Harold Brodkey – Unschuld (Lesung)

Erotisches Er(d)beben

„Unschuld“ beschreibt die Bemühungen des Ich-Erzählers, die Studentin Orra Perkins zum ersten Mal in ihrem Leben zu einem Orgasmus zu bringen. Der Autor hat die Möglichkeiten, zugleich plastisch als auch reflektiert über Sexualität zu sprechen, erweitert: Momentaufnahmen des Bewusstseins in unterschiedlichsten Zuständen.

Der Autor

Harold Brodkey, geboren 1930 in Illinois,, veröffentlichte 1958 unter dem Titel „Erste Liebe und andere Sorgen“ seinen ersten Erzählband. Erst dreißig Jahre später legte er den Band „Stories in an almost classical mode“ („Nahezu klassische Stories“) vor, dem „Unschuld“ entnommen ist. Brodkey erkrankte an AIDS und starb 1996.

Der Sprecher

Matthias Fuchs, geboren 1939, war Ensemblemitglied im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, spielte in diversen Film- und Fernsehrollen und hat zahlreiche Hörbücher gelesen. Er starb am 1. Januar 2002, drei Monate nach der Aufnahme dieses Hörbuches. Die Lesung bietet den ungekürzten Text der Erzählung.

Handlung

Phase 1.

Die 21-jährige Orra Perkins ist in Harvard (bei Boston) eine schöne und reiche „Prinzessin“, die gerne mit Männern schläft. Sie tut dies schon seitdem sie 15 ist, doch wie Willy, unser gleichaltriger Erzähler herausfindet, hat sie noch nie einen Orgasmus gehabt. Willy selbst nimmt sich im Vergleich zu ihr wie ein Bettler aus, jedoch: Er ist in sie verliebt.

Nächste Phase.

Willy empfängt Orra in seinem Zimmer im Studentenwohnheim, unter der Bettdecke ist er nackt. Sofort schlüpft sie entkleidet zu ihm, denn ihr scheint mehr am Glück der Männer zu liegen als an ihrem eigenen. Er findet sie dilettantisch im Bett, sie kann wie immer nicht kommen. Da sie seine Trophäe ist, schließt ihr Besitz seine Liebe im Grunde aus, also muss er sie anlügen. Er ist im Grunde seines Wesens ein Lehrer und Gestalter …

Sie verweist auf die Romane, die Frauen über Sex geschrieben haben, doch diese Bücher findet Willy naiv, manipulativ und romantisch. Sie hätten mit der Realität rein gar nichts zu tun: Intelligente Frauen wollen Kontrolle ihrer Lust, wohingegen die frechen und forschen sie befriedigen wollen und sich zu ihr bekennen. Zu ihnen gehört Orra nicht. Sie behauptet zwar, im Bett eine „Tigerin“ zu sein, doch entzieht sie sich ihrer Verantwortung, die die dabei entstehenden Gefühle mit sich bringen: Sie produziert Sex um der Glücksgefühle willen, die sie den Männern damit spenden kann.

3. Phase.

Willy hat eine Mission beschlossen: Er will Orra „erwecken“, koste es, was es wolle. Am gleichen Ort, zu einer anderen Zeit nimmt er sie mehrmals. Um sie weiter erregen zu können, behauptet er, sie zu seinem eigenen (!) Vergnügen lecken zu wollen. Entgegen ihrer Proteste setzt er den Cunnilingus fort: Ist er Masochist oder stolzer Egoist? Er betrachtet sich wie ein altgriechisches Kriegsschiff, das den Meeresschaum durchpflügt. Das Meer ist Orras Körper und ihre Lust.

Orras Lust geht von sexueller zu religiöser Erregung über. Vor Willys Augen (und seiner unermüdlichen Zunge) scheint sie sich in einen Engel mit drei Flügelpaaren zu verwandeln. In drei Phasen entfaltet sie je ein Flügelpaar, und ihr Körper bäumt und schwingt sich auf. „Willy, etwas passiert!“ ruft sie. „Es hört gar nicht mehr auf. Es tut weh.“ …

Mein Eindruck

Ob Willy das Ziel seiner Mission, sei sie nun selbstlos oder selbstsüchtig, erreicht, muss jeder selbst nachlesen. Dürre Kritikerworte reichen nicht aus, um die Glorie des „Höhepunkts“ (in jeder Hinsicht) zu beschreiben.

Eines steht fest: Dieser Bursche kann wirklich mit Sprache umgehen. Das Geschehen selbst könnte von einem Lohnschreiber erfundenen worden sein und in jedem an Magazine wie „Penthouse“ oder „Hustler“ geschickten „Bekenntnisbrief“ stehen. Die können auch ganz schön saftig und anschaulich sein. Sie bedienen sich ebenfalls einer offenherzigen Umgangssprache, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Doch Brodkeys „Unschuld“ geht weit darüber hinaus.

„Unschuld“ ist hohe, großartige Literatur. Die Begegnung zwischen Willy und Orra Perkins ist nicht nur sehr intensiv und in zahlreichen Bildern poetisch überhöht – siehe oben: Trireme, Engel, Tigerin usw. -, sondern es ist auch deutlich, dass sich hier zwei verschiedene Kulturkreise treffen. Und die beiden unterscheiden sich in ihrer Einstellung zu dem, was Sex ihnen bringen soll, grundsätzlich.

