Fried, Amelie – Liebes Leid und Lust

Fried hat eine ungewöhnliche Frauenfigur geschaffen: Hanna befindet sich im seelischen Exil, in einer Entfremdung, die sie überwinden muss – und schließlich auch kann. Doch der Weg dorthin ist lang und gepflastert mit Hindernissen: Der Mann, den sie liebt, ist verheiratet.

Der Titel

Der Titel des Buches ist von Shakespeares Liebeskomödie abgeleitet: Leider wird deren Originaltitel „Love’s Labor Lost“ im Deutschen meist mit „Verlorene Liebesmüh“ wiedergegeben. „Liebes Leid und Lust“ ist doch viel schöner!

Näheres zur Autorin gibt es am Ende dieser Rezension.

Handlung

Hanna ist eine junge Schauspielerin, die sich gerade mit ihrem Stiefbruder Jo auf eine Amerikareise begeben hat. Sie lebt mit ihm zusammen, doch die Beziehung ist, nach einem erotischen Fehlstart, platonisch. Die Reise wurde von ihrer Mutter und ihrem Stiefvater bezahlt, es gibt also keine Probleme. Sollte man meinen.

Lustvoll cruisen die beiden Filmfreaks Jo und Hanna mit einem Kultauto über die Highways von Los Angeles, als sich ein paar seltsame Dinge ereignen. Hinter einem Schnellrestaurant holt Hanna ohne mit der Wimper zu zucken einem LKW-Fahrer einen runter – und lehnt die Bezahlung ab. Als Jo und Hanna den Mulholland Drive, die Straße der Reichen hoch über der Stadt, befahren, will Hanna eigentlich nur die tolle Aussicht genießen: endlich im David-Lynch-Land! Doch irgendwie kommt der Wagen ins Rollen und Hanna rollt mit, in den Abgrund. War es ein Unfall oder Absicht?

Eigentlich hätte diese Nahtoderfahrung Hanna ein wenig auf den Teppich bringen sollen, aber das scheint nicht der Fall zu sein, wie ihre Mutter besorgt feststellt. Daher schickt sie Hanna in psychotherapeutische Behandlung, und die tut ihr den Gefallen, um sie zu beruhigen. Doch der Seelenklempner ist alles andere als ein hässlicher Ignorant: Als Hanna André kennen lernt, trifft sie die Liebe wie ein Blitzschlag.

Und obwohl André schon gute 40 Jahre alt und zufrieden verheiratet ist und einen halbwüchsigen Sohn hat, zeigt auch er sich von Hanna nicht unbeeindruckt: Zunächst befreit er sie vom Trauma ihrer Kindheit, als sie ihre Schwester verlor und sich die Schuld an deren Tod gab; als sie ihren Vater verlor, der in eine Heilanstalt ging. Was Hanna noch nicht ahnt: André ist der Mann einer Auftraggeberin, die als Casting-Agentin Hanna ein paar lukrative TV-Aufträge verschafft hat.

Als André sich zusehends in seine verführerische, burschikose, ein wenig manipulative Patientin verliebt, bekommt er es mit der Angst zu tun. Wie kann eine Behandlung möglich sein, bei der der Behandelnde nicht mehr objektiv sein kann? Er bittet seinen Betreuer um Rat, dann bricht er die Behandlung ab. Hanna ist schwer enttäuscht.

Doch Amors Wege sind unerforschlich. Auf Umwegen wieder zusammengeführt, stürzen sich Hanna und André in eine leidenschaftliche Affäre, die alles zu vernichten droht, was den beiden bislang teuer war: Familie, Liebe, Freundschaft, Arbeit. Alleine schon die Affäre zu verbergen, kostet schier übermenschliche Anstrengung, die zuweilen aber für uns komische Aspekte aufweist.

