Seldon Truss – Ein Toter meldet sich

Als ein junger Kriminalreporter eine übel beleumundete Kaschemme erbt, kommt es dort zu Raub und Mord. Im Wettlauf mit Scotland Yard ermittelt der Reporter im Alleingang, wobei ihn eine hübsche Pfarrerstochter unterstützt. Dabei geraten die neugierigen Amateure in gefährliche Situationen … – Nicht klassischer aber sehr solider „Whodunit“ der britischen Krimi-Schule, dessen Plot aus heutiger Sicht ein wenig zu leicht durchschaubar gerät, was trockener Witz und unterhaltsam überzeichnete Figuren weitgehend wettmachen können.

Das geschieht:

Auf der Straße nach Lavender Hill, einem kleinen Vorort von London, wird Fred Horace, der die Spelunke „Rettungsanker“ führte, überfahren und tot aufgefunden. Der alte Mann hat ein seltsames Testament hinterlassen: James, sein Neffe, den er vor acht Jahren zuletzt sah, soll den „Rettungsanker“ erben, wenn er die Gaststätte mindestens sechs Monate als Wirt führt. Der junge Mann, der als Kriminalreporter für ein Boulevardblatt arbeitet, lässt sich darauf ein.

Über der Gastwirtschaft lebt die Alkoholikerin Sandra Sutherland, die mit Onkel Horace verbandelt war. Als James ihr einen Besuch abstatten möchte, findet er sie tot in ihrem Bett. Die Gasleitung wurde manipuliert, Sandra ermordet. Das ruft Chefinspektor Gidleigh von Scotland Yard auf den Plan. Bedächtig beginnt er seine Ermittlung, bei der ihm der neugierige James mehrfach in die Quere kommt. Der hat inzwischen den aufdringlichen James Whittaker kennen gelernt, der angeblich als Handlungsreisender tätig ist und unbedingt im „Rettungsanker“ Logis nehmen wollte. James will klären, warum dies so ist. Ungebeten unterstützt wird er durch die neugierige Pfarrerstochter Felicia, die sich ebenfalls als Detektivin versuchen möchte.

Als James und Felicia den verdächtigen Mr. Whittaker per Auto beschatten, lockt der sie in die Docks von London. Er fragt James (erfolglos) über die Angelegenheiten des verstorbenen Onkels aus und lässt ihn gefangen zurück, um ungestört den „Rettungsanker“ zu durchstöbern. James kann von Felicia befreit werden, und das Paar kehrt gerade rechtzeitig zum nächsten Mord nach Lavender Green zurück.

Die Zeit drängt, findet auch auch Chefinspektor Gidleigh, denn die nächtlichen Aktivitäten in und um das alte Gasthaus lassen keineswegs nach, und die nächste Leiche lässt nicht lange auf sich warten …

Rätselhafter geht Krimi kaum

Nichts ist so altmodisch wie ein britischer Rätsel-Krimi aus der klassischen Ära dieses Genres. „Ein Toter meldet sich“ ist sogar noch angestaubter, denn als dieses Buch veröffentlicht wurde, ging es im Kriminalroman schon längst wesentlich härter und ungeschminkter zur Sache. Allerdings wohnt diesen „Whodunits“ eine bemerkenswerte Zeitlosigkeit inne, wenn sie denn unter Beachtung der geltenden Regeln und von einem fähigen Autor niedergeschrieben wurden. Seldon Truss ist unter dieser Prämisse im Mittelfeld anzuordnen. Er gehört zu den zumindest in Deutschland vergessenen Krimi-Schriftstellern, obwohl sein einschlägiges Werk durchaus titelreich ist; allein die Serie um Chefinspektor Gidleigh von Scotland Yard, dessen 18. Abenteuer wir hier lesen, umfasst insgesamt 23 Bände.

„Ein Toter meldet sich“ enthält alle Elemente, die der Freund des Miträtselns so liebt. Die Kulisse ist quasi kein Ort von dieser Welt. In Lavender Hill scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Im Zentrum dieser reizvoll nostalgischen Kulisse erhebt sich der „Rettungsanker“, eine mysteriöse Gastwirtschaft mit vielen, verwinkelten und schwer zugänglichen Räumen, in denen des Nachts Seltsames vorgeht: „Whodunit“ und Mystery waren schon immer literarische Nachbarn.

Dass der erfahrene Leser den Ausgang der Geschichte schon etwas (zu) früh ahnt, liegt zum einen am aus heutiger Sicht recht durchsichtig gestrickten Plot mit seinen genretypisch fairen, aber eben ziemlich auffällig eingestreuten Hinweisen. Den Rest gibt ihm der ungeschickt gewählte deutsche Titel.

Gegenwart muss draußen bleiben

Die formelhafte Gestaltung der Figuren muss ihren Teil dazu beitragen, dass die Geschehnisse länger als nötig ungeklärt bleiben. Onkel Freds großer Coup und die Attacken seiner Gegner sind von herzerfrischender Naivität. Um 1960 dürften sich echte Gauner über ihre jeweiligen Pläne amüsiert haben.

