William L. DeAndrea – Schneeblind

deandrea-schneeblind-cover-kleinIn einem abgelegenen Berghaus wird ein heikler Deal besprochen. Der Gastgeber wird umgebracht, der Mörder/die Mörderin muss sich unter den Anwesenden befinden, weshalb der ebenfalls anwesende ‚Problemlöser‘ Matt Cobb provisorisch ermittelt … – Mit dem sechsten Roman der Cobb-Serie beweist Autor DeAndrea, dass sich der klassische Whodunit mit der Krimi-Gegenwart verknüpfen lässt. Das Ergebnis ist genrefest aber letztlich doch ein wenig kalkuliert und arm an Spannung.

Das geschieht:

Gabriel B. „Gabby“ Dost, ein ebenso mächtiger wie skrupelloser Geschäftsmann, plant seinem ohnehin gewaltigen Wirtschaftsimperium das „Network“, einen kleinen aber feinen Fernsehsender in New York, einzuverleiben. Er lädt einige Mitglieder der Führungsetage in seinen Landsitz „Rocky Point“ in den Adirondacks ein, um dort in Ruhe die Übernahme zu besprechen. Zur Gruppe gehört auch Matt Cobb, der für das „Network“ die Abteilung für ‚Sonderprojekte‘ leitet, in der „alles landet, was für die Rechtsabteilung zu unbequem und für Public Relations zu heikel ist“ (S. 11). Er reist mit, nachdem alle Vorstandsmitglieder des „Networks“ ein anonymes Schreiben erhielten, das Dost diverser Verbrechen anklagt. Vor Ort soll Cobb klären, ob die Beschuldigungen womöglich zutreffen.

„Rocky Point“ entpuppt sich als einsam in den Bergen gelegenes, pseudo-viktorianisches Schloss. Die Besucher erreichen gerade noch ihr Ziel, bevor dichte Schneefälle sie von der Außenwelt abschneiden.

Angesichts der bevorstehenden Fusion versucht jeder seine Schäfchen ins Trockene zu bringen. Aber im Morgengrauen platzt das Geschäft: Dost liegt erschlagen im Schnee vor seinem Landsitz. Weil die Polizei das Haus nicht erreichen kann und der Mörder definitiv eine der anwesenden Personen ist, beginnt Cobb mit einer improvisierten Ermittlung. Die Befragung der Gäste und des Personals bleibt ergebnislos. Stattdessen beschuldigt Barry, Dosts offensichtlich geistesgestörter Sohn, Cobb des Mordes an seinem Vater. Diesem Knalleffekt folgt wenig später ein Todesschuss, was die Ermittlungen auf eine neue, vor allem für Cobb lebensgefährliche Ebene bringt …

„Wer war es“ – eine zeitlose Frage

Wer hätte gedacht, dass es so etwas heutzutage noch gibt: „Schneeblind“ ist ein Krimi-Puzzle nach klassischem Vorbild, ein „Locked-Room“-Rätsel à la Conan Doyle, Agatha Christie oder John Dickson Carr, obwohl entstanden im Jahr 1990, als das Goldene Zeitalter des gepflegten Landhaus-Krimis seit Jahrzehnten vorüber war. Etwa bis zum Zweiten Weltkrieg hatten sie Hochkonjunktur, jene liebevoll und höchst kompliziert gesponnenen Garne, in denen ein Mord in einem unzugänglichen Raum – oder eben auf einer unberührten Schneefläche – geschieht und sämtliche Anwesenden gleichermaßen verdächtigt werden, bis ein genialer Detektiv Schritt für Schritt das Geheimnis lüftet, auf den letzten Seiten alle Verdächtigen in einem Raum versammelt und enthüllt, wer mit welcher diabolischen Raffinesse und wider allem Augenschein die Tat begangen hat.

William L. DeAndrea hat sich des ehrwürdigen Musters bedient und es auf den aktuellen Stand gebracht. In seiner Geschichte treten keine verschrobenen Wissenschaftler, versnobten Adligen oder knarzigen Colonels im Ruhestand auf. Auch sonst räumt DeAndrea mit Stereotypen des klassischen Kriminalromans auf. Ganz aktuell geht es um die Übernahme eines Fernsehsenders und die damit verbundenen Intrigen und Machtspielchen.

Höchstens als ironische Reminiszenz an die verehrten Vorbilder lässt DeAndrea ein weltfremd-beschränktes Dienerpaar auftreten, scheut sich aber nicht, beim Namen zu nennen, was dem Leser diverser Ellery-Queen- oder Hercule-Poirot-Romane – die Liste kann beliebig verlängert werden – wahrscheinlich schon während des genannten Goldenen Zeitalters durch den Kopf gegangen sein müsste; dass nämlich solche Figuren, sollte man ihnen in der Realität über den Weg laufen, mit Fug und Recht als hinterwäldlerische Trottel bezeichnet werden dürfen.

Ein ehrenwerter Versuch

Volker Neuhaus, Herausgeber der verdienten, leider nicht mehr fortgesetzten „DuMont‘s Kriminal-Bibliothek“, markiert in einem Nachwort DeAndreas Standort in der Kriminalliteratur und gibt einen Abriss über die Vorbilder und Quellen, aus denen Verfasser schöpfte. Er nennt William L. DeAndrea den „vielleicht legitimsten Enkel“ (S. 271) klassischer Vorbild-Autoren wie Agatha Christie, Ellery Queen oder Dorothy Sayers.

