Die Lage in Wales Anfang der 1970er Jahre ist ähnlich instabil wie die in Nordirland, wenn auch nicht so explosiv; doch als merkwürdige – und zum Teil sicher lancierte – Nachrichten durchsickern, geraten die patriotischen Gemüter in Wallung. Reporter, Freiheitskämpfer und Idealisten wollen der Wahrheit auf den Grund gehen. Keiner jedoch ahnt, wie schrecklich sie ist und wie gefährlich jeder Schritt, den sie unternehmen.
„Wie wir aus gut unterrichteter Quelle erfahren haben, planen die Amerikaner, chemische Kampfstoffe aus der NATO-Deponie in Caerwent per Straße nach Cardiff und von dort per Bahn in einen Hafen in West-Wales zu transportieren, wo sie auf einen Frachter verladen werden, der sie 100 km vor der Küste in den Atlantik kippen soll.“ Diese Info ist unvollständig.
„Wie aus zuverlässiger Quelle bekannt wurde, soll das Nervengas Sarin in kleiner Kunststoffkapseln als Kaffeebohnen getarnt in roten Papiersäcken mit dem Aufdruck „Brasilia Coffee Company“ transportiert werden, damit die Beamten der British Railway keinen Verdacht schöpfen. Dieser Skandal…“ Auch diese Info ist unvollständig, aber es geht um das Giftgas SARIN.
„Wie aus gutunterrichteten Kreisen verlautet, soll das Nervengas in einen abgelegenen Bunker in den Brecon Beacons verlagert werden, weil sich die NATO-Deponie in Caerwent in zu großer Nähe dicht besiedelter Gebiete befindet…“ Kann man dieser Info trauen? (Verlagsinfo)
Der Autor
Peter Tate geboren am 3. April 1940 in Cardiff, Wales) ist ein britischer Science-Fiction-Autor und Journalist.
Seine erste SF-Erzählung veröffentlichte er 1966 in dem britischen SF-Magazin New Worlds. 1969 folgte der Roman „The Thinking Seat“ (deutsch als „Das verplante Paradies“), zugleich der erste Roman in einer lose durch die Hauptfigur des charismatischen Gurus Simeon verbundenen Trilogie.
Tates Science-Fiction ist vorwiegend in der nahen Zukunft angesiedelt, bedient sich realistischer Erzählformen und Hintergründe und behandelt häufig in der Gegenwart bestehende bzw. extrapolierbare Probleme. Zugrunde liegt die Manifestation des Bösen in einer grundsätzlich guten Welt, wobei sich das Böse in Dingen – etwa Atombomben oder, wie in „Country Love and Poison Rain“ (1973) ein Nervengasdepot in den walisischen Brecon Beacons – oder in Personen – zum Beispiel Diktatoren oder Vertretern einer dogmatischen Kirche – verkörpern kann.
Tates SF ist literarisch ambitioniert und sprachlich öfters verspielt. Ein weiteres Merkmal ist, dass er fiktive Figuren und Orte aus anderen Romanen wieder aufgreift. (Quelle: Wikipedia.de)
Bibliografie (laut Wikipedia.de)
Simeon (Romantrilogie)
1 The Thinking Seat (1969)
Deutsch: Das verplante Paradies. Fischer Taschenbuch (Fischer Orbit #33), 1973, ISBN 3-436-01805-8.
2 Moon On an Iron Meadow (1974)
Deutsch: Mondlicht auf stählernen Wiesen. Übersetzt von Walter Brumm. Heyne Science Fiction & Fantasy #3581, 1978, ISBN 3-453-30476-4.
