Cody McFadyen – Der Menschenmacher

Zwischen Nephilim und Übermenschen: düsterer Thriller

David Rhodes lebt mit zwei anderen Kindern bei einem Mann, den sie Vater nennen. Der Mann hält sie gefangen und stellt ihnen unmögliche Prüfungen, an denen sie wachsen sollen – „evolvieren“, wie er sagt. Wenn sie versagen, wird Vater sehr böse. Oft benutzt er einen Gürtel, manchmal eine Zigarette. Den Kindern bleibt keine Wahl: Wenn sie überleben wollen, müssen sie Vater töten.

Zwanzig Jahre später. David ist ein erfolgreicher Autor. Doch noch immer träumt er jede Nacht von dem schrecklichen Mord, den sie begangen haben. Eines Tages erhält er einen Brief mit einem einzigen Wort:

„Evolviere.“

Vater ist vielleicht doch nicht tot. Die Vergangenheit kehrt zurück. Und mit ihr eine schreckliche Wahrheit. (Verlagsinfo)

Der Autor

Cody McFadyen, geboren 1968, unternahm als junger Mann mehrere Weltreisen und arbeitete danach in den unterschiedlichsten Branchen. Der Autor ist verheiratet, Vater einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Kalifornien. „Die Blutlinie“ war sein erster Roman.

Weitere Romane mit der Protagonistin Smoky Barrett:

2) Der Todeskünstler
3) Das Böse in uns
4) Ausgelöscht
5) Die Stille in uns (2014)

Der Sprecher

Der Schauspieler Hannes Jaenicke glänzte bereits 1984 neben Götz George in dem Kinofilm „Abwärts“. Es folgten zahlreiche TV- und Kinoproduktionen. 1998 erhielt er den Adolf-grimme-Preis. Neben seinen schauspielerischen Aktivitäten engagiert er sich sehr für den Tier- und Umweltschutz.

Regie in den L.A. Tonstudios zu Köln führte Verena Roelvink. Die Musik trug Andy Matern bei. Den Text kürzte Karin Weingart.

Handlung

Prolog

Charly ist in Kambodscha und zieht seine Waffe. Auf der anderen Seite des Platzes steht das Kinderbordell, das er besuchen will. Neben ihm steht sein Adoptivtochter Fung, der aus einem Saigoner Kinderbordell befreit hat. Er geht in das Bordell, in dem ihm San, der esitzer seine „Babyengel“ zeigt. Charly schießt San ins Knie. Dann will er wissen, wie viele der Polizisten in dieses Geschäft verwickelt sind. Als San sagt, dass alle Cops mitmachen würden, schießt er ihn in den Kopf. Dann macht er mit einem weißen Freier weiter, während Fung die Kinder befreit.

Als Charly eine Folterkammer mit Elektrodrähten entdeckt, dreht er vor Wut fast durch. Als das Mädchen Malí ihn fragt, warum er das tue, zeigt er ihr seine eigenen Narben, die ihm von seinem Ziehvater Robert Gray zugefügt wurden. Das überzeugt Malí, aber sie weiß auch, dass die elternlosen Kids schon bald wieder zurückgebracht würden. Fung bringt die Kids nach Vietnam, wo er sie wiedersehen will – bei David Rhodes.

David Rhodes hat in 20 Jahren die Organisation „Innocence Foundation“ für die Befreiung von Kindersklaven und Zwangsprostituierten aufgebaut. Auch er ist von Robert Gray aufgezogen und gefoltert worden. Er hat ein Mädchen namens Kristen adoptiert, was zum Bruch mit seiner frau geführt hat: Er liebt Kristen über alles. Charly ist sein Henker und Befreier, sein Mann fürs Grobe, aber das darf natürlich keiner der Spender und Sponsoren wissen. An dem Tag als ihm eine Visitenkarte mit dem Befehl „Evolviere!“ überbracht wird, werden schlimme Erinnerungen wach. Er muss dringend nach Hause.

Denver, Colorado, und Austin, Texas

In Denver, seinem Hauptquartier, trifft er sich mit Charly und mit Allison, der Ex-FBI-Agentin. Sie sind die drei Kinder, die Robert Gray vor 20 Jahren mit äußerster Härte zu den Übermenschen nach Nietzsche und dem Alten Testament der Bibel formen wollte. Prügel war an der Tagesordnung: „Gelobt sei, was hart macht.“

Aber jedes der drei Kinder hatte sein Versteck und Refugium, ja, sie spionierten ihrem Ziehvater sogar hinterher. Er war ein Polizist in Austin, Texas, und ständig unterwegs. Aus seiner Korrespondenz erfuhren sie, dass es Gleichgesinnte und noch weitere Kinder gab, an denen diese Menschenmacher-Experimente durchgeführt wurden. Als er andeutete, dass er Allison zu seiner Hure machen wollte, beschlossen sie, ihn zu töten.