Hat Willy, der Jude, einen Christuskomplex? Warum will er unbedingt Orra „erwecken“? Muss sie erlöst werden? Von ihrer Ichbezogenheit, von ihrer zwanghaft erledigten Beglückung der Männer bei gleichzeitiger Hintanstellung eigenen Glücks?

Dies ist schwankender Boden, was die Beurteilung von Willys und Orras Ethik angeht. Ob er Egoist oder Altruist ist, ein Christusjünger oder einfach doch nur ein Sexbessessener, das hängt manchmal nur vom Standpunkt des Betrachters ab. Orra selbst urteilt nicht. Jegliche Urteilskraft hat sie fahren lassen, ihre Proteste gegen den Cunnilingus ignoriert Willy geflissentlich. Und danach wird sie nur noch vom Einsturz psychischer Mauern in Anspruch genommen.

Orra verwandelt sich daher, und Willy ist in seiner jüdischen Metaphorik gefangen, vergleicht sie mit einem Engel, der einen meerumschlungenen Glasberg emporklimmt. Ein Seraph, der in ein fremdartiges neues Element vordringt, nur noch halb menschlich, ansonsten ein übermenschliches Wesen, meint Willy.

Brodkey gelingt es scheinbar mühelos, die richtigen, passenden Wörter zu finden, um sowohl die mundanen körperlichen Aktivitäten als auch die seelische Ekstase zu beschreiben und in ihren Auswirkungen eindrucksvoll zu schildern.

Denn dies ist sein Glaubensbekenntnis: |“Ich misstraue allen Zusammenfassungen, jedem raffenden Durchgleiten der Zeit, jedem zu hoch gegriffenen Anspruch, unter Kontrolle zu haben, was man erzählt; ich glaube, wer zu verstehen behauptet, diese Emotion aber nur gemächlich aus der Erinnerung holt, der ist einfach ein Narr und ein Lügner. VERSTEHEN HEISST ZITTERN. SICH WIRKLICH ERINNERN HEISST WIEDEREINTAUCHEN UND ZERRISSEN WERDEN.“| Dieser Satz (meine Hervorhebung) steht bereits ziemlich am Anfang der Erzählung. Wie ein Motto.

Am Schluss ist der Zuhörer ebenso erschöpft und erleichtert wie die beiden zitternden Protagonisten der Erzählung. Niemanden kann die Story unberührt lassen, schon gar nicht in seinen Hormonen. „Unschuld“ erfährt man, um es mit den alten Griechen zu sagen, wie ein „heiliger Schauder“.

Der Sprecher

Matthias Fuchs‘ tiefe, raue Stimme verfügt über die unabstreitbare Autorität, die nötig ist, um selbst schlüpfrigste und tabuisierte Wörter wie selbstverständlich in den Mund zu nehmen. Dies sind nicht die griechisch-lateinischen Bezeichnungen der Wissenschaft, wie etwa „Vagina“, „Penis“ und dergleichen, sondern vor allem die Bezeichnungen, die die Umgangssprache für die Genitalien und den Geschlechtsverkehr kennt. Und das sind eine ganze Menge.

Dennoch verletzt er nie die Würde der Beteiligten, schon gar nicht die von Orra, wie es ja leicht passieren könnte. Schließlich ist die Studentin das Objekt von Willys Mission und Anstrengung. Matthias Fuchs ist in seiner Autorität und Unparteilichkeit mit Joachim Kerzel zu vergleichen. Kerzel bringt noch ein wenig mehr Energie in seinen Vortrag. Dass Fuchs Schauspieler ist, merkt man seinem Vortrag kaum jemals an.

Unterm Strich

„Unschuld“ ist die Geschichte eines Bemühens um den ersten Orgasmus. Die Geschichte einer Mission, aber auch einer Grenzüberschreitung in ein „fremdartiges neues Element“. Die Geschichte des Aufeinandertreffens zweier Kulturen, aber auch zweier Individuen. Beide sind nicht ehrlich, dürfen es nicht sein, lassen nur Lügen zu. Und doch erreichen sie eine gemeinsame Wahrheit, die unleugbar ist.

Unabdingbar ist hierbei die Ehrlichkeit der darstellenden Sprache. Und wenn der Autor Metaphern wie „Engel“, „Trireme“ (= Dreideckerschiff der Antike) oder „Tigerin“ gebraucht, so sind auch diese Vergleiche in einem gewissen Sinne wahr. Dort, wo heutige Sprache versagt, helfen nur noch Bilder, um das Unnennbare auszudrücken. Die Bibel etwa bemühte hierfür Gleichnisse. Dem Autor waren sie sicherlich nicht fremd. Nur wer „Unschuld“ mehrmals erlebt – denn darum handelt es sich: um ein Erlebnis -, dringt in die Tiefen der Bedeutungsschichten vor.

Die Lesung, die Matthias Fuchs aufgenommen hat, ist angemessen beeindruckend, makellos. Zusammen mit dem erotischen Titelmotiv ist ein wunderschönes Hörbuch für Erwachsene gelungen. Minderjährigen unter 16 Jahren würde ich das Erlebnis dieser Erzählung aber nicht zumuten.

Originaltitel: Innocence, 1988
Deutsch 1990 von Hans Wollschläger und Dirk van Gunsteren
121 Minuten auf 2 CDs.
ISBN-13: 9783899030556