3 Faces in the Flames: Fourth in a Series of Small Wars (1976)
Romane
Gardens, 1, 2, 3, 4, 5 (1971, auch als Gardens One to Five)
Country Love and Poison Rain (1973)
Deutsch: Landluft und tödlicher Regen. Übersetzt von Gisela Stege. Heyne Science Fiction & Fantasy #3436, 1975, ISBN 3-453-30326-1. (Original: https://www.fantasticfiction.com/t/peter-tate/love-and-poison-rain.htm))
Greencomber (1979)
Deutsch: Grünsucher. Ein ökologischer Fantasy-Roman. Übersetzt von Malte Heim. Sammlung Luchterhand #786, 1987, ISBN 3-472-61786-1.
The Swallow (1986)
The Nightjar (1989)
Story-Sammlung
Seagulls Under Glass and Other Stories (1975) .
Handlung
Sarin ist ein starkes Nervengas, aber anno 1975 fester Bestandteil des Waffenarsenals der US-Streitkräfte und damit auch der NATO. Als die Zuständigkeit der Arsenale vom Verteidigungsministerium zum Landwirtschaftsministerium abgegeben wird, ändern sich die Geheimhaltungsvorschriften. Niemand soll die Sarin-Bestände inspizieren und darüber berichten dürfen, beschließt das Pentagon. Damit das nicht passiert, müssen vielmehr die Bestände verlagert werden.
Eines der betroffenen Länder, die der NATO angehören, ist Großbritannien. Dessen Vertreter ist Sir Brian Hobson vom Außenministerium. Als also der Amerikaner Vanbrugh die Pläne des Pentagon vorträgt, ist er direkt betroffen. Er berät sich gleich nach der Sitzung mit dem Verteidigungsminister Fred Austin. Die Bestände an Sarin müssen aus der walisischen Basis Caerwent in einen Bunker in den südwalisischen Brecon Beacons verlegt werden. Das geht nur mit LKW, ist Austin klar. Hobson soll entsprechende Einsatzpläne aufstellen und den Transport dirigieren. In seinen Augen kann alles Mögliche dabei schiefgehen. Deshalb sabotiert er diesen Plan.
Wales
In Caerwent arbeitet mit Clement Perkins ein ehemaliger Vietnam-Veteran und Marihuana-Junkie im Lager. Seine Psychologie weicht etwas von der der anderen ab, daher unterzieht ihn ein Sanitätsoffizier einer oberflächlichen Befragung. Sie fördert nichts Auffälliges zutage. Perkins hat die Schnauze voll vom ständiges Kistenschleppen und Hin- und Herpacken: Nervengas! Sein Entschluss steht fest: Er will desertieren und nach Schweden auswandern. Und er kennt auch den entsprechenden Mann, an den er sich wenden kann: einen Kommunisten.
In den Brecon Beacons gibt es eine nationalistische Brigade, die für die walisische Unabhängigkeit kämpft. Guto ap Gwylim, der Leiter einer Brigadezelle, hat aus Belgien eine ganze Menge von Waffen organisiert, darunter Sprengstoff und Maschinengewehre. Damit gehen er und seine Anhänger in den Hügeln üben. Dewi ap Tomos ist sein Läufer und Verbindungsmann, aber auch sein bester Freund. Bei einer Übung entdecken Gutos scharfe Augen einen dunklen Schlitz: Es handelt sich um das Fenster eines Bunkers. Leider wird er von einem Leutnant erwischt und verwarnt. Sein Glück ist, dass er seine Waffen nicht dabei hat. Eine Patrouille eskortiert ihn zwei Meilen fort. Noch mal Glück gehabt, denkt Guto, aber die Meldung des Leutnants führt zu einer Kette von Ereignissen, die sich als verhängnisvoll erweisen soll.