Nun scheint er aus dem Grab wiederauferstanden zu sein: „Evolviere!“ Das war Grays Standardbefehl. Was die drei schockiert ist ein Video, das auf einer DVD anonym geliefert wird: Diese Unbekannte hat sowohl Fung als auch Kristen in seine Gewalt gebracht. Sie atmen noch, sind also offenbar betäubt, wie sie da auf ihren Krankenhaustragen liegen.

Wenn sie nicht sterben sollen, müssen die drei einen Auftrag ausführen: „Tötet diese Frau binnen 36 Stunden!“ lautet die Forderung. Die Frau ist Ärztin und Inhaberin einer Klinik für Abtreibung in einem Bezirk von Austin. Es ist offensichtlich Charlys Job, den Mordauftrag auszführen. Gleichzeitig werden David und Allison versuchen herauszufinden, wer dieser Irre ist, der sich genauso benimmt wie einst Robert Gray.

Doch dann wird auch Allison entführt …

Mein Eindruck

Es ist nicht einfach, der zentralen Handlung zu folgen, wenn sie andauernd durch Rückblenden unterbrochen wird. Deshalb ist meine Inhaltsangabe lediglich als Annäherung zu verstehen, als eine Rekonstruktion. Die Geschichte, die der Autor erzählt, ist völlig anders aufgebaut. Aber sie würde banal erscheinen, wenn man sie geradlinig wiedergeben würden. Denn es sich ja gerade die Rückblenden, die der ganzen Geschichte ihren tieferen Sinn verleihen. Und dann würde das Finale mit seiner überraschenden Wendung völlig unverständlich erscheinen.

David und Charly wurden zusammen mit Ally als „Übermenschen“ gemäß der Vorstellung Friedrich Nietzsches – oder was Bob Gray daraus gefiltert hat – erzogen und ausgebildet. Nach seinem Tod wollen sie bessere Menschen sein, und sowohl David, dem Menschenretter, und Ally, die Serienmörder verfolgt, gelingt dies auch. Charly hat nicht so viel Glück: Ereignis tötet für David diejenigen, die Kinder auf dem Gewissen haben. Und man braucht nicht lange nach demjenigen zu suchen, der Bob Gray getötet hat.

Doch dann scheint Gray, ihre Nemesis, wiederaufzuerstehen und ihnen noch schlimmere Dinge anzutun. Ja, ihre ganze Glaubwürdigkeit und Selbstachtung als Menschenretter geht zum Teufel, sollten sie die Verbrechen begehen, zu denen ie genötigt werden. Sie ahnen nicht, dass ihnen aus einem anderen Erziehungsexperiment zwei Feinde erwachsen sind, gegen die sie nun zu kämpfen haben. Der Kampf ist spannend und für die drei steht alles auf dem Spiel.

Dritte Ebene

Der Clou besteht darin, dass es noch eine weitere Ebene gibt. Weder Bob Gray noch sein Bruder John sind allein verantwortlich für die Menschenexperimente, sollen sie nun den Übermenschen oder den Nephilim produzieren. (Nephilim sind die Nachkommen aus der Vereinigung von Engeln mit sterblichen Frauen.) Diese höhere Ebene ist noch furchterregender, als es Bob Gray bereits ist. Mit dem Argument, Agenten als „Schläfer“ in Ländern rund um die Welt platzieren zu wollen, rechtfertigt dieser Menschenmacher seine skrupellosen Argumente. Zweck ist die totale Aufhebung der Privatsphäre der Zielpersonen durch solche Schläfer. Das ist noch schlimmer als die Ausspähung durch NSA.

Schwächen

Der kritische Ansatz der Geschichte ist also zweifellos vorhanden. Im Finale werden alle Geheimnisse, die den Leser bzw. Hörer bei der Stange gehalten haben, gelüftet und ein Abschluss herbeigeführt. Aber es ist dem Autor gelungen, seine Hauptfiguren glaubwürdig und interessant zu gestalten? Mich haben die Figuren jedenfalls nicht berührt und interessiert. Sie sind unsympathisch, obwohl sie eigentlich Mitgefühl wecken sollten. Und weil sie unsympathisch sind, kann man auch nicht Davids oder Charlys mehr oder wenige illegale Rettungsaktionen unterstützen, geschweige denn absegnen.