Neuhaus erwähnt ebenfalls richtig, dass die Qualität eines „Locked-Room-Mysterys” nicht an der Originalität des Plots gemessen wird: „Die Tatsache, dass ein Charakteristikum des Kriminalromans in der Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente liegt, verleiht dem Genre sogar das ästhetische Niveau.“ (S. 273); dies ist übrigens ein Zitat von Bertold Brecht.

Nicht in dieser Beziehung kann man DeAndrea einen Vorwurf machen. Er schürzt seinen Gordischen Knoten und löst ihn am Ende zufriedenstellend wieder auf. Dennoch muss man feststellen, dass „Schneeblind“ recht spannungsarm daherkommt. Es fehlt ein Element, das die alten Vorbilder, an denen sich der Autor so sorgfältig orientierte, nach Jahrzehnten frisch und unwiderstehlich bleiben lässt – die Nostalgie, d. h. jene Freude an einer untergegangenen und ‚unschuldigen‘ Ära, die es so nie gegeben hat und gerade wegen dieser realitätsfernen Künstlichkeit geliebt wird. „Schneeblind“ macht unfreiwillig deutlich, dass das Goldene Zeitalter definitiv vorüber ist.

Abschluss-Schwächen

Echte Schwächen stellen sich gegen Ende des Romans ein. Die Auflösung ist matt; hier hilft nicht einmal der Hinweis auf das Spiel mit dem Klischee, um den Verdruss zu vertreiben. Der eigentliche Schluss ist wenig spektakulär und schleppt sich zudem über zu viele Seiten hin, bis er Held und Heldin endlich in ein goldenes Happy-End entlässt.

„Schneeblind“ ist deshalb ein Roman, mit dem man gut einige Stunden in der Bahn oder am Strand (oder im Ski-Urlaub) verbringen kann. Allerdings ist damit zu rechnen, dass man sich schon wenige Tage nach der Lektüre an kein Detail der Handlung mehr erinnern kann.

Autor

Nur 44 Jahre wurde William Louis DeAndrea (1952-1996) alt. Sein früher Tod nach schwerer Krankheit ist traurig für das Genre Kriminalroman, gehörte er doch nicht nur zu dessen großen Autoren, sondern war auch ein Kenner der Materie. DeAndrea, der Krimi-Fachmann und Kritiker, verfasste mit seiner „Encyclopedia Mysteriosa“ eines der wichtigsten Sekundärwerke zur Krimigeschichte. Dafür wurde er mit einem „Edgar Award“ der „Mystery Writers of America“ ausgezeichnet; nicht zum ersten Mal übrigens: DeAndrea ist der einzige Schriftsteller, der dreimal (1978, 1979, 1996) mit dem begehrten Preis ausgezeichnet wurde.

Der Krimi war sein Leben. Das ist keine Phrase, sondern die Realität. DeAndrea war ein Süchtiger, aber er las nicht nur, sondern begann sich früh damit zu beschäftigen, wie das Genre ‚funktionierte‘. Er fand es nicht nur heraus, sondern berücksichtigte es mit seltener Meisterschaft selbst, als er 1978 als 25-jähriger mit „Killed in the Ratings“ (dt. „Abgedreht“/„Im Netz der Quoten“) – gleichzeitig der erste Roman der Matt-Cobb-Serie – debütierte, sogleich seinen einen „Edgar“ als bester Nachwuchsautor des Jahres gewann und sich daran machte, seinen Ruf mit weiteren bemerkenswerten Werken zu festigen und auszubauen.

DeAndreas Liebe galt dem traditionellen Detektivroman der „Goldenen Ära“, die zwischen den beiden Weltkriegen ihre große Zeit hatte. Ein zwar verwickelter aber logisch nachvollziehbarer Plot und Fairness gegenüber den miträtselnden Lesern galten als unverzichtbare Tugenden. Daran hielt sich DeAndrea, der gleichzeitig selbstverständlich wusste, dass die Zeit dieser Krimis vorbei war. Ihm gelang das Kunststück, sie zeitgemäß neu zu kreieren, indem er die Konventionen wahrte und doch niemals leugnete, dass seine Storys im 20. Jahrhundert spielten. Matt Cobb, sein wohl bekanntester Held, ermittelt als Angestellter eines Fernsehsenders. Fester im Hier & Jetzt kann er kaum verwurzelt sein.

18 Jahre blieben DeAndrea, um ‚seine‘ neue-alte Nische auszuloten. Glücklicherweise war er ein fleißiger Mann, der zudem Thriller verfasste und sich auch an der Science Fiction versuchte. Auch die Ehe schloss er standesgemäß und heiratete die Kollegin Orania Papazoglou (geb. 1951), die sowohl unter ihrem Namen schreibt, als auch u. a. als „Jane Haddam“ mit ihrer Serie um den armenischen Ex-FBI-Mann und unwilligen Privatdetektiv Gregor Demarkian bekanntgeworden ist.

Taschenbuch: 276 Seiten
Originaltitel: Killed on the Rocks (New York : Mysterious Press 1990)
Übersetzung: Birgit Lamerz-Beckschäfer
Titelbild: Pellegrino Ritter
http://www.dumont-buchverlag.de

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