Lincoln Child – Das Patent

Das geschieht:

„Utopia“, der größte und modernste Freizeitpark der Welt, ist eine Schöpfung des unlängst verstorbenen Zauberkünstlers und Visionärs Eric Nightingale. In der Wüste des US-Staats Nevada erhebt sich die gigantische Kuppel, unter der vier virtuelle Welten perfekter Illusionen täglich bis zu 70.000 Besucher anlocken. Doch es gibt Ärger im bisher so einträglichen Paradies: Die Roboter, die vor und hinter den Kulissen aktiv sind, zeigen seit einiger Zeit Fehlfunktionen. Gerade hat eine fehlgeleitete Reparaturmaschine eine katastrophale Achterbahn-Entgleisung provoziert. Funktioniert etwa „Metanet“, das neurale Netz zur zentral Steuerung, nicht mehr richtig? Oder probt es womöglich den Aufstand? Dazu könnte es fähig sein, wurde es doch von seinem Schöpfer als lernfähige künstliche Intelligenz entworfen.

Sarah Boatwright, die ehrgeizige Geschäftsführerin von „Utopia“, ruft Dr. Andrew Warne nach Nevada. Der kommt gern, denn mit seiner Karriere steht es schlecht. Auch lockt ihn die Anwesenheit Boatwrights, mit der ihn einst ein Verhältnis verband. Der Wissenschaftler ahnt nicht, dass die Fehlfunktionen auf das Konto einer Bande entschlossener Industriespione gehen. Unter der Leitung des charismatischen aber völlig skrupellosen „John Doe“ haben sie das „Metanet“ infiltriert. Nun schlagen sie zu, postieren Heckenschützen, legen Zeitbomben, nehmen die gesamten Besucher als Geiseln, um die Herausgabe des revolutionären Patents zu erzwingen, auf dem die Attraktionen von „Utopia“ basieren. Die Technik ließe sich von findigen Schurkenstaaten in eine Waffe verwandeln, die der Weltpolizei USA schwer zu schaffen machen könnte.

Wie lassen sich die Verbrecher aufhalten? Hilfe von außen wird nicht kommen. Also schließt sich das übliche US-Normalbürger-Dreamteam weltfremder aber schlauer Wissenschaftler, Computerhexer, Kinder & intelligent gewordener Roboter zusammen, um dem übermächtigen Feind mit Köpfchen Paroli zu bieten …

Retorten-Roman ohne Spannung

Was im Film womöglich recht unterhaltsam anzuschauen wäre, wirkt als Roman absolut langweilig. Da stimmt es eher noch ärgerlicher, wenn der Verfasser allzu deutlich ökonomisch arbeitet und „Das Patent“ wie ein Drehbuch gestaltet. Zukünftige Szenenwechsel sind bereits eingearbeitet; sie ereignen sich erfahrungsgemäß stets dann, wenn es gerade brenzlig oder spannend wird: Fortsetzung folgt!

Dieses schlichte Konzept wird erbarmungslos durchgezogen. Es könnte ja funktionieren, wäre die Geschichte, die hier ‚erzählt‘ wird, nicht ganz so bekannt. Doch sie ist es, sie meidet beinahe panisch das Risiko der Überraschung und kann deshalb nicht davon ablenken, dass dieses Buch wie der „Utopia“-Park in sämtlichen Bestandteilen knirscht.

Child greift den Uralt-Plot vom Amok laufenden Roboter auf, aber er beschränkt sich darauf, ihn technisch auf den aktuellen Stand zu bringen. Im inzwischen altmodischen aber weiterhin Denkanstöße liefernden Filmklassiker „Westworld“ von 1972 (Drehbuch und Regie: Michael Crichton) drehten die metallenen Geister, die der vergnügungssüchtige Mensch zu sich rief, nach einer ausgeklügelten Dramaturgie durch. Child schlachtet dieses Konzept aus, vergröbert und bläst es auf. Größer, schneller, gefährlicher und womöglich intelligenter sind seine Roboter. Das Internet bildet den Hintergrund für die daraus resultierende Bedrohung.

Böse Burschen oder Butzemänner?

Um auf Nummer Sicher zu gehen, greift Child zusätzlich auf menschliche Bösewichte zurück. Seine Schurken sind genial und „larger than life“, ihr mörderisches Treiben nicht entsprechenden Trieben geschuldet, sondern bloß Teil des ‚Geschäfts‘. Das soll besonders verworfen wirken, ist aber wiederum als Motiv so ausgelaugt, dass es nur noch langweilt.

In den USA mag die Terrorismus-Karte stechen: Die Belagerer von „Utopia“ arbeiten für Burnus-Teufel oder andere Heiden aus der Dritten oder Vierten Welt. So fiebert der brave US-Bürger womöglich stärker mit, wenn diesem Pack zumindest in der Fantasie ordentlich in den Arsch getreten wird! Dieses Stilmittel setzt Child aus blanker Berechnung ein. Das ist verwerflich, weil er wie gesagt sein Werk insgesamt nur aus Reißer-Modulen zusammenbastelt.

Der Erfolg ist verdient kläglich: „Das Patent“ ist triviale oder besser brachiale Unterhaltung ohne Atmosphäre, ohne Spannung, ohne Schwung – das Pendant zur Tütensuppe, angerührt aus künstlich geschmacksverstärktem Pulver und gestreckt mit sehr viel Wasser (und aufgesetzter Sozialkritik), bis mehr als 600 augenfreundlich bedruckte Seiten gefüllt sind. Dieses Buch könnte auch doppelt oder nur halb so dick sein. Neue Verwicklungen im Freizeitpark lassen sich nach Belieben einschieben oder auskoppeln, sodass zumindest das Handlungsgerüst absolut zeitgemäß wirkt: Es könnte einem der angeblich bereits existierenden Plot-Automaten eingefallen sein, die mit aktuellen Modethemen gefüttert werden und auf den größten gemeinsamen Konsumentennenner zugeschnittene Plot für den Instant-Bestseller/Blockbuster ausspucken.

