Agatha Christie – Das Sterben in Wychwood

In einer englischen Kleinstadt kommt ein neugieriger Ex-Polizist einem perfekt integrierten Serienkiller allzu nahe, was ersteren auf viele falsche Fährten und letzteren in Tat-Eifer versetzt … – Für einen englischen Rätselkrimi erstaunlich leichenreiche aber ansonsten mit den bekannten Attributen insularer Thriller-Klassik erzählte Geschichte, die gemütliche Spannung bis ins eher gediegene als spannende Finale verbreitet.

Das geschieht:

Nach seiner Pensionierung kehrt Luke Fitzwilliam, der lange als Polizist in der britischen Kronkolonie Indien tätig war, für immer in seine englische Heimat zurück. Während der Zugfahrt nach London trifft er Miss Pinkerton aus der ländlichen Kleinstadt Wychwood, die Scotland Yard das Wüten eines Serienmörders melden will. Fitzwilliam belächelt und vergisst die offenbar närrische alte Frau, bis er durch die Zeitung von ihrem Tod erfährt: Miss Pinkerton wurde überfahren, bevor sie ihr Ziel erreichen konnte.

Fitzwilliam wird nachdenklich. Da er nichts Besseres zu tun hat, beschließt er nach Wychwood zu reisen, um dort private Ermittlungen anzustellen. Ein Freund schleust ihn in der Maske eines Schriftstellers, der für ein Buch über alte Sitten und Bräuche recherchiert, bei einer Kusine ein: Bridget Conway arbeitete lange als Sekretärin für Lord Whitfield, der es als Herausgeber billiger Boulevardblätter zu Prominenz und Reichtum brachte. Nun hat er sich mit der deutlich jüngeren Bridget verlobt, was dem rasch verliebten Fitzwilliam Gewissensnöte und Seelenqualen beschert, zumal er Bridget, die ihn bald durchschaut, in seine Ermittlungen einweiht.

Wychwood ist der ideale Schlupfwinkel für einen gerissenen Mörder, denn hier kennt man sich und seine Angewohnheiten, weshalb es denkbar einfach war, den wieder einmal betrunkenen Gastwirt Carter in den Fluss Ashe zu stoßen, die Gattin des Majors Horton zu vergiften, den pflichtvergessenen Chauffeur Rivers zu erschlagen oder anderen kürzlich verstorbenen Dörfler umzubringen. Doch ist es tatsächlich so gewesen, oder lässt sich Fitzwilliam in die Irre führen?

Als der vermeintliche Täter versehentlich die Maske kurz fallenlässt, ist der Hobby-Detektiv entsetzt: Ihm steht eine Persönlichkeit von Rang und Namen gegenüber, die sich erfolgreich gegen jeden Verdacht wird wehren können. Während Fitzwilliam noch grübelt, nähert sich die eigentliche Gefahr aus gänzlich unerwarteter Richtung …

Auch literarischer Serienmord hat seine Wurzeln

Der klassische englische Kriminalroman und der Serienkiller: Wie kommen diese beiden eigentlich energisch abstoßenden Pole zusammen? Den Großmeistern des Krimis galt der Mord ganz im Sinne Thomas de Quinceys (1785-1859) als „schöne Kunst“, die wie ein Gemälde oder eine Statue präsentiert wurde. Die Aufklärung glich einem sportlichen Wettkampf. Wurde der Täter schließlich entlarvt, ergab er sich ritterlich (oder ladylike) seinem bzw. ihrem Schicksal; wahlweise fiel er oder sie aus einem hohen Fenster oder erschoss/vergiftete sich, um der Familie und den Freunden die Schande zu ersparen, als gewöhnlicher Verbrecher vor Gericht gestellt und verurteilt zu werden.

Zwar wurde in diesem Zusammenhang nicht selten mehrfach gemordet, doch dies geschah primär, um der Ermittlung durch die Ausschaltung unerwarteter Zeugen Einhalt zu gebieten. Ausgeklammert blieb dagegen der ‚echte‘ Serienkiller, obwohl er in der Realität durchaus sein Unwesen trieb. Lange profitierte davon jedoch in erster Linie die Sensationspresse. So wurde Jack the Ripper, der 1888 Schrecken in London verbreitete, von den zeitgenössischen Autoren ignoriert. Dabei hätte es sich beispielsweise für Arthur Conan Doyle (1859-1930) angeboten, seinen Sherlock Holmes in diesem Fall ermitteln zu lassen.

Doch die zeitgenössischen Schriftsteller waren zimperlicher als das Publikum des 21. Jahrhunderts. Unappetitliche = geschmacklose Details wurden dem Boulevard überlassen. Außerdem verstörte der Serienmord damals wie heute: Diese Täter töten nicht, um sich zu bereichern oder zu rächen. Sie werden von Obsessionen getrieben, die man lange nicht verstand, weshalb sie erst recht für Schrecken sorgten, weil offensichtlich niemand vor solchen Mördern sicher sein konnte.

