George R. R. Martin – In der Haut des Wolfes. Kurzroman

Das geschieht:

Randi Wade besitzt in der Großstadt Chicago ein genretypisch schlechtgehendes Detektivbüro. Die Tochter eines hoch gerühmten Polizisten wurde aus dem Gleis geworfen, als ihr Vater vor Jahren bei einem Einsatz auf mysteriöse Weise ums Leben kam: Obwohl er seinen Angreifer mit sechs Revolverkugeln getroffen hatte, wurde Wade senior in Stücke gerissen sowie zum Teil aufgefressen – ein Fall, der nie gelöst wurde.

Willie Flambeaux könnte seine beste Freundin zwar aufklären, hat darauf aber mit gutem Grund bisher verzichtet: Während der schwächliche, von Asthma geplagte Mann tagsüber ein Inkasso-Unternehmen führt, streift er seine Haut in manchen Nächten buchstäblich ab und verwandelt sich in einen Werwolf. Diese Kreaturen der Nacht sind schon lange Teil der Gesellschaft. Sie haben sich ihr angepasst und verzichten auf die Menschenjagd, um den inzwischen eingekehrten Frieden nicht zu gefährden. Dabei kontrollieren sich die Mitglieder jedes „Rudels“ gegenseitig. In Chicago ist Jonathan Harmon, Spross einer uralten, steinreichen und mächtigen Familie, der Anführer.

Nun geht ein Serienkiller in der Stadt um. Er zieht seinen Opfern lebendigen Leibes die Haut ab. Dass es sich bei den auf diese Weise Getöteten ausnahmslos um Werwölfe handelt, ist der Polizei zwar unbekannt. Nichtsdestotrotz sorgen die verschärfte Fahndung, die Aufmerksamkeit der Presse und natürlich die Tatsache, dass der Mörder nicht gefasst werden kann, für unliebsames Lampenlicht und Angst im Rudel.

Wer steckt hinter den Gräueltaten? Ist es Roy Helander, der einst als Mehrfachmörder verurteilt wurde und plötzlich verschwunden ist? Oder etwa Steven, Harmons geistesgestörter Sohn? Flambeaux nimmt die Witterung auf, und als er das Ende der Fährte erreicht, ist die Tatsache, dass Randy inzwischen über ihn Bescheid weiß, seine geringste Sorge …

Das altmodische Monster

Der Werwolf gehört zu den ältesten Schreckgestalten, die den Menschen auf seinem Weg aus der sprichwörtlichen Höhle in das moderne Großstadtgewirr begleitet haben. Zwei einst sehr reale Ängste mischen sich in seiner Gestalt: Da ist die Dunkelheit, die selbst nach der ‚Erfindung‘ des Feuers durch Fackeln nur notdürftig erhellt werden konnte. Außerhalb des Lichtscheins konnte weiterhin jene lauern, die dem vorzeitlichen Menschen nach dem Leben trachteten.

Dazu gehörte dort, wo es ihn gab, zuverlässig der Wolf. Vor der Erfindung der Schusswaffe konnte er es mit dem Menschen aufnehmen. Der Wolf war leise, schleichstark, kräftig und vorsichtig aber furchtlos. Außerdem jagte er nicht allein, sondern im Rudel. Wölfe treiben ihre Beute mit Bedacht und instinktgesteuerter Überlegung. Der Mensch tut es ihm gleich. Er erkannte früh die Ähnlichkeit des Vorgehens. Weil er selbst die Beute war, konnte diese Erkenntnis verständlicherweise Todesangst auslösen.

Wie gefährlich musste der Wolf werden, sollte er über Verstand verfügte? Oder sich gar als Mensch ‚tarnen‘ können? Bevor die Wissenschaft sie ins Reich der Sage verbannte, galten solche Verwandlungen durchaus als möglich. Der Schritt zur Interpretation des Werwolfs („wer“ = germanisch „Mann) als Verkörperung des Bösen lag nahe; er wurde lange vor dem Aufkommen des Christentums getan und beschränkte sich nicht auf Wölfe. Es gab Wer-Bären, -Löwen, -Panther: Jedes gefährliche Großtier konnte aus seiner Haut und in diese Rolle schlüpfen.

Wölfe besiedeln erstaunlich weite Regionen dieser Erde, wenn man sie lässt. Es gibt sie in Europa, Asien und Nordamerika; selbst in Südarabien oder Indien leben noch Restbestände des einst auch dort präsenten Raubtiers. Folgerichtig trieb auch der Werwolf quasi global sein Unwesen. Heute hat man den Wolf zwar vertrieben und ihm seinen alltäglichen Schrecken genommen. Dennoch bleibt die Ur-Angst tief im Menschenhirn verankert: Wer dies überprüfen möchte, lausche dem Wolfsgeheul. Selbst wenn sich sein Verursacher nachweislich hinter einem hohen Zaun aufhält, dürften steil aufgerichtete Nackenhaare die geringste Reaktion darstellen.