Aktivisten
Auch Gutos guter Bekannter, der Folksänger Iwan Cadwaladr, ist nationalistisch eingestellt, aber extrem vorsichtig, seitdem der Special Branch, der Geheimdienst des Innenministeriums Großbritanniens, zahlreiche Nationalisten verhaftet hat. Als er den Reporter Nick Sanders vom „South Wales Mercury“ in einem Pub in Cardiff trifft, rückt Iwan kaum mit der Sprache heraus. Man weiß ja nie, was diese Schmierfinken alles hinausposaunen. Jedenfalls hat er entdeckt, dass Forscher an der Universität Cardiff im Auftrag des britischen Verteidigungsministeriums (Basis Porton Down) an gelierfähigen Flüssigkeiten und Aerosolen arbeiten. Als Sanders zweifelt, verduftet Iwan. Doch Sanders verwendet eine Tagung des Friedensforschungsinstituts SIPRI in Stockholm als Aufhänger, um auf die Arbeit an möglichen chemischen Kampfstoffen zu berichten. Da seinem Verleger Horton dies alles zu vage ist und nach Panikmache unter seiner halben Million Abonnenten riecht, landet der Bericht auf der Halde. Vorerst jedenfalls.
Brüssel
Hobson ist auf Austins Geheiß nicht untätig: Es gilt, den Plan der Amerikaner, der ihr Land in Gefahr bringt, irgendwie zu vereiteln. Der Haken: Der eine NATO-Partner (Großbritannien) darf den Plan den anderen NATO-Partners (USA) nicht sabotieren. Jedenfalls nicht öffentlich und auf keinen Fall nachverfolgbar. Hobson schaltet einen belgischen Anwalt namens Emil Groote ein. Dieser verfasst ein anonymes Schreiben, das er an Iwan Cadwaladr schickt…
Scotland Yard
Detective Chief Inspector Charles Manning vom Special Branch des Scotland Yard arbeitet nun für Hobson. In Cardiff sorgt er dafür, dass Iwan Cadwaladr aus dem Gefängnis entlassen wird, damit er a) zu seiner Frau Gwen zurückkehren kann und b) damit er den Plan der Amis vereitelt. Zusammen mit seinen Gesinnungsgenossen. Aber als Iwan zurückkehrt, hat er ein Problem: zwei Briefe mit zwei verschiedenen Informationen. Es gibt also drei Szenarien, zwischen denen er zu wählen hat:
1) Option 1 (offiziell): Die Amis bringen die als Kaffeebohnen deklarierten Sarin-Kapseln per LKW und Bahn an die Westküste von Wales, von wo ein Frachtschiff die tödliche Fracht sie zu einer Tiefe namens „Deep Six“ 400 Meilen westlich im Atlantik bringen und dort verklappen soll;
2) Option 2: Der Bestimmungsort ist in den vielen Höhlen von Süd-Wales;
3) Option 3: Der Bestimmungsort ist ein Bunkersystem namens SRC-8, ebenfalls in Süd-Wales.
Caerwent
Inzwischen ist Perkins, der Ami, bei besagtem Kommunisten eingetroffen, verdutzt beobachtet von Mannings Geheimdienstagenten. Willy George ist schon lange Witwer und beäugt den Fremden argwöhnisch. Nachdem sich dieser ausgeschlafen und ein Frühstück bekommen hat, lässt er die Bombe platzen: Die Amis planen die Verlegung ihrer Sarin-Vorräte in die Llangattock-Höhlen. Wider Erwarten plant Willy nicht, den Kreml und dessen Geheimdienste zu informieren. Stattdessen besucht er seinen alten Freund Iwan Cadwaladr. Der übergibt die anonym erhaltenen Briefe an Nick Sanders. Der Journalist darf aber nichts damit anfangen, denn sein Chefredakteur vermeidet es lieber, von der Regierung wegen Verleumdung verklagt zu werden.
Ein kühner Vorstoß
Hobson bekommt von seinem Berater Grootke in Brüssel einen Floh ins Ohr gesetzt: Was wäre, wenn die Briten so täten, als würden sie aus der NATO austreten wollen, um zu den Sowjets überzulaufen? Könnten sie sich damit aus der Affäre ziehen? Hobson überlegt nicht lange, sondern wendet sich an einen Mittelsmann. Dupree ist Kanadas ständiger Vertreter bei der NATO. Was Hobson da andeutet, haut ihn erst einmal um und versetzt ihn dann in Panik. Kein Wunder, dass er nichts besseres zu tun hat als genau das zu tun, was Hobson beabsichtigt hat: Er wendet sich an die Amis. Doch Vanbrugh lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Offenbar ist es bereits zu spät, um noch irgendwas an den Verlegungsplänen in Caerwent zu ändern.
