Neil Gaiman – Coraline – Gefangen hinter dem Spiegel

Horror in feinster Märchenqualität

Hinter einer vermauerten Tür entdeckt Coraline einen verborgenen Weg in eine albtraumhafte Parallelwelt: Dort trifft sie ein Wesen mit glänzenden Knöpfen anstelle der Augen, das sie freundlich umgarnt und das hungrig auf Coralines Seele blickt. (Verlagsinfo)

Der Autor

Der Engländer Neil Gaiman, geboren 1960, arbeitete zunächst als Journalist in London und wurde durch seine innovative Comicbook-Serie „Der Sandmann“ bekannt. Neben den Romanen „Niemalsland“ und „Der Sternwanderer“ schrieb er zusammen mit Terry Pratchett den phantastischen Roman „Ein gutes Omen“ (der womöglich verfilmt wird) und verfasste über seinen verstorbenen Freund und Kollegen Douglas Adams die wirklich empfehlenswerte Biografie „Keine Panik!“.

Seine Erzählungen und Gedichte sind in der Kollektion „Die Messerkönigin“ zusammengefasst.
Was für Ansichten Gaiman zu Amerika hat, könnte sich möglicherweise in seinem dicken Schmöker „American Gods“ aufspüren lassen. Er lebt mit seiner Familie in Minneapolis, USA.

„Coraline“ ist auch als von Dave McKean illustrierte Ausgabe erschienen. McKean ist der Zeichner der „Sandmann“-Comicbooks. Dementsprechend unheimlich sind seine Zeichnungen geraten.

Handlung

Die kleine Coraline Jones zieht in den Sommerferien mit ihren Eltern in ein altes Haus, das nur zur Hälfte bewohnt ist. Während ihre Eltern zu Hause am Computer arbeiten, wird es ihr regelmäßig langweilig, besonders wenn es draußen regnet. Dann geht sie entweder zu dem alten Mann, der die Mäuse in seiner Wohnung dressiert, oder zu den alten Damen Miss Spink und Miss Forcible, die früher mal beim Theater waren. Die Damen nennen sie fälschlicherweise immer „Caroline“. Und sie warnen sie, sie sei in großer Gefahr, und geben ihr einen schützenden Talisman mit.

Bei der Erkundung ihrer eigenen Wohnung stößt Coraline auf eine Tür, hinter der sich manchmal eine Mauer verbirgt, die den leer stehenden Teil des Hauses verbirgt, und manchmal ein düsterer Gang, der in eine Wohnung führt, die genauso aussieht wie ihre eigene. Nur die Bewohner sind etwas seltsam: Das Paar, das sie begrüßt, behauptet, Coralines „andere Eltern“ zu sein, trägt aber statt Augen schwarze Knöpfe – und ihre Zähne sind ein klein wenig zu lang. Aber sie kümmern sich um ihr Wohlergehen und machen ihr phantastisch schmackhaftes Essen, das nicht aus der Mikrowelle kommt. Hier gefällt es Coraline besser.

Lustig findet Coraline den sprechenden Kater, auch wenn der sehr von sich eingenommen ist, und den alten Mann, der Ratten dressiert hat: fünfzig Stück, alle schwarz mit roten Augen. Sie bilden eine Pyramide aus Leibern und singen Coraline ein Lied vor, das ihr nicht ganz geheuer vorkommt:

„Wir haben Zähne, wir haben Schwänze,
Wir haben Zähne, scharf und klein,
Wir waren vor deinem Sturz schon hier,
Du wirst bei unserem Aufstieg hier sein.“

Als ihre andere Mutter ihr Knöpfe auf die Augen nähen will, gelingt es Coraline mit ihrem Talisman, dieses Ansinnen erfolgreich abzuwehren, aber ihre andere Mutter wird dadurch etwas wütend. Leider gibt es kein Entkommen aus dem „anderen Haus“: Der Wald hinter dem Haus, jenseits der Wiese, besteht nur aus gestrichelten Andeutungen. Trotzdem geht Coraline mutig hinein – und landet im weißen Nichts. Nur der sprechende Kater leistet ihr hier Gesellschaft. Das hilft ihr aber nichts, denn der Weg führt zurück.

Coraline sitzt in der Tinte. Ihre andere Mutter hat den Schlüssel zum Gang in ihre eigene Welt in Verwahrung, die Tür nach Hause ist abgeschlossen. Dass die andere Mutter kein Spiegelbild besitzt und Küchenschaben wie Kartoffelchips futtert, findet Coraline auch nicht gerade beruhigend. Um ihr „Manieren beizubringen“, wie sie behauptet, sperrt die wütende Frau das Mädchen in den schrecklichsten Ort, den es gibt: eine verriegelte Kammer, in die kaum Licht fällt, irgendwo hinter dem Spiegel.