Eine Nische finden

Zum Wolf gehört das freie Streifen durch eine unverfälschte Wildnis. Anders als der Vampir oder das Monster aus dem Labor ist der Werwolf ein Zivilisationsflüchtling. Er benötigt ein ‚Revier‘. Relativ spät entdeckte er, dass er sein Territorium auch in der Großstadt finden konnte. Da hatte der Wolf seinen archaischen Schrecken bereits verloren. Der Werwolf war in der populären Unterhaltung untergetaucht. Dort zehrte er vom Schreckensruhm der Vergangenheit. Es dauerte, bis er den Anschluss an die Gegenwart fand.

Zu denen, die diese Lücke schlossen, gehörte Whitley Strieber mit seinem Debütroman „The Wolfen“ (1978; dt. „Wolfen“). Zwar sind seine Wölfe ‚echt‘, doch sie vermitteln überzeugend die Existenz einer alten Intelligenz, die parallel zur ahnungslosen Menschenwelt existiert und sich in ihrer Nische behaupten kann. Mit „In der Haut des Wolfes“ ging George R. R. Martin 1979 den letzten Schritt: Werwölfe sind Menschen, die sich in Wölfe verwandeln. Sie nutzen ihren Verstand, um selbstbestimmt ihr Schicksal zu gestalten, und streben vor allem nach Geld und Macht, um ihrer Natur unter Ausschluss misstrauischer Menschenaugen frönen zu können.

Martin war nicht der erste Autor, der sich dieses Konzeptes bediente. Stattdessen beeindruckte er durch das Geschick, mit dem er dem Mythos modernes Leben einhauchte, ohne den ‚klassischen‘ Werwolf darüber zu ignorieren. Zu diesem gehört immer ein Moment der Tragik. Der zivilisierte Mensch und das wilde Tier können niemals in Harmonie existieren. Deshalb darf sich der ‚normale‘ Mensch nie sicher fühlen, wenn ihm der Werwolf Schonung verspricht. Da er selbst um die Problematik der dafür erforderlichen Selbstkontrolle weiß, gibt ihm der Werwolf insgeheim Recht. Martin schildert den Kompromiss: Die Werwölfe bleiben unter sich und im Hintergrund. Einen Krieg mit den Menschen würden sie nicht überleben.

Zwischenfälle kommen vor

Das Risiko trägt der ‚normale‘ Mensch, denn Werwölfe sind in einem Punkt sehr menschlich: Es gibt immer jemanden, der aus der Reihe tanzt und die Regeln des Rudels missachtet. Was geschieht, wenn so etwas vorkommt, ist handlungselementar für Martins Geschichte. Das Rudel muss sich um solche Außenseiter selbst kümmern, der Mensch ahnungslos bleiben. Dass Diskretion allein dies in der technisierten und von den Medien kontrollierten Gegenwart nicht gewährleisten kann, ist eine Konsequenz, die Martin logisch und spannend in das Geschehen einfließen lässt: Es gibt eine Schnittstelle zwischen Werwolf- und Menschenwelt geben. Einige müssen eben doch Bescheid wissen.

Was ist mit denen, die nicht mitspielen wollen? Hier gerät das Miteinander in eine Grauzone. Wade senior war allzu unbestechlich, Harmon senior bringt es nicht über sich, seinen irren Sohn aus dem Verkehr zu ziehen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es zu jener Krise kommen musste, die hier den Titel „In der Haut des Wolfes“ trägt.

Ausgerechnet Willie Flambeaux ist ein Vertreter des ursprünglichen Status quo. Er will die nicht mehr dem Schutz des Rudels dienenden, sondern eindeutig kriminellen Machenschaften nicht decken. Schon vor der Krise ist Willie ein Außenseiter: Auch die Gesellschaft der Werwölfe kennt Hierarchien und Vorurteile. Willie ist als Mensch kränklich sowie kein „reinrassiger“ Werwolf. Vor allem ist er mit einem Gewissen geschlagen. Deshalb fürchtet er Harmon, den Rudelführer, ebenso wie den Killer, der nächtlich umgeht.

Randi Wade verkörpert die Partei der Menschen. Sie war lange ohne Wissen um ihre hautwandlerischen Mitbürger. Das Aufkommen von Misstrauen, die Suche nach der Wahrheit und der Moment der Erkenntnis gehören zum Genre. Randi muss eine Entscheidung treffen, was dadurch erschwert wird, dass sie Vertreter beider Seiten vorsichtshalber zum Schweigen bringen wollen.

