Norman Spinrad – Deus X

Himmelfahrt im Cyberspace: seltenes Lesevergnügen

Ein ungewöhnliches Lesevergnügen vom Meister der satirischen Science-Fiction ([„Bilder um 11“, 1516 „Der stählerne Traum“).

Wenn die Erschließung des Cyberspace im selben Tempo wie jetzt weitergeht, wird es eines Tages möglich sein, das komplette Bewusstsein abzuspeichern und in den Netzen leben bzw. „herumgeistern“ zu lassen. Die armen Geister in der Maschine haben zwar ein Ichbewusstsein, können handeln und sich verhalten – aber haben sie auch eine Seele, oder sind sie gar des Teufels? Eine echte Herausforderung für die katholische Kirche!

Handlung

Ein paar hundert Jahre in der Zukunft ist das Leben in der irdischen Biosphäre die Hölle auf Erden: Die Küsten sind überschwemmt, das Ozonloch allumfassend, die Regenwälder versteppt und die Wiesen verdorrt; die Delphine sterben in den toten Meeren ebenso aus wie die Vögel in der verdreckten Luft. Die Menschen sterben wie die Fliegen, und wenn sie es sich leisten können, lassen sie einen digitalen Nachfolger für das Leben im Cyberspace erzeugen. Mal ganz davon abgesehen, dass diese Entitäten ihre Originale verklagen (Schulden!), so hat doch auch die neue Päpstin, Maria I., ein Problem mit ihrer gleichermaßen verschwindenden Gefolgschaft wie auch Popularität. Die Kirche ist nicht zeitgemäß, da sie sich nicht mit den Cyberspace-Entitäten befasst. Und sie kann es nicht, weil diese keine Seele haben, so die Doktrin. Tatsächlich?

Maria I. ruft Pater Pierre de Leone herbei, der schon immer dieser Doktrin anhing. Er lässt sich breitschlagen, auf die Andere Seite zu gehen, zu beweisen, ob es dorten Seelen gibt, zurückzukehren und eine Weile später friedlich zu verscheiden. Bleibt er seiner Doktrin treu, so haben die Entitäten keine Seelen und alles bleibt beim Alten – beim Gegenteil ist die Forderung der Öffentlichkeit nach Anerkennung der Entitäten als Seelenbesitzer zu erfüllen. Sie hätten Anspruch auf Taufe, Kommunion, Heirat und letzte Ölung.

Ein Malheur passiert: Kaum auf die Andere Seite gewechselt, wird vom Pater – der kurz darauf physisch stirbt – eine Kopie angefertigt, geklaut und das Original gelöscht – aber von wem? Auftritt des Meisterdetektivs. Unser Philip Marlowe für den Cyberspace trägt den bezeichnenden jamaikanischen Namen Marley Philippe und ist am liebsten bekifft.

Engagiert von einem Kardinal, nimmt er Kontakt mit dem gekidnappten Pater auf und erfährt Erstaunliches. Das Netz wird von verborgenen Entitäten beherrscht, von denen die wichtigste, der Vortex, sich selbst eine Seele wünscht. Der entführte Pater soll an einem Experiment zum Beweis des Seelenbesitzes des Vortex und anderer teilnehmen. Es entspinnen sich mehr oder weniger interessante, mehr oder weniger spannende theologische Streitgespräche über Seelenheil, Gott und die (höllische) Welt. Es ergeben sich einige sehr skurrile und ironische Situationen, vor allem, da Mr. Philippe mit Gott absolut nichts am Hut hat.

Der Pater reklamiert schließlich eine Seele für sich, zeigt sich aber unwillig zur Rückkehr, weil ja auf der hiesigen Seite der endgültige Tod – die Löschung – auf ihn wartet. Als Kompromiss schickt er eine fadenscheinige Kopie, bleibt aber im Netz. Nicht lange danach zeigen sich die Folgen seiner Existenz in der Selbstabschaltung von Atomkraftwerken und dergleichen zerstörerischen Maschinen.

Bald faselt die Medienwelt von einem Virus namens „Deus X“ in den Netzen. Auch die Päpstin ist nicht glücklich, mit einer billigen Kopie „ihres“ Paters abgespeist worden zu sein. In einer letzten Auseinandersetzung sieht sie sich zu der Entscheidung gezwungen, der virtuellen Bevölkerung der Erde einen Anspruch auf Seelenheil zuzugestehen oder die Selbstzerstörung des globalen Datennetzes, des Cyberspace und seiner Bevölkerung, in Kauf zu nehmen.

Mein Eindruck

Spinrad baut seinen satirischen Text geschickt wie ein Duett auf. Abwechselnd spricht Marley Philippe, dann wieder der Pater. Wer jeweils gerade spricht, erkennt der Leser an den Ziffern der Kapitelnummer: römische Zahlen für den Pater, arabische für Marley. Diese indirekte Gegenüberstellung des Atheisten mit dem Theologen, des Cyberfreaks mit dem Gottesfürchtigen, allen Maschinen Abholden trägt wesentlich zur Spannung und zur Entstehung von Ironie bei.

Auch als es ans Eingemachte geht, nämlich um die Frage der Seelenexistenz auf der Anderen Seite, tragen die Kürze der Kapitel und der Wechsel des Standpunktes dazu bei, dass keine langatmigen Monologe und penetranten Predigten entstehen. Was Spinrad zu den Kernfragen des Buches zu sagen hat, darauf sollte sich jeder seinen eigenen Reim machen. Seine Aussagen sind zumindest unkonventionell und tragen wesentlich mit zum Lesevergnügen bei.

Taschenbuch: 173 Seiten
Originaltitel: Deus X, 1992
Aus dem Englischen von Peter Robert
ISBN-13:9783453133020

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