Doch das psychische Erdbeben führt auch zu etwas Gutem. So findet Hannas Vater aus seiner eigenen privaten Hölle wieder zurück in den Kreis seiner früheren Familie. Und wer weiß: Vielleicht findet Hanna endlich den Richtigen. Bei einer Theateraufführung der Shakespeare-Komödie kommt es jedenfalls erst einmal zum großen Knall…

Mein Eindruck

Dieser Roman will unterhalten. Das ist keine verwerfliche Absicht und gelingt auch hundertprozentig. Die Perspektiven der beiden Hauptfiguren Hanna und André wechseln sich ab – sogar die wörtliche Rede ist unterschiedlich wiedergegeben (mal mit, mal ohne Gänsefüßchen). Hanna erzählt in der Ich-Form, André wird in der Er-Form geschildert – eine im deutschen Unterhaltungsroman recht seltene Kombination, vielleicht sogar ein Experiment.

Die Sätze lesen sich flüssig und die Wörter lösen keine stilistischen Folterspuren aus – hier war eine hervorragende Lektorin am Werk, da steckt viel Arbeit am Text drin (siehe die Anmerkung zu „Autorin“). Daher ist es also vielmehr der Inhalt der Sätze, der den Leser stutzig macht. Wie schon der zweite Absatz des Handlungsabrisses klar machen dürfte, ist der Roman nicht für Kinder geeignet, noch nicht einmal für Zwölfjährige. In diesem Buch treffen ungewöhnliche Lebenserfahrungen und -einstellungen aufeinander. Das ist einer der Gründe, warum es so spannend zu lesen ist.

Hanna und ihr leiblicher Vater befinden sich in einem seelischen Exil. Doch im Unterschied zu ihrem Vater tut Hanna so, als sei alles in Ordnung. Ihre Beziehung zu ihrem Stiefbruder Jo, einem Junkie und Filmstudenten, ist jedoch lediglich platonisch. Eine echte Liebesbeziehung kennt Hanna nicht.

Daher kommt ihr André, der sich in festen Händen befindet, gerade recht. Aber warum sollte sie sich ihm öffnen und sich somit verletzbar machen? Ihre Standardstrategie bei Männern sieht die Manipulation, das Spiel, ja sogar das Schauspielern – das ist ihr Job – vor. Leider ist ihr Standard mit dem einer therapeutischen Behandlung unvereinbar. André entpuppt sich als harte Nuss, eine Herausforderung, die Hannas Lebensgeister weckt. Doch von André Besitz zu ergreifen erfordert etwas, das Hanna schon lange nicht mehr entwickelt hat: echte Hingabe und wahre Gefühle.

André seinerseits gerät in schwere Turbulenzen, die sein Leben in Mitleidenschaft ziehen. So eine Liebesaffäre mag ja sehr befreiend sein, denn viele erotische Wünsche lassen sich erfüllen. Doch wenn man dann wieder auf den Teppich zurückkehrt, kann die Landung ganz schön hart ausfallen: Liebe bedeutet eine große Verantwortung, wie nicht nur er herausfinden muss. Sein Kumpel, ein Bruder Leichtfuß, vögelt sich munter durch Deutschlands Bordelle (wie täglich eine Million anderer Männer), doch André sieht stattdessen sein Leben zerbröseln, als ihm seine Frau die Schliche kommt. Hanna macht eine ähnliche Erfahrung, als Jo ihr aus Eifersucht die Freundschaft kündigt.

Bis alle Beteiligten ihre jeweiligen Transformationen durchgemacht und zu neuen Horizonten gefunden haben, vergehen etliche hundert Seiten. Aber diese sind so interessant und fesselnd geschrieben, dass die Lesezeit wie im Fluge vorbeigeht. Die Autorin hört immer stets dann auf, wenn sie in Gefahr gerät, zu viel zu verraten. Der Leser weiß als Beobachter selten mehr als die Figuren. Insofern tauchen selten ironische Momente auf. Vielmehr liest sich der Roman streckenweise wie ein Drama der Leidenschaften.