In der Bredouille
Cadwaladr hat sich aus Neugier mit Willy George, dem Linken, getroffen, und wird dabei von Scotland Yard beschattet. Auch Glyn Roderick, der studentische Aktivistin vom CCD (Campaign für Chemical Disarmament) bleibt nicht untätig, sondern trifft sich mit Preston, der US-amerikanischer Deserteur. Auch er wird beschattet. DCI Charles Manning ist im Bilde und konfrontiert Cadwaladr, während der gerade mit seiner Frau Gwen einen Ausflug an die Küste macht, ohne Vorwarnung. Gwen fällt aus allen Wolken und muss auch noch mitanhören, wie sich ihr Mann wie ein Feigling aus der Affäre zu ziehen versucht. Heute Nacht bleibt sein Bett kalt. Und nach einem weiteren Besuch Mannings zieht sie aus. Iwan ist am Boden zerstört.
D-Day
Glyn Roderick, der neugierige Student, beschließt nach einem frustrierenden Protestversuch vor einer Militärbasis, in die Höhlen von Llangattock hinabzusteigen und nach den Gasbehältern zu suchen. Er hat erfahren, dass sie in Milchkannen verstaut worden seien, die dann per LKW durchs Land hierher gefahren wurden. Als Glyn die meilenlangen Gänge der Höhlen durchquert stößt er tatsächlich auf ein Dutzend Milchkannen. Sie sehen ganz harmlos aus, wenn der Strahl seiner Taschenlampe über sie streicht. Er beschließt, eine davon zu öffnen und holt einen Schraubenzieher heraus…
Clement Perkins, der als einziger das wahre Versteck des Gasbehälter in den Höhlen kennt, wird nachts in einem Zug zehn Mal von A nach B und wieder zurückgefahren. Er ist stockbesoffen und bekommt kaum etwas davon mit. Der Drahtzieher dieser Aktion ist Willy George. Der Kommunist hat eine Abmachung mit dem Lokführer getroffen, der der Gewerkschaft angehört. Als der Agent von Special Branch bei ihm anklopft, hält er mit dieser Information hinterm Berg, wie es seine Gewohnheit ist.
Iwan Cadwalladr ist von den Kämpfern der Wales-Befreiungsfront unsanft abgeholt worden, damit er sich vor dem Chef, Guto, verantworte. Er erweist sich als unschuldig und schließt sich der nächsten der Truppe an. Diese führt zu den Llangattock-Höhlen in den Brecon Beacons. Als sie unerwartet auf eine Polizeitruppe stoßen, die nach dem verschwundenen Glyn Roderick sucht und die Höhlen abgesperrt hat, wird ihre Lage brenzlig. Wie sollen die Freischärler ihre Waffen erklären?
Sir Brian Hobson hat sich vom Verteidigungsminister einiges anhören müssen, obwohl er selbst fürs Außenministerium arbeitet. Im NATO-Hauptquartier in Brüssel hat er daher einen schweren Stand, als der US-amerikanische Verteidigungsminister eintritt. Vanbrugh fährt also schweres Geschütz auf. Na, schön, immer schön die Ohren steif halten, sagt sich Sir Brian. Die Aktion der Verlegung sei längst gelaufen, erfährt er, und die Gasvorräte durch „konventionelle Waffen“ ersetzt worden. Und „konventionell“ bedeutet, grübelt Hobson. Dann dämmert es ihm: „konventionell“ bedeutet „nuklear“…
Mein Eindruck
Geschickt lässt der Autor einen Countdown ablaufen. Wir erfahren allerdings nur das Notwendigste darüber, was in Wahrheit passiert. Es gibt jede Menge Berichte und Andeutungen auf das eigentliche Geschehen, in dem das Giftgas verlagert wird. Für diese etwas nebulöse Faktenlage sorgt der vielfach erwähnte „Official Secrets Act“. Der Leser mag sich wundern, wie Geheimnisse „offiziell“ sein können, aber das ist ein Missverständnis: Es geht um die Zurückhaltung der vom Gesetz geschützten Informationen und v.a. Dokumente von Regierungsbehörden.