Coraline ist gefangen. Aber sie ist nicht allein …

Mein Eindruck

Wie schon in vielen seiner Erzählungen sowie in den „Sandmann“-Comics verbindet Neil Gaiman auch hier auf wirkungsvolle Weise märchenhafte Erzählweise mit Horrorelementen. Dabei spielt die Welt jenseits der alten Tür vielleicht nur die Rolle eines Spiegels, der die Ängste und Befürchtungen der Betrachterin zum Vorschein bringt. Wie auch immer man sie verstehen möchte, so erscheinen doch Coraline ihre Abenteuer und Begegnungen auf dieser dunklen Seite der Welt als völlig real. Und schnell versteht sie deren Spielregeln.

Das Wichtigste, was Coraline verstehen muss, ist die wahre Natur der anderen Mutter. Denn diese hat die andere Welt geformt und ihrem Willen unterworfen. Aber um dies tun zu können, hat die andere Mutter nichts neu erschaffen, sondern lediglich Vorhandenes genommen und umgewandelt. Dieses Ungeheuer kann folglich nur das verwenden, was sie, Coraline, ihm gibt. Und wenn Coraline keine Angst mehr hat, sondern mutig ist, kann die andere Mutter die Angst nicht gegen Coraline verwenden.

So kommt es, dass Coraline eine sehr wagemutige Wette mit der anderen Mutter abschließt: Sie werde immer in dieser Welt bleiben, wenn es ihr nicht gelingt, ihre wahren Eltern und die drei Seelen zu finden, auf die Coraline gestoßen ist. Mit größter List und Tapferkeit geht Coraline vor, ihr Ziel zu verwirklichen.

Ein Wort des großen englischen Schriftstellers G. K. Chesterton ist dem Buch vorangestellt: „Märchen sind mehr als nur wahr – nicht deshalb, weil sie uns sagen, dass es Drachen gibt, sondern weil sie uns sagen, dass man Drachen besiegen kann.“ Das ist es, was Coraline und der Leser des Märchens über sie lernen können.

Nach ihrem Abenteuer ist für Coraline ihre eigene Welt wie verwandelt: Das Himmelsblau war noch nie so blau, die Sonne noch nie so strahlend schön. Niemals wird die Welt wieder langweilig sein. Doch eines hat Coraline übersehen. Die andere Mutter ist nicht gänzlich besiegt, und es gilt, die Schönheit der Welt zu verteidigen. Dem ersten Finale muss also ein zweites folgen. Erst dann kann die Welt heilen.

Unterm Strich

Die zwar in sehr einfacher Sprache, aber keineswegs in onkelhaftem „Grimms-Märchen“-Ton erzählte Geschichte der kleinen Coraline scheint mir geeignet für Kinder ab elf Jahren, denn sie ist ganz schön gruselig – viel mehr als „Alice im Wunderland“ oder „Der König von Narnia“. Sie ist trügerisch leicht zu verstehen, aber man sollte sich auch für die kleinen Details interessieren, über die man leicht hinwegliest. Es sind diese Details, die etwas später unversehens große Bedeutung erlangen.

Mir hat das Buch sehr gefallen, denn auch seine Botschaft ist nicht ganz einfach „Besieg die Hex‘ und alles wird gut!“, sondern vielmehr „Besieg dich selbst und erkenne die Wahrheit!“ (Daher die vielen Spiegel im Buch.) Das ist eine recht ungewöhnliche Aussage für ein Kinderbuch, will mir scheinen. Am Schluss fasst Coraline noch einmal zusammen, um was es geht: „Man kann sich wünschen, was man will. Aber wozu ist es gut, wenn alle Wünsche in Erfüllung gehen und man alles bekommt, wenn man sich dafür nicht anstrengen muss?“ Denn dann ist der Wille nur eine Laune, und das Erworbene nur Tand. Echter Wille scheint etwas anderes zu sein: eine Wahl und eine Anstrengung. Das Ergebnis und der Lohn sind die Freiheit. Wer die Freiheit nicht erlangt, dessen Seele wird hinter Spiegeln eingesperrt bleiben – so wie es im Buch anderen Kindern passiert ist.

Selbst Gaiman-Fans können „Coraline“ noch etwas abgewinnen, denn wie jedes Gaiman-Werk verfügt auch dieses über eine Reihe „netter“ Einfälle. Sie sind nicht so erschreckend und brutal wie etwa in „Niemalsland“, aber doch gruselig genug, um kleinen Kinder eine Gänsehaut und schlechte Träume zu verschaffen. Man sollte die Geschichte also vorlesen – und möglichst auch gleich die zahlreichen Lehren, die sie bereithält, diskutieren. Denn das Buch hält ja auch Wahrheiten über Eltern bereit.

Taschenbuch: 176 Seiten
Originalausgabe: Coraline, Harper Collins 2002
Aus dem Englischen übersetzt von Cornelia Krutz-Arnold
ISBN-13: 9783453400603