Blick aus dem Schneckenhaus

Ungeachtet dessen übte der Serienmord durchaus seinen Reiz auf das Genre aus. In den 1920er und 30er Jahren widmeten sich die Autoren des „hard-boiled“-Thriller US-amerikanischer (Magazin-) Schule dem Gewaltverbrechen wesentlich drastischer als zuvor. Es konnte nicht ausbleiben, dass auch bisher zurückhaltende Krimi-Schriftsteller sich vorsichtig dem Thema näherten. Trotzdem ist es einigermaßen verwirrend, ausgerechnet Agatha Christie unter ihnen zu sehen.

Sie war freilich in den 1930er Jahren auf der Höhe ihrer Schaffenskraft sowie experimentierfreudig. Dass sich der Kriminalroman veränderte und entwickelt, blieb ihr keineswegs verborgen. Christie besaß einen ausgeprägten Geschäftssinn, der sie aufgreifen ließ, was publikumswirksam in der Luft lag. Mit „Das Sterben in Wychwood“ bewies sie, dass es (ihr) durchaus möglich war, den klassischen Rätselkrimi mit dem modernen Killer-Thriller zu kombinieren.

Christie konzentrierte sich auf die Tatsache des Serienmords, ohne in Tatdetails zu schwelgen. Auf diese Weise konnte sie das Thema aufgreifen, ohne den Unmut eines Publikums zu erregen, das ebenfalls bereit war, sie auf diesem Weg zu begleiten, ohne jedoch – anders als heute – mit düsteren, womöglich sexuellen = perversen Praktiken konfrontiert werden zu wollen. Christie war eine versierte Handwerkerin, die einer besonderen Herausforderung gerecht wurde: Gerade die für den ‚normalen‘ Zeitgenossen unbegreifliche Mordlust erschwert die Ermittlungen. Sowohl Hobby-Ermittler Fitzwilliams als auch später Superintendent Battle können sich nicht auf die Entschlüsselung von Indizien beschränken. Die Psyche des Täters ist unbedingt zu berücksichtigen, um eine ansonsten sinnlos erscheinende Folge von Bluttaten zu rekonstruieren und den Mörder zu identifizieren.

Das Dorf der Ahnungs- aber nicht Harmlosen

Eine besondere und reizvolle Schwierigkeit liegt in dem Bemühen, einen Serienmörder genau dort zu platzieren, wo er theoretisch kaum lange unerkannt bleiben könnte. Agatha Christie ließ mehrfach in kleinen, trügerisch überschaubaren Landstädten oder Dörfern morden. Vor allem vor dem Zweiten Weltkrieg war man dort quasi seit Jahrhunderten unter sich. Die Bevölkerung achtete aufeinander bzw. beobachtete einander – der Übergang war fließend. Dorfgeheimnisse wurden intern kommuniziert und nach außen verschwiegen. „Leben und leben lassen“: Nur so war ein einigermaßen harmonisches Miteinander möglich, wobei manche Ungerechtigkeit um des lieben Friedens willen stillschweigend geduldet wurde.

Serienkiller galten zur Christies Zeiten als schlau aber verrückt. Auf diese Weise konnte man sich vor der hässlichen Wahrheit drücken: Um sie zu stoppen, müssen solche Gewaltverbrecher in der Regel entlarvt werden, da sie ansonsten immer weiter morden. Auch in Wychwood gehen die Ermittlungen zunächst in die falsche Richtung. Sehr geschickt spielt Christie mit der Tatsache, dass Serienkiller vor allem deshalb so erfolgreich sind, weil sie mit ihrer Umgebung verschmelzen.

Unauffälligkeit ist der Schlüssel zum mörderischen Erfolg. Diese Erkenntnis war 1939 neu. Christie konnte deshalb Nebelkerzen zünden, die den heutigen Leser nicht mehr täuschen: Ein weibischer Antiquitätenhändler, der pornografische Bücher sammelt und nachts dem Teufel opfert, fällt deshalb als Verdächtiger sofort aus. Deutlich misstrauischer beobachten wir gemeinsam mit Luke Fitzwilliam einen ehrgeizigen und schon deshalb fragwürdigen Dorfarzt, einen verschlagenen Advokaten oder einen unter dem Pantoffel stehenden Ex-Soldaten.

Warten auf den entscheidenden Fehler

Sehr richtig ging Christie davon aus, dass ein erfahrener Serienmörder sich höchstens durch eigene Fehler entlarvt. Während der Fahndung fühlt sich Fitzwilliams deshalb zunehmend wie Sisyphus: Sämtliche Spuren zerrinnen ihm immer wieder unter den Fingern.

