Stephen Larkin, der mit seinen privaten Problemen mindestens ebenso heftig zu kämpfen hat wie mit seiner Arbeit, die ihn immer wieder auf die Schattenseiten der modernen Wohlstandsgesellschaft führt. Diese Problematik prägte Waites auch dem Journalisten Joe Donovan auf, der 2006 in „The Mercy Chair“ debütierte und Larkin offenbar abgelöst hat.

Über Leben und Werk informiert Martyn Waites auf seiner Website: http://www.martynwaites.com.

_Impressum_

Originaltitel: The Mercy Seat (London : Pocket Books 2006)
Übersetzung: Ulrich Hoffmann
Deutsche Erstausgabe: Juli 2008 (Knaur Taschenbuch Verlag/TB Nr. 63611)
473 Seiten
EUR 8,95
ISBN-13: 978-3-426-63611-4
http://www.knaur.de

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