Um nun aber nicht in Mord und Totschlag oder gar deutschen Bierernst zu münden, hat sich die Autorin einige Kniffe einfallen lassen, um dieses Abrutschen zu verhindern – schließlich könnte dies ja eine Shakespeare’sche Liebeskomödie sein. Wie gesagt, sind dies zum einen die ungewöhnliche Heldin, die zu Anfang mit ihrer psychischen Dissoziation für Verblüffung, wenn nicht sogar Erschrecken sorgt. Später sorgt ihre zynische Art, die Dinge zu sehen, für erfrischende Bemerkungen über Einstellungen und Figuren, die ansonsten vielleicht abgedroschen gewirkt hätten: Dreiecksgeschichten – gibt es etwas Alltäglicheres und Banaleres? Doch das Innenleben einer Dreiecksbeziehung, wie die Autorin es uns durch Hannas Augen betrachten und erfahren lässt, ist vielmehr aufregend, rauschhaft und auch ein ganz klein wenig gefährlich.

Ganz anders hingegen André, der gesetzte Vierziger kurz vor der Midlife-Crisis. Er wirkt nicht ganz lebendig, ihm fehlt ein Stück Eigentümlichkeit, wiewohl er sich ob seiner Untreue in schwerer Gewissensnot befindet. Vielleicht ist er doch zu brav und erfolgsorientiert? Dass erkeineswegs scheintot ist, beweisen seine heftige Affäre mit Hanna und die Auseinandersetzungen mit seiner Frau Bea, der Casting-Agentin beim Fernsehen.

In diesem Medienmilieu kennt sich die Autorin (siehe unten) bestens aus: Auch hier gelten die Gesetze der Wildnis. Hanna hält hierzu ein paar herrliche Kommentare bereit. Aber sie nimmt sich nicht aus: Auf Seite 78 verdächtigt sie sich selbst einer |deformation professionelle| (im Buch mit |accents|, aber die gehören da nicht hin).

Unterm Strich

Ich wurde von der Autorin gewarnt, nicht zu viel von ihrem Buch zu erwarten. Falsche Bescheidenheit, dachte ich. Andererseits sollte man an einen Roman, der durchaus unterhalten will und soll, nicht den gleichen Maßstab anlegen wie an einen Jahrhundertroman à la „Der Mann ohne Eigenschaften“ oder „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Auch wenn „Liebes Leid und Lust“ kein Spiegel der aktuellen Gesellschaft sein will und kann, so findet sich der Leser doch darin wieder.

Denn es geht ja um die Erfahrungen zweier Generationen, der von Hanna und der von André. Beide haben ihre Ansprüche, ihre Erfolge und zuweilen ihr Scheitern. Die Autorin, selbst Mutter und Ehefrau, aber auch berufstätig, bringt ihre Erfahrungen ein – natürlich narrativ verarbeitet. Die Spannungen, die aus den Konflikten zwischen den zwei Generationen entstehen, tragen wesentlich zum Fortgang der Handlung und dem Interesse des Lesers am Schicksal der Figuren bei.

Am Schluss wird der Fall nicht von irgendeinem hellsichtigen Kommissar geklärt und als „gelöst“ deklariert – dann könnten wir alle beruhigt nach Hause gehen und zufrieden einpennen. Ganz im Gegenteil zieht sich im Buch der Schluss über etliche Seiten hin, ohne dass ein großer Zampano oder |deus ex machina| auftauchte. Die Szenen wechseln sich rasch ab, bis sich endlich am Ende des „fünften Aktes“ ein Silberstreif am Horizont zeigt – mehr darf hier nicht verraten werden. Jedenfalls lädt der Schluss dazu ein, das Buch gleich noch einmal anzufangen – und so etwas ist mir bislang selten passiert.

Die Autorin

Amelie Fried wurde 1958 in Ulm geboren. Mit 16 machte sie bereits Abitur, mit 26 moderierte sie ihre erste Fernsehsendung, u. a. 1987 die erste landesweite Talkshow „Live (aus der Alten Oper, Frankfurt)“. Heute moderiert sie die Show „3nach9“ bei Radio Bremen. Vor allem ihr frischer, aufgeschlossener Stil hebt sie von anderen Moderatoren ab.