Darüber hinaus gilt es eine moralische Herausforderung zu meistern: Christie würzte ihrem weiblichen Publikum zuliebe die Kriminalstory mit einer Liebesgeschichte. Das Objekt der Fitzwilliamschen Begierde ist freilich bereits versprochen und deshalb aus zeitgenössischer Sicht sakrosankt. Wahre Liebe kümmert sich natürlich nicht um derartige Regeln. Christie findet außerdem eine Möglichkeit, den ‚Diebstahl‘ der Braut nicht nur zu rechtfertigen, sondern daraus finale Dramatik zu schlagen, weil Bridget den Zorn des wahren Mörders erregt, der deshalb strafend zu einer weiteren Bluttat schreiten will.

Das Ende ist wieder klassisch: Hugh und Bridget finden zueinander, der Mörder wird auf (beinahe gelungener) frischer Tat ertappt und verfällt dem Irrsinn, woraufhin er nicht vor Gericht kommt, sondern unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einem Narrenhaus entsorgt werden kann. Bis es soweit ist, folgt Christie einem nachträglich nicht unbedingt komplexen Plot-Faden. „Das Sterben in Wychwood“ ist vor allem Handwerk und Krimi-Routine. Der besondere Reiz liegt in der Schilderung eines Dorfalltags, den man heutzutage als eindimensionales, gewollt komisches Schema verurteilen würde. Doch Christie ist in Sicherheit: Viele Jahrzehnte später legt sich Nostalgie entschuldigend und unterhaltsam über die Handlung.

„Das Sterben in Wychwood“ in den Medien

Die erste Veröffentlichung erfuhr dieser Roman in Fortsetzungen. Sieben Teile erschienen zwischen dem 19. November und 31. Dezember 1938 in „The Saturday Evening Post“. Hier trug der Roman noch den Titel „Easy to Kill“, der für die Buchausgabe im folgenden Jahr in „Murder Is Easy“ geändert wurde.

Für das (US-) Fernsehen wurde „Das Sterben in Wychwood“ 1982 mit Bill Bixby, Lesley-Anne Down, Olivia de Havilland und Helen Hayes in den Hauptrollen inszeniert. 1993 entstand ein Theaterstück, und 2008 wurde der Roman für die britische Fernsehserie „Agatha Christie‘s Marple“ aufgegriffen und dabei erheblich verändert. So ermittelt nun Miss Marple, die im Roman überhaupt nicht vorkommt.

Autorin

Agatha Miller wurde am 15. September 1890 in Torquay, England, geboren. Einer für die Zeit vor und nach 1900 typischen Kindheit und Jugend folgte 1914 die Hochzeit mit Colonel Archibald Christie, einem schneidigen Piloten der Königlichen Luftwaffe. Diese Ehe brachte eine Tochter, Rosalind, aber sonst wenig Gutes hervor, da der Colonel seinen Hang zur Untreue nie unter Kontrolle bekam. 1928 folgte die Scheidung.

Da hatte Agatha (die den Nachnamen des Ex Gatten nicht ablegte, da sie inzwischen als „Agatha Christie“ berühmt geworden war) ihre beispiellose Schriftstellerkarriere bereits gestartet. 1920 veröffentlichte sie mit „The Mysterious Affair at Styles“ (dt. „Das fehlende Glied in der Kette“) ihren ersten Roman, dem sie in den nächsten fünfeinhalb Jahrzehnten 79 weitere Bücher folgen ließ, von denen vor allem die Krimis mit Hercule Poirot und Miss Marple weltweite Bestseller wurden.

Ein eigenes Kapitel, das an dieser Stelle nicht vertieft werden kann, bilden die zahlreichen Kino und TV Filme, die auf Agatha Christie Vorlagen basieren. Sie belegen das außerordentliche handwerkliche Geschick einer Autorin, die den Geschmack eines breiten Publikums über Jahrzehnte zielgerade treffen konnte (und sich auch nicht zu schade war, unter dem Pseudonym Mary Westmacott sechs romantische Schnulzen zu schreiben).

Mit ihrem zweiten Gatten, dem Archäologen Sir Max Mallowan, unternahm Christie zahlreiche Reisen durch den Orient, nahm an Ausgrabungen teil und schrieb auch darüber. 1971 wurde sie geadelt. Dame Agatha Christie starb am 12. Januar 1976 als bekannteste Krimi Schriftstellerin der Welt. (Wer mehr über Leben und Werk der A. C. erfahren möchte, wende sich hierher: www.agathachristie.com

Taschenbuch: 206 Seiten
Originaltitel: Murder Is Easy (London : Collins 1939/New York : Dodd, Mead & Company 1939)
Übersetzung: Auguste Flesch von Bringen
www.fischerverlage.de

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