Scherenschnitte statt Figuren

Diffus einerseits und Klischee andererseits sind Childs menschliche Protagonisten. Auch hier galt es die Verfilmung im Auge zu behalten. ‚Kunst‘ bzw. ‚Literatur‘ in Gestalt individueller, womöglich kantiger oder sonst von der Norm abweichender Figuren mit ‚Persönlichkeit‘ gilt es offenbar unbedingt zu vermeiden!

Mit ärgerlich stimmender Konsequenz bevölkert Child sein Spektakel: Da haben wir den redlichen Helden, hier ein liebenswert verlotterter Professor, tragischer Witwer und alleinerziehender Vater, zwar guten Willens, aber mit dieser Aufgabe überfordert & auch sonst ziemlich unter Druck. Was fehlt dem guten Mann? Richtig: eine Frau! Die sollte aber bitte nicht nur hübsch und verständnisvoll, sondern auch klug sein. Child zügelt auch hier seinen Hang zur geschäftstüchtigen Anbiederung nicht und überträgt die Rolle politisch korrekt einer (amerikanischen) Schönheit asiatischer Abstammung.

Über die Zulassung besagter Dame als neue weibliche Familienstütze entscheidet des Professor Töchterlein, eine altkluge, pubertär verwirrte US-Teenie-Nervensäge schlimmsten Kalibers. Gar sehr fehlt ihr die Mutter, und Kumpel Daddy versteht sie nicht, seit ihr der Busen schwillt. Selbstverständlich stolpert das liebe Kind ständig dort herum, wo gerade das Böse seinem Job nachgeht, und muss zeitaufwändig und unter dem Absingen diverser Gefühlsduseligkeiten gerettet werden.

Das Böse ist vor allem blöd

Die Rolle der bösen Hexe geht an eine Power-Frau. Die Chefin von „Utopia“ ist eigentlich gar keine Vertreterin ihres Geschlechts, sondern – pfui! – ein von krankhaftem (= unweiblichem) Ehrgeiz zerfressenes, über Leichen gehendes, ihre natürliche Bestimmung (Ehefrau oder wenigstens Lebensgefährtin, Mutter, gute Freundin) leugnendes Luder. Da folgt in jenem reaktionären Winkel, in dem solche Bestseller ausgebrütet werden, die Strafe zuverlässig auf dem Fuße!

Sie wird vollzogen von „John Doe“, dessen Deckname die Figur mit einer Treffsicherheit charakterisiert, die Autor Child sicher nicht beabsichtigt hat. Doe ist der seelen- und gewissenlose Schurke par excellence; Mord ist sein Geschäft, das er überaus globalisiert und ohne Vorurteile betreibt: Wer ihn bezahlt, bestimmt die Musik und sieht die Puppen nur tanzen aber nicht fallen. So ein eiskalter Schweinehund kann sehr unterhaltsam sein, wie uns Thomas Harris mit Hannibal Lecter bewiesen hat. Doe ist hingegen nur ein Popanz, dessen übermenschliche Bosheit nur behauptet wird. Da kann er seine vertierten Handlanger so viele Touristen killen lassen wie er will – er wirkt dadurch keineswegs eindrucksvoller.

Ebenfalls entlarvend wirkt die Gleichgültigkeit, mit der vom Leser das großzügige Killen unschuldiger Parkbesucher quittiert wird. Dabei reißt sich Child schier in Stücke, diese als unbescholtene, hart arbeitende Handwerker, idealistische Wissenschaftlicher oder brave, liebenswerte Durchschnitts-Bürger zu charakterisieren, die sich im Kreis der Familie ein bisschen verdienten Spaß gönnen möchten. Stattdessen verfolgen wir teilnahmslos, wie profillose, aus billigen TV-Serien importierte Hülsenmenschen und Spießer ihrer Funktion als Kanonenfutter zugeführt werden – je mehr, desto besser!

Autor

Lincoln Child, geboren 1957 in Westport, Connecticut, begann schon früh zu schreiben, entdeckte sein Faible für das Phantastische und bald darauf die Tatsache, dass sich davon schlecht leben ließ. So ging er – nach einem Studium der Englischen Literatur – nach New York und wurde bei St. Martins Press angestellt. Child betreute diverse Autoren des Hauses (darunter einen Naturwissenschaftler namens Douglas Preston) und gab selbst mehrere Anthologien mit Geistergeschichten heraus.

1987 wechselte Child in die Software-Entwicklung. Mehrere Jahre war er dort tätig, während er nach Feierabend mit bereits erwähntem Preston einen Wissenschafts-Thriller namens „Relic“ (dt. „Relic – Museum der Angst“) schrieb. Der Durchbruch mit diesem Werk machte Child zum hauptberuflichen Schriftsteller. Mit seinem Partner verfasste er eine lange Reihe phantastisch-abenteuerlicher Thriller. Die Zusammenarbeit wird fortgesetzt, obwohl sich Child 2002 selbstständig machte und seitdem auch auf Solopfaden wandelt. 2004 zog Preston mit „Codex“ nach.

Selbstverständlich haben Child & Preston eine eigene Website. Hier wird man großzügig mit Neuigkeiten versorgt (und mit verkaufsförderlichen Ankündigungen gelockt).

Taschenbuch: 620 Seiten
Originaltitel: Utopia (New York : Doubleday 2002)
Übersetzung: Ronald M. Hahn
http://www.knaur.de

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