Catherine Fisher – „Incarceron: Fliehen heißt sterben“

Die junge Claudia führt ein privilegiertes Leben in einem großen Herrenhaus mit Dienstboten, kostbaren Kleidern und einem eigenen Pferd. Ihr Vater ist einer der mächtigsten Männer des Reiches, der Hüter von Incarceron. Leider hat er sich in den Kopf gesetzt, seine Tochter mit dem Kronprinzen Caspar zu verheiraten, den Claudia auf den Tod nicht ausstehen kann. Sie ist wild entschlossen, diese Heirat zu verhindern!

Finn gehört zu einer Bande von Kriminellen, aber er fühlt sich dort nicht wohl. Seine Erinnerungen reichen lediglich drei Jahre zurück, bis zu dem Zeitpunkt, an dem er in einer Zelle Incarcerons aufgewacht ist. Doch er hat immer wieder Visionen, im Traum suchen ihn Erinnerungsfetzen heim. Finn ist überzeugt davon, dass er von Außerhalb stammt. Als eine Frau die Tätowierung an seinem Handgelenk erkennt, hat er zum ersten Mal eine Spur, die vielleicht zu den Antworten auf seine vielen Fragen führt …

Nach der Lektüre dieses Buches musste ich eine Weile überlegen, wie ich es wohl einordnen soll. Der Verlag führt es offenbar unter Fantasy. Ich persönlich tendiere aber eigentlich eher dazu, es unter Science-Fiction einzuordnen. Zu diesem Schluss kam ich, nachdem ich „Incarceron“ mit dem Dornen-Zyklus verglichen habe. Beide spielen in einer Welt, die die unsere sein könnte, allerdings nach einer Katastrophe globalen Ausmaßes. Beide enthalten Begriffe aus unserer aktuellen Realität oder zumindest Analogien dazu, und in beiden müssen die Protagonisten mit den widrigen Bedingungen fertigwerden, die Folge der Katastrophe sind. Was den Dornen-Zyklus für mich ins Genre der Fantasy rückt, ist der Aspekt der Necromantie. Ein solch phantastisches Element fehlt in „Incarceron“. Hier gibt es keine Magie, keine phantastischen Wesen, überhaupt nichts Übernatürliches. Nur Technik.

Warum das wichtig sein sollte?

Nun, weil das, was die Magie zu leisten in der Lage ist, vom Autor festgelegt werden kann. Wenn der Autor beschließt, mittels Magie sei es möglich, dass ein Raum von innen größer ist als von außen, dann ist das eben so. Die Technik dagegen kann das nicht, sie ist an die Grenzen der Naturgesetze gebunden.

Natürlich könnte man dem nun entgegensetzen, dass ein lebendiges, selbstständig denkendes Gefängnis durchaus ein phantastisches Element sei. Im Zeitalter der Forschung auf dem Gebiet künstlicher Intelligenz bin ich persönlich jedoch geneigt, auch das eher im Gebiet SF anzusiedeln.

Um allmählich mal konkret zu werden: In Catherine Fishers Weltentwurf gibt es zwei Lebensräume, das Außerhalb und Incarceron.

Incarceron ist ein Gefängnis für alle, die im Außerhalb unerwünscht sind: Kriminelle, Kranke, Behinderte, Dissidenten. Es wurde als abgeschlossenes System mit Intelligenz geschaffen, das selbstständig für seine Insassen sorgen sollte, ganz gleich, ob es dabei um Unterkunft, Ernährung, Schulbildung oder Freizeit geht. Geschaffen wurde dieses Gebilde von weisen Gelehrten, Sapienti genannt, von denen einige sogar freiwillig nach Incarceron gingen, um sich zusätzlich um die Menschen dort zu kümmern. Jenseits der Gefängnismauern gilt Icarceron als Paradies.

Auch Außerhalb wurde versucht, ein Paradies zu erschaffen, indem eine Epoche der Vergangenheit ausgewählt wurde, deren Lebensweise als ideal angesehen wurde, und nach der nun alle zu leben haben, von der Kleidung über den Stil der Wohnhäuser bis hin zum Verbot bestimmter technischer Errungenschaften oder medizinischer Heilverfahren. Fortschritt, neue Erfindungen, im Grunde jegliche Art von Veränderung ist strafbar!

Was den verantwortlichen König und seine sogenannten Weisen auf die merkwürdige Idee gebracht hat, sie könnten auf diese Weise Paradiese erschaffen, ist mir schleierhaft! Natürlich gibt es Kriminelle, die aufgrund unglücklicher Umstände auf die schiefe Bahn geraten sind. Solchen Leuten ist mit Unterstützung wie Unterkunft und Schulbildung sicherlich zu helfen, aber dafür muss man sie nicht einsperren. Abgesehen davon gibt es auch Verbrecher, die ihre Laufbahn aus Überzeugung eingeschlagen haben, weil sie keine Lust auf ehrliche Arbeit haben, Gewalt ihnen Spaß macht, oder warum auch immer. Und mit denen kann man garantiert kein Paradies aufbauen, weder in einem Gefängnis, noch sonst wo. Schon allein deshalb war das Projekt von vorn herein zum Scheitern verurteilt.