Interessant wird die Sache erst, als das Trio selbst unter massiven Druck gerät, Verbrechen zu begehen. Das Leben ihrer Liebsten steht auf dem Spiel. Das macht die Handlung spannend, denn die Frage lautet nun: Sind unsere drei „Übermenschen“ qualifiziert genug, um es mit dem ultimativen Bösen aufzunehmen? Die Konfrontation ist ausweichlich. Deshalb konnte ich die zweite Hälfte des Buches auch gespannt verfolgen, während ich in der ersten Hälfte erhebliche Startprobleme hatte.

Der Sprecher

Der Sprecher Hannes Jaenicke verfügt über eine sehr tiefe, raue Stimme, die wie geschaffen ist für ein finsteres Garn wie diesen Thriller. So könnte auch ein James Bond sprechen (den synchronisiert allerdings Dietmar Wunder).

Andererseits gibt es zahlreiche Szenen unter den drei befreundeten Kindern, die voller Emotion, Zuneigung und Zärtlichkeit sind. Dafür fand ich Jaenickes Stimme ungeeignet, ja sogar kontraproduktiv, denn sie überträgt die Bedrohlichkeit der Thrillerszenen auf die Szenen menschlicher Zuneigung, und das ist unangemessen sowie verwirrend.

Das ist der Grund, warum Jaenicke Bob Gray, Verbrecher und Revolvermänner wie Charly optimal darstellt, Frauen und harmlose Männer wie David hingegen nicht. Er hebt seine Stimme, um die Tonlage einer Frau nachzuahmen, doch es wirkt unecht.

Musik

Geräusche gibt es keine, aber dafür regelmäßig ein wenig Musik. Das unheimliche Intro-Motiv wird am Ende jeder CD angespielt und danach heruntergefahren, bis es verstummt. Ein weiteres wiederkehrendes Motiv ist eine Flötenkombination, die leitmotivisch weiblichen Figuren wie Allison und Fung zugeordnet ist.

Unterm Strich

Wer eine Geschichte um Smoky Barrett erwartet, ist hier auf dem falschen Dampfer. Dies ist ein sogenannter Standalone-Roman, der keinerlei Verbindung zu Barretts Hintergrund aufweist. Dieser Ansatz muss nicht schlecht sein, denn er kann auch mit Neuerungen und frischen Ideen verbunden sein.

Es ist auch nicht verkehrt und sogar reizvoll, die drei „Übermenschen“ gegen die beiden „Nephilim“, die in einem anderen Erziehungsexperiment geformt wurden, antreten zu lassen. (Dass beide Experimente mit unendlich viel menschlichem Leid verbunden sind, ergibt sich aus der unnatürlichen Versuchsanordnung.) Dieses Match, bei dem die Einsätze hoch sind, zu verfolgen, erweckt einiges an Spannung, und der Ausgang ist ungewiss bis zum Finale.

Doch dann kommt noch eine unerwartete Wendung hinzu, die die ganze Anordnung auf eine höhere Ebene hebt. Dort wird die ganze Geschichte relevant für das Schicksal der amerikanischen Nation, aber auch für den Rest der Welt: 25 weitere „Schläfer“, die aus solchen Experimenten hervorgingen, sind überall in der Nähe wichtiger Persönlichkeiten platziert und bereit loszuschlagen.

Das erinnert mich an den Agentenfilm „Salt“, in dem Angelina Jolie das Produkt einer solchen Schläfer produzierenden Anstalt spielt, bereit, auf einen geheimen Befehl hin loszuschlagen. Der Clou: Es gibt noch einen Schläfer, und zwar in unmittelbarer Nähe des Präsidenten. McFadyens Szenario ist also keineswegs unrealistisch. Leider ist es weitaus weniger unterhaltsam inszeniert.

Das Hörbuch

Die Lesung von Hannes Jaenicke hat mich keineswegs für die drei Hauptfiguren eingenommen, obwohl dies die Hauptbedingung ist, um die Geschichte interessant zu findet. Weil ich keinen Anteil an ihrem Werdegang in den vielen Rückblenden nehmen konnte, fand ich die Geschichte uninteressant, bis sie selbst in die Klemme gerieten. Jaenicke ist am besten dann, wenn eine Szene gefährlich ist und es zu Gewalt kommt. Wo zwischenmenschliches Mitgefühl oder gar Zärtlichkeit auftritt und deren angemessener Ausdruck gefragt war, blieb er hinter meinen Erwartungen zurück. Die Musik ist lediglich bedeutungslose Garnierung und blieb bei mir ohne jeden Eindruck.

6 Audio-CDs mit 442 Minuten Spieldauer
Originaltitel: The Innocent Bone (2010)
Aus dem US-Englischen übersetzt von Axel Merz
ISBN-13: 978-3785744482

www.luebbe.de

Der Autor vergibt: (3/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (1 Stimmen, Durchschnitt: 4,00 von 5)