In Lavender Hill leben freilich in kriminalistischer Beziehung durchweg unbedarfte Zeitgenossen. Die Dorfprominenz repräsentiert der Pfarrer, der direkt dem 19. Jahrhundert entsprungen zu sein scheint. Er ignoriert die Gegenwart mit ihren gewandelten moralischen Grundsätzen völlig und vergräbt sich in seiner kleinen klerikalen Welt.

Nicht klüger, sondern nur neugieriger ist seine Tochter Felicia, die in unserer Geschichte die weibliche Hauptrolle übernimmt. Sie langweilt sich in ihrem Heimatdorf und stürzt sich deshalb mit Wonne auf die Rolle der Privatdetektivin, in der sie jedoch kläglich dilettiert und im Grunde nur dafür zuständig ist, durch voreilige Entscheidungen für gefährliche aber spannende Zwischenfälle zu sorgen. Insofern ist es gerechtfertigt, dass Felicia im Finale eben nicht wie erwartet dem rasenden Reporter James Horace in die Arme sinkt, sondern allein zurückbleibt.

Rasender Reporter im Dauerstress

Der junge James ist selbstverständlich ein Zeitungsmensch, der aus den üblichen Klischees besteht. Er lebt nur für die nächste Story, der er mit Feuereifer und ohne Rücksicht auf Vorschriften hinterher jagt. Die eindimensionale Dramaturgie dieses Romans erfordert es, dass prompt immer neue Leichen auftauchen, sobald James den „Rettungsanker“ übernimmt. Seine Dynamik wirkt indes aufgesetzt, denn er stümpert kriminalistisch genauso herum wie die lästige Felicia.

So ist es womöglich klug von Chefinspektor Gidleigh, immer wieder auf seinen Status als Polizist und Profi in Sachen Verbrechen zu pochen. Da er sich mit Erklärungen sehr zurückhält und auch uns Lesern nie mitteilen mag, was in seinem Kopf vorgeht, darf er sich nicht wundern, dass niemand auf ihn hört. Die Zeit für Gidleighs Appelle an Moral und Zurückhaltung ist sogar in der Märchenwelt von Seldon Truss längst vorbei.

Erst im großen Finale lässt sich Gidleigh über seine Ermittlung aus. Wie es sich gehört, hat er zuvor alle Verdächtigen zusammenkommen lassen. Mit für die Leser (und die Täter) quälender Langsamkeit erklärt er, wie die Ereignisse zu deuten sind, mit denen uns Verfasser Truss zuvor konfrontiert hat. Obwohl wir wie schon beklagt ahnen oder sogar wissen, wer die Dunkelmänner sind, gelingen dem Autoren auf diesen letzten Zeilen doch ein, zwei Überraschungen, die zwar für die Story nicht unbedingt notwendig sind, sie aber schön rund machen.

Kriminelle und komische Käuze

„Whodunit“-typisch bevölkern allerlei drollige Zeitgenossen Lavender Hill. Ein gutes Beispiel für den unaufdringlichen, gut getimten und manchmal sogar schwarzen Humor, den Truss immer wieder einfließen lässt, ist die Doppelidentität der Ardmore-Schwestern, die von lieben, viktorianisch vertrockneten Großmütterchen zum ausgekochten Gaunerduo mutieren. Auch die Folgen des Entschlusses, den toten Onkel Fred mit einem schweren Lastwagen mehrfach zu überrollen, werden ebenso liebe- wie geschmackvoll ausgemalt: britischer Humor ist unvergleichlich.

Unterm Strich stellt „Ein Toter meldet sich“ eine dieser seltenen Entdeckungen dar, die dem eifrigen Leser von Kriminalromanen nicht sehr häufig gelingen und die ihn (oder sie) nach weiteren Werken desselben Verfassers Ausschau halten lassen. Eine Sensation bedeutet diese Ausgrabung nicht, aber sie bringt einen Schriftsteller zurück ins Tageslicht, der es nicht verdient hat, im literaturgeschichtlichen Nirgendwo verloren zu gehen!

Autor

Über das Leben von Leslie Seldon Truss ist – obwohl es beinahe ein Jahrhundert währte – nicht viel bekannt. Geboren wurde er 1892, und zunächst zog es ihn zum gerade erfundenen Film: Truss gehört zu den Gründergestalten des britischen Kinos, für das er in den 1910er und frühen 20er Jahren als Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur tätig war.

In den 1920er Jahren begann Truss eine zweite Karriere als Schriftsteller. Erfolg hatte er mit seinen Kriminalromanen, von denen der erste („The Stolen Millionaire“) 1929 erschien. Sieben Jahre später schuf Truss mit dem Scotland-Yard-Beamten Gidleigh eine Serienfigur, die zwischen 1936 und 1965 in 23 Romanen – klassischen „Whodunits“ – auftrat.

1969 beschloss Truss – der auch einige Bücher unter dem Pseudonym „George Selmark“ veröffentlichte – seine Schriftsteller-Laufbahn mit dem Roman „The Corpse That Got Away“. Sein Ruhestand währte lange, denn Sheldon Truss starb erst 1990 im gesegneten Alter von 98 Jahren.

Taschenbuch: 187 Seiten
Originaltitel: One Man’s Death (London : Robert Hale 1960)/One Man’s Enemies“ (New York : Garden City, published for the Crime Club by Doubleday 1960)
Übersetzung: Maria Meinert
http://www.fischerverlage.de

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