Auch das Verbot jeglicher Veränderung und Entwicklung kann wohl kaum zu paradiesischen Zuständen führen. Es liegt in der Natur des Menschen, neugierig, kreativ, erfinderisch zu sein. Einem Menschen die Entfaltung dieser Eigenschaften zu verbieten, kommt einer Amputation gleich. Zumal das Zeitalter, das als Ideal ausgewählt wurde, selbst ohne Fortschrittsverbot wohl nur für Reiche zum Paradies hätte werden können. All diese Aspekte sind – zumindest für mich – so offensichtlich und selbstverständlich, dass ich schon die Basis des Plots als höchst unwahrscheinlich empfand. Nur ein Mensch ohne den geringsten Funken gesunden Menschenverstands kann auf so einen Gedanken kommen!

Auf die Frage, wie es dazu kam, dass diese Ungeheuerlichkeit trotzdem umgesetzt wurde, gibt die Autorin keine Antwort. Sie hat sich ganz auf die eigentliche Geschichte konzentriert und die Vorgeschichte nur so weit einfließen lassen, wie es nötig war, um die aktuellen Ereignisse zu erklären.

Aber auch hier sind ziemlich viele Fragen offen geblieben, zum Beispiel die nach dem Metallsplitter, den Claudia im Arbeitszimmer ihres Vaters am Boden gefunden hat. Wo kam der her, und wie kam er dorthin?

Auch die Sache mit den Cyberwesen kam mir seltsam vor. Das Gefängnis verwertet alles wieder. Wenn also ein Hund oder ein Schaf stirbt, werden seine Teile zu neuen Hunden oder Schafen zusammengesetzt. Fehlende Teile werden durch Metall oder Plastik ersetzt. Das macht es nicht nur mit Tieren, sondern auch mit Menschen. Die Frage ist nur, wie eine Maschine in der Lage sein sollte, diese neuen Körper zum Leben zu erwecken, und außerdem, warum sie das tun sollte.

Selbst in der Charakterzeichnung finden sich solche losen Enden. Das betrifft hauptsächlich den Hüter.

Während Claudia, Finn und seine Freunde sehr lebendig und nachvollziehbar gezeichnet und auch einigermaßen sympathisch sind und Finns Blutsbruder Keiro durch seine etwas undurchsichtige Art und seine oft ziemlich unerwarteten Aktionen Interesse weckt, ist der Hüter irgendwie ein wenig unvollständig geraten. Er ist die meiste Zeit ein gefühlskalter, ehrgeiziger, machthungriger Mann, der sich nur insoweit um seine Tochter zu kümmern scheint, als er sie für die Erreichung seiner Ziele braucht. Erst gegen Ende zeigt er etwas menschlichere Züge. Allerdings fragte ich mich, wie er zu diesem Mann geworden ist. Denn die Geschichte, die er Claudia über seine verstorbene Frau erzählt, erklärt nicht alles.

Vorsicht Spoiler!

Wenn der Hüter, Blaize und Sapphique dieselbe Person sind, dann frage ich mich, wie es einem entlaufenen Gefangenen möglich gewesen sein soll, eine solche Machtposition wie die des Hüters zu erreichen. Und vor allem frage ich mich, wie er Finn und seine Freunde aus der Höhle des Biests retten konnte. Denn er hätte Incarceron durch die Schleuse in seinem Büro zwar betreten, aber nicht von dort zurückkehren können, weil zu diesem Zeitpunkt Claudia den Schlüssel hatte.

Abgesehen davon ist es physikalisch unmöglich, einen Menschen dadurch auf Mikrogröße zu bringen, indem man seine Atome einfach anders anordnet. Dazu müsste man sie schon massiv komprimieren. Dabei käme aber kein kleinerer Mensch heraus, sondern eine massive Massekugel auf dem Weg zum Schwarzen Loch.

Spoiler Ende!

Auch über kleinere logische Fehler bin ich gestolpert. So sind zwar moderne Medikamente und Behandlungsmethoden verboten, aber Faltenglätter für die Haut offenbar nicht.

Immerhin muss man der Geschichte eines lassen: sie war ausgesprochen spannend und stimmungsvoll erzählt. Vor allem die Darstellung Incarcerons fand ich sehr vielfältig und gelungen. Und trotz der seltsamen Basis war der Plot als solcher interessant angelegt, bot immer wieder unerwartete Wendungen. Obwohl manches in meinen Augen etwas befremdlich anmutete, kann ich nicht sagen, daß die Lektüre langweilig oder zäh gewesen wäre. Vielleicht sollte ich mir einfach weniger Gedanken machen und das Buch doch als Fantasy einstufen. Das würde sowohl die physikalischen Probleme als auch die merkwürdigen Praktiken und Fähigkeiten Incarcerons vom Tisch wischen, und am Ende bliebe ein Buch zurück, das zwar von einer höchst unwahrscheinlichen Grundsituation ausgeht, aber ansonsten gut und durchaus lesenswert ist. Und vielleicht bietet ja die Fortsetzung auch noch einige Antworten auf bisher offene Fragen.

Catherine Fisher hat einen Universitätsabschluss in Englisch und von dort ein Faible für Mythen und Geschichte mitgebracht. Aus ihrer Feder stammen Gedichte ebenso wie Jugend- und Erwachsenenromane, unter anderem die „Snowwalker“-Trilogie, der Vierteiler „The Book of the Crow“ und die „Orakel“-Trilogie. Nicht alle ihre Bücher sind bisher auf Deutsch erschienen.

Gebundene Ausgabe 475 Seiten
Originaltitel: „Incarceron“
Deutsch von Marianne Schmidt
ISBN-13: 978-3-764-53080-8

www.catherine-fisher.com
www.randomhouse.de/penhaligon

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