|Per aspera ad astra| – sinngemäß: ohne Leid kein Preis. Kunst kommt von Können, sagen die einen. Grundlage künstlerischen Schaffens ist das Leiden, sagen andere. Leid als Quelle der Inspiration. Für Vincent, die titelstiftende Hauptfigur in Joey Goebels Roman „Vincent“ (Originaltitel: „Torture the artist“), sieht so der Alltag aus. Goebels Roman überspitzt das Treiben der Unterhaltungsindustrie auf der Suche nach einem Weg zurück zu Kunst und Qualität.
Foster Lipowitz ist ein alter Medientycoon. Als Vorstandsvorsitzender des größten globalen Unterhaltungskonzerns hat er jahrzehntelang die Menschheit mit seichten Belanglosigkeiten in Form von Musik, Filmen und Fernsehserien überschüttet. Der oberflächliche Müll der Unterhaltungsindustrie, die immer gleich klingenden Popsongs, der immer gleich aussehenden Popsternchen und die sinnentleerten Leinwandspektakel aus Hollywood haben ihn reich gemacht. Doch vom Krebs gebeutelt, plagen den Mann auf dem Totenbett Gewissensbisse.
Nichts von dem, das er geschaffen hat, ist wirklich von Wert, nichts ist es wert, dass sich die Nachwelt daran erinnern wird, nichts hat die Kulturlandschaft wirklich bereichert. Aber Lipowitz hat einen Plan und die Macht, das zu ändern. Und so hebt Lipowitz ein neues Projekt aus der Taufe: New Renaissance. Das Ziel: Aus hochbegabten Kindern werden Künstler herangezogen, die wahre Meisterwerke erschaffen. Mit ihnen will Lipowitz Qualität und Kunst wieder dem unkritischen und anspruchslosen Mainstream zugänglich machen. Unterhaltung soll wieder niveauvoller werden.
Doch um wirklich große Kunst zu schaffen, müssen die Künstler leiden, denn woher sollen sie sonst ihre Inspiration nehmen. Und so stellt Lipowitz dem jungen Vincent, seinem vielversprechendsten Schüler, Harlan als Manager zur Seite. Der ist fortan als dunkler Schutzengel dafür verantwortlich, dass Vincent ordentlich was zu leiden hat. Dank Harlans gutem, aber stets fürsorglichem Händchen im Quälen und dank Vincents ausgesprochen großartiger Fähigkeiten im Leiden scheint das Projekt ein voller Erfolg zu werden.
Je mehr Vincents Leben in Kummer und Traurigkeit versinkt, desto brillanter wird seine Kunst. Seine Songs werden Hits, seine Fernsehserien Quotengaranten. Bei so viel Leid einerseits und so viel Erfolg andererseits ist das Leben für Vincent ein Wechselbad der Gefühle. Wie soll er dabei sein eigenes Glück verwirklichen? Hat das überhaupt eine Chance?
„Vincent“ ist ein Roman, der sich nicht so leicht in eine Schublade stopfen lässt. Ein eigenwilliges Buch, das sich jeder Kategorisierung zu widersetzen scheint. Die Marketingstrategen in den Chefetagen der Unterhaltungsindustrie, die Goebel mit seinem Roman kräftig aufs Korn nimmt, würden sein Buch wohl als „Tweener“ abstempeln. Ein Buch, das irgendwo einsam zwischen allen Zielgruppen umhertreibt. Keine Chance, so etwas zu vermarkten.
„Vincent“ ist von allem ein bisschen. Ein großer Löffel Satire, eine Prise Utopie, ein Spritzer thrillerhaftes Drama, abgeschmeckt mit einer Messerspitze Herz-Schmerz. „Vincent“ ist ein Roman, der sich jeglichem Vergleich zu entziehen scheint und der auf seine Art einzigartig ist. Nicht zuletzt auch deswegen ist die Lektüre ein ausgesprochener Genuss.
Wer vom Fernsehen enttäuscht ist, wer lieber Stille erträgt als das ewig gleich klingende Radiogedudel und wer im Kino beim Besuch des Action-Blockbusters des Jahres nur müde gähnt, der dürfte sich in „Vincent“ verstanden fühlen. Endlich mal ein Buch, das schonungslos und unterhaltsam den Finger in die Wunde der modernen, globalisierten Unterhaltungsindustrie legt. Alle, denen der Mainstream zuwider ist, werden ihre Abneigungen gegen Pop und Kommerz in diesem Buch manifestiert finden.