Eine unerwartete Wendung

„In der Haut des Wolfes“ ist ein Kurzroman. Für die Sammlung „Night Visions 5“ sollte Martin eigentlich wie seine beiden Mitautoren Stephen King und Dan Simmons 1989 drei Kurzgeschichten liefern. Er einigte sich stattdessen mit Herausgeber Douglas E. Winter auf die Niederschrift einer Novelle und tat damit sich, Winter und dem Publikum einen Gefallen; nicht umsonst gewann Martin für „The Skin Trade“ einen „World Fantasy Award“, wobei aus heutiger Sicht die Form den Inhalt übertrifft.

Nicht die Story ist, es die „In der Haut des Wolfes“ einmalig macht, vieles von dem, das Martin sich einfallen ließ, ist längst wieder zum Klischee geworden. Eine grundsätzlich fragwürdige Entscheidung betrifft ausgerechnet die Auflösung: Martin scheint es nicht spektakulär genug zu sein, den Killer aus den Reihen der uns vorgestellten Figuren zu wählen. Stattdessen erfindet er ein übernatürliches Wesen aus fremder Dimension, für das die biologisch gesetzten Grenzen, die Martin ausführlich für die Werwölfe definiert hat, bedeutungslos sind. Immerhin erspart uns der Verfasser die obligatorische Liebesgeschichte zwischen Menschenfrau und Werwolf-Mann, wofür ihm ein dicker Pluspunkt gebührt!

Die aktuelle Neuausgabe präsentiert „In der Haut des Wolfes“ als eigenständiges Buch. Innen erfreut die Übersetzung von Joachim Körber ebenso wie die von Timo Wuerz gezeichneten Illustrationen; der Künstler schuf auch das farbige Titelbild. Der Band ist fest gebunden und mit einem separaten Papierumschlag sowie einem Lesebändchen versehen: Das Ergebnis hält sich allemal angenehmer in der Hand als ein eBook-Reader …

Keineswegs unerwähnt bleiben darf das ausführliche (und für diese Rezension dankbar herangezogene) Nachwort: Der Autor, Journalist und Redakteur Christian Endres informiert über George R. R. Martins Leben und Werk und erinnert daran, dass Martin als Schriftsteller weit mehr als ‚nur‘ „Game of Thrones“ über die Medienwelt gebracht hat!

Autor

George Raymond Richard Martin wurde am 20. September 1948 in Bayonne, US-Staat New Jersey, geboren. Er studierte Journalismus an der Northwestern University von Evanston, Illinois. Noch 1971, im Jahr seines Abschlusses, erschien eine erste Kurzgeschichte.

Während er weitere Storys veröffentlichte und sich vor allem in der Science Fiction einen Namen zu machen begann, arbeitete Martin als Journalist sowie ehrenamtlich für das soziale Hilfswerk „Volunteers in Service to America“ (VISTA). 1975 wurde Martin für den Kurzroman „A Song for Lya“ (dt. „Ein Lied für Lya“) mit einem „Hugo Award“ ausgezeichnet. Diesem Preis folgten in den nächsten Jahren zahlreiche weitere Ehrungen. Ebenfalls 1975 heiratete Martin; die Ehe hielt nur vier Jahre. 1976 wurde Martin Dozent für Journalismus am Clark College in Dubuque, Iowa.

Spätestens nach dem Erscheinen seines ersten Romans „Dying of the Light“ (1977; dt. „Die Flamme erlischt“) wurde Martin als Autor ‚heiß‘. 1986 ging er nach Hollywood und wurde als Drehbuchautor und Produzent für das Fernsehen tätig. Er arbeitete an Erfolgen wie „The Twilight Zone“ und „Beauty and the Beast“ (dt. „Die Schöne und das Biest“) mit, scheiterte aber 1992 mit „Doorways“. Zwischen 1987 und 1993 gab Martin zahlreiche Bände der Shared-World-Serie „Wild Cards“ heraus.

Anschließend kehrte Martin dem Fernsehen den Rücken und konzentrierte sich auf die Schriftstellerei. 1996 erschien der erste Band des Fantasy-Epos „A Song of Fire and Ice“ (dt. „Das Lied von Eis und Feuer“). Der unerhörte Erfolg dieses Romans und seiner Fortsetzungen überstrahlt seither Martins sonstiges Werk. Die seit 2011 ausgestrahlte TV-Serie „Game of Thrones“ ließ diesen Ruhm noch steigen.

Seit 2011 wieder verheiratet, lebt und arbeitet der gesundheitlich inzwischen angeschlagene Martin in Santa Fé, New Mexico.

Gebunden: 157 Seiten
Originaltitel: The Skin Trade (London : Orion Publishing 1989)
Übersetzung: Joachim Körber
Cover u. Innenillustrationen: Timo Wuerz
www.festa-verlag.de

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)