Jugend und frühes Leid

Wie ich bei ihrer Lesung in Stuttgart feststellen konnte, ist sie klug, enorm belesen und auf dem neuesten Stand, was die zeitgenössische Literatur angeht. Das ist vielleicht auf ihr Elternhaus zurückzuführen: Die Mutter war Buchhändlerin, ihr Vater Herausgeber und Büchersammler. „In unserer Wohnung gab es an die 15.000 Bücher. Aber den Schlüssel zum ‚Giftschrank‘ hatte ich bald gefunden und las alle verbotenen |Goldmann|-Krimis sowie alle Sherlock-Holmes-Romane.“ Da war sie neun, mit elf schrieb sie Gedichte und Tagebücher – für ihre Beobachtungen, denn sie wollte Schriftstellerin werden. Um ihrem Freund Oliver nahe zu bleiben, übersprang sie in der reformierten Oberstufe zwei Schulklassen und machte machte mit ihm zusammen Abitur. Als er nach Berlin zog, riss sie von zu Hause aus und fuhr ihm hinterher. Leider erwiesen sich die sechs bis acht Wochen in der Liebeslaube auch als ernüchternd, und so kehrte sie wieder heim. Ihr Vater sagte nur: „Do bisch jo wiedr, Mädle.“

Eigene Bücher

1989 zog sie sich selbst ins Familienleben zurück, um sich ihren Kindern Leonhard und Paulina zu widmen. Erlebnisse mit den Kindern bewegten sie, selbst Bücher zu schreiben, zunächst „Die StörenFrieds“, der aus einer Zeitschriftenkolumne hervorging, und 1996 den ersten Roman „Traumfrau mit Nebenwirkungen“. |“Als 50-60 Seiten geschrieben waren, legte ich das Manuskript weg. Als ich ich es Jahre später wieder hervorzog, gab ich es meinem Agenten. Nach Wochen der Funkstille rief er an und fragte, ob ich gut säße. Ich erwartete das Schlimmste, aber er sagte nur, dass fünf Verlage das Buch bringen wollten. Und ich hatte nur ein Sechstel der 300 Seiten!“|

Kinderbücher

„Am Anfang war der Seitensprung“ und „Der Mann von nebenan“ folgten. Die Verfilmung des letzteren Buches findet sie am gelungensten von allen drei Filmen, für die ihr Mann Peter Probst jeweils das Drehbuch schrieb. Ihr erstes Kinderbuch „Hat Opa einen Anzug an?“ erhielt den |Deutschen Jugendliteraturpreis|, denn es ist nach Angaben der Autorin das erste, das sich mit dem Thema des Todes auf ernsthafte Weise beschäftigt, nicht so tantchenhaft und oberchristlich wie bisher. Gibt es eine Seele, und falls ja, wohin kommt sie nach dem Tod eines Menschen? Was passiert, wenn der Himmel mit Seelen überfüllt ist und dicht macht? Diese und andere Kinderfragen werden hier beantwortet.

Ein zweites Kinderbuch namens „Der unsichtbare Vater“ befasst sich mit einem Kind, dessen leiblicher Vater unsichtbar bei ihm ist, bis eines Tages ein Stiefvater den Platz auf dessen Esstischstuhl einnimmt. Es folgt ein langer Prozess des Widerstands, des Umdenkens und ein Neuanfang.

„Liebes Leid und Lust“

Den Roman „Glücksspieler“ habe sie in zwei Jahren fertig stellen können, aber es sei eine Qual gewesen. Auch für den neuesten Roman „Liebes Leid und Lust“ habe sie ein Jahr benötigt, aber die Arbeit sei ihr leicht von der Hand gegangen. Im Buch dankt die Autorin ihrer Lektorin, der 60-jährigen Ingrid Grimm „für ihre liebevolle Hartnäckigkeit“. Die harte Arbeit am Manuskript hat sich ausgezahlt. Im ersten Kapitel stirbt die Heldin beinahe, aber dennoch kommt nie das Gefühl der lächerlich herbeigeschriebenen Absurditäten auf, die man so häufig bei modernen deutschen Frauenromanen (wie etwa von Hera Lind oder Gaby Hauptmann) findet.

Bitte beachtet auch unser Interview mit der Autorin.