Auch Joey Goebel scheint einer dieser Mainstream-Verachter zu sein. Seinen ganzen Frust über die Belanglosigkeiten der Unterhaltungsindustrie scheint er in dieses Buch gelegt zu haben. Gnadenlos zieht er über Popkultur und Fernsehlandschaft her, verreißt Musiker und Fernsehshows und lässt dabei einen gnadenlosen Realitätsbezug erkennen. Diese Aufgabe fällt im Roman meist Harlan zu. Harlan scheint das fiktive Pendant zu Joey Goebel zu sein, was sich auch schon anhand biographischer Parallelen offenbart. Beide touren in jungen Jahren mit einer Band durch den Westen der USA. Beiden bleibt der musikalische Durchbruch verwehrt.
Harlan ist nach seinen ersten Gehversuchen als Musiker von der Unterhaltungsindustrie zutiefst enttäuscht. Seine Plattenkritiken für ein Musikmagazin fallen immer so brutal negativ aus, dass sein Arbeitgeber ihn schließlich feuert. Genau deswegen werden die Macher von New Renaissance auf ihn aufmerksam. Hier bekommt Harlan endlich die Chance, sich seinen Idealen entsprechend zu verwirklichen – als Don Quijote der Unterhaltungsindustrie. Natürlich bringt das moralische Bedenken mit sich. Die Förderung eines begabten Künstlers mag ein noch so edles Ziel sein, die Mittel von New Renaissance sind mehr als fragwürdig.
Harlan mag dafür eingestellt worden sein, Vincent zu quälen, dennoch kümmert er sich stets fürsorglich um den jungen Nachwuchskünstler. Das Verhältnis der beiden hat dadurch einen recht merkwürdigen Charakter. Man schließt Harlan als Leser dennoch ins Herz. Er ist sympathisch und man versteht ihn irgendwie. Harlan ist die eigentliche Hauptfigur. Er erzählt die Geschichte aus seiner Sicht.
Vincent bleibt mehr oder weniger blass. Eine gewisse Distanz bleibt zwar zu beiden Figuren bestehen, da auch Harlan sich nicht bis in den letzten Winkel seiner Seele schauen lässt, doch während man für Harlan in seiner Zwickmühle als Handlanger der Unterhaltungsindustrie und als Retter der Kultur noch Sympathie empfinden kann, bleibt Vincent ein wenig fremd und abstrakt. Das ist nicht unbedingt ein Nachteil. Man kennt genügend leiderprobte Künstler, um sich ein Bild von ihm zu machen. Das Kurt-Cobain-Bild auf dem Buchdeckel ist da nur eine mögliche Assoziation, die sich aufdrängt.
Zu Beginn mag man „Vincent“ in erster Linie für eine Satire halten. Der Roman hat seine unverkennbar humoristischen und sarkastischen Seiten. Wenn Harlan in der Chefetage des weltweit wichtigsten Medienkonzerns durch die Fernsehkanäle zappt und gnadenlos über alles herzieht, was dort zu sehen ist, während ihm gegenüber die Menschen sitzen, die genau diesen Unsinn verzapft haben, so ist das schon ganz besonders erheiternd.
Aber darüber hinaus ist „Vincent“ auch die Geschichte einer besonderen Freundschaft zwischen Künstler und Mentor, eine Geschichte um wahre Kunst und echte Künstler und nicht zuletzt ein Drama um Liebe, Schwermut, Verlust, Enttäuschung und Ausbeutung. „Vincent“ ist ein Roman, der wunderbar vielschichtig ist, der gleichermaßen unterhält und nachdenklich stimmt, der zum Lachen ermuntert und den Leser rührt.
Dass diese Mischung so gut aufgeht, ist besonders auch Goebels Stil zu verdanken. Ein wenig nüchtern mag er manchmal wirken. Immer wieder streut er Briefe ein oder E-Mails und Texte, die Vincent geschrieben hat. Wie Beweismittel in einem Gerichtsverfahren führt er diese Textschnipsel in seine Erzählung ein, die dadurch einen ganz eigentümlichen und authentischen Charme erhält. Als würde Harlan seine Beichte ablegen. Figuren werden immer wieder anhand ihrer Lieblingsband, ihrer Lieblingsfernsehsendung und ihres Lieblingsfilms vorgestellt und es ist erstaunlich, wie viel das über die jeweiligen Personen aussagt. Hier und da könnte Goebel seinen Stil sicherlich noch weiter verfeinern, aber auch so weiß er schon zu gefallen. Außerdem ist der Mann erst 25, was für die Zukunft noch auf einiges hoffen lässt.
Bleibt unterm Strich festzuhalten, dass „Vincent“ ein außerordentlich erfrischendes und unterhaltsames Buch ist. Eine originelle Geschichte, die sehr gelungen mit einer Mischung aus Satire und Dramatik umgesetzt wurde. Für mich zählt das Buch schon jetzt zu den Toptiteln des Jahres. Joey Goebel ist ein Autor, den man sich ruhig merken sollte.