China Miéville – Perdido Street Station

Perdido Street Station: Hört sich das nicht schon an wie ein Gesang, ein Gedicht unheimlicher Gestalten, fremder Wesen und düsterer Welten? China Miéville war für mich ein Unbekannter, als ich das Buch „Die Falter“ auf dem Lesetisch eines Bekannten entdeckte. Ich dachte sofort an eine Sache wie „Der Herr der Fliegen“ oder sowas, aber die glänzenden Augen des Lesers belehrten mich, dass es sich um etwas Besonderes, etwas Herausragendes handeln müsse.

Ich besorgte mir also die Neuausgabe, die dieser Tage bei Heyne erschien. Zum Inhalt schreibt der Verlag: Eine Stadt, eine Welt für sich, ein Moloch: Das ist New Crobuzon, bevölkert von Milliarden Menschen und Mutanten, unterjocht von einem strengen Regime und angefüllt mit den ungezählten Sehnsüchten, Ängsten, Problemen und Kämpfen seiner Bewohner. Als eines Tages ein seltsames Wesen den geheimen Laboren der Stadt entflieht, ahnt niemand, dass dies der Untergang New Crobuzons sein könnte. Auch Isaac Dan dar Grimnebulin ahnt die Gefahr nicht, als er dem Wesen begegnet … (Verlagsinfo)

Der Falter, ein bizarres Wesen, das nicht völlig in unserer Dimension lebt, kann vier seiner Brüder befreien, und das nächtliche Chaos bricht über die Stadt herein. Träume, unheimlich, brutal und aufwühlend, ausgeschieden als „Dünger“ für die Traumwelt der Bürger, verhindern jeden erholsamen Schlaf, ein Schatten liegt über dem Moloch, selbst die durchtriebensten Geschöpfe sind nicht mehr sicher in der Dunkelheit. Und die Gierfalter, unnahbar und gefährlich, ernten ihre Saat, laben sich an den kranken Fantasien ihrer Opfer, trinken sie aus …

Es gibt keine Waffe gegen diese Geschöpfe; denkende Wesen, egal welcher Art oder Gattung, sind machtlos gegen die Kraft der Falter. Der Wissenschaftler Isaac Dan dar Grimnebulin, dem der erste Falter entkommen konnte, ist auf der Spur einer neuartigen Maschinerie, mit der er seinen wissenschaftlichen Durchbruch schaffen und gleichzeitig einem Kunden das Fliegen beibringen will. Er wird gejagt von den einzelnen Machtgruppen der Stadt, die bei ihm die Schuld an der Katastrophe suchen, doch scheint er auf beängstigende Weise der Weg zur Lösung des Problems zu sein.

Die Mächtigen der Stadt suchen nach einer anderen Lösung; sie erhoffen sich Unterstützung von einem Wesen, vor dessen Macht alles andere verblasst. Es sieht schlecht aus, als der Weber eingreift …

Miéville verwendet elegant und trotzdem mit brachialer Gewalt eine Sprache, die reicher nicht sein kann. Reich an Bildern, erdrückenden Gemälden einer düsteren Welt. Brutal in der Charakterisierung der Lebensformen, Gesellschaftsformen und Gerichtsbarkeiten; fremden, mystischen Wissenschaften und „Künsten“ wie das Remading, die Thaumaturgie. Gewaltsam veränderte Lebewesen dienen als Droschken, Söldner, Huren oder anderen Zwecken. Die Thaumaturgie, die teilweise in ihrer Wirkungsweise an die Magie moderner Fantasyromane erinnert, wird in diesem Buch auf geerdete Füße gestellt und vom Mystizismus zur Wissenschaft erhoben, womit Miéville seine Welt vor dem Vorwurf der Fantasy-ierung bewahrt und in einen Bereich rückt, der mittlerweile als Weird Fiction oder Slipstream genrefiziert wird. Zur Zeit seines Erscheinens schwankte man zwischen Science-Fiction und Fantasy, wobei Verfechter jeden Genres dieses Werk zu annektieren versuchten. In der deutschen Erstausgabe wurde er unter dem Label SF veröffentlicht.

Der zweite Teil beschleunigt die Erzählung noch und legt ein rasantes Tempo vor, ohne oberflächlich zu werden. Die Charaktere erhalten unglaubliche Dichte und Präsenz, viele entbehren nicht der dunklen, unmenschlichen Tragik dieser Welt. Da gibt es ein Bild, wo ein flugfähiges, befiedertes, aber doch menschliches Wesen eine Entscheidung fällt. Er steht mit in die Ferne gerichtetem Blick und zupft sich alle Federn einzeln aus. Da gibt es eine Müllhalde von verschrotteten servilen Dienern, künstlichen Intelligenzen und mechanischer Gehilfen, die von einem zentralen Geist gesteuert und vereinnahmt werden – und alles basiert auf Mechanik und Dampf, als mochte der Autor dem derzeit aktuellen Steampunk zugeordnet werden – zeitlos gliedert sich diese Neuerscheinung des im frühen dritten Jahrtausends erschienenen Romans in die aktuelle Mode.

Auf weitere Einzelheiten der Schöpfung Miévilles einzugehen wäre Verschwendung und würde dem Original nicht gerecht. Dass er mit New Crobuzon, dieser unwahrscheinlichen Stadt, in der Dreck und (Glanz)etwas weniger Dreck, Liebe und Mord, Menschen und Fliegen, Termiten und Falter, Weber und KI-Konstrukte (also geistige Macht und thaumaturgische Macht) einen Schmelztopf bilden, das Tor zu seiner Welt Bas-Lag aufstieß und die seltsamste, bedrückendste, aber auch spannendste Weltenschöpfung seit langer Zeit hervorbrachte, macht diesen Roman zu dem Ereignis fiktionaler Literatur unserer Zeit.

Übrigens: Für das Werk erhielt China Miéville den Kurd-Laßwitz-Preis für den besten ausländischen Roman, Eva Bauche-Eppers erhielt den gleichen Preis für ihre grandiose Übersetzung.

Tradepaberback: 848 Seiten
Originaltitel: Perdido Street Station
ISBN-13: 978-3453315396

www.heyne.de

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