Ausgelöst hat die mehrfachen Verschärfungen dieses Gesetzes eine Aktion der Campaign for Nuclear Disarmament (CND), zu deren Mitbegründern auch der SF-Autor John Brunner gehörte. Die CND veröffentlichte die Standorte sämtlicher Luftwaffenstützpunkte, auf denen Atomwaffen lagerten. Die Amerikaner und ihre britischen Freunde waren davon alles andere als begeistert und machten die CND praktisch mundtot. Das bekam später auch die im Roman erwähnte CCD zu spüren, die das Gleiche für chemische Waffen versuchte. Vorsichtshalber listet der Autor in seinem Vorwort auf, welche Fakten gesichert sind und was in seinem Buch reine Erfindung ist. Soviel also zu Geheimnissen und SF-Erfindungen.
Denn in der Tat könnte man sich schon nach zehn Seiten fragen, was denn an einer Verlegung von Chemiewaffen so futuristisch sein soll. OK, heute sind Chemiewaffen zwar geächtet, aber wie und wann kam es dazu? Im Text ist von einem Stockholmer Protokoll die Rede, das deren Abschaffung fordert bzw. deren Produktion und Einsatz verbieten will, doch was dem Stand der Dinge zum Zeitpunkt der Erzählzeit entspricht, bleibt im Dunkeln. Immerhin scheint das Protokoll dafür zu sorgen, dass in Wales Giftgasbehälter verlegt werden. Der Countdown läuft.
Etwas wird passieren, und halbwegs ist klar, um was es sich handelt, was für etwas Spannung sorgt. Doch es gibt drei verschiedene Versionen der Wahrheit, und das hält sie Spannung bis zum D-Day aufrecht. Nun kommen die freiheitsliebenden Waliser ins Spiel, die damals offenbar mindestens so renitent waren wie die katholischen Nordiren mit ihrer IRA. Ihr Sprachrohr sind a) der Folksänger Iwan Cadwalladr und b) die Zeitung von Cardiff, wo Nick Sanders arbeitet. Daneben gibt es noch die Waliser Freischärler von der Welsh Liberation Front, die allerdings laut Autorenvorwort fiktiv war. Es gibt Kommunisten wie Willy George und studentische Aktivisten wie Glyn Roderick.
Die Zersplitterung der Opposition der englischen Regierung und ihrer Behörden ist augenfällig, und sie bekommen auch keine gemeinsame Aktion zustande. Und als Iwan vorzeitig aus dem Knast entlassen wird, beäugen ihn die WLF-Kämpfer sehr misstrauisch. Für was hat er sein Gewissen verkauft, fragen sie sich. Wenn es nach Scotland Yard geht, soll er eine irreführende Version des Verlegungsplans verbreiten: Nennen wir ihn „Deep Six“, also das Meer. Dem widerspricht eine Version, die Iwan unter der Tür durchgeschoben wird: die Version mit dem Bunker SRC-8. Beide Versionen treffen nicht zu, wie nur Manning weiß – und Clement Perkins, der amerikanische Deserteur.
Man braucht keine Kristallkugel, um erkennen zu können, dass das Unheil nicht mehr aufzuhalten ist. Die Spannung steigt, doch erst als es den ersten Toten gibt – und keineswegs Giftregen – stoppt der Countdown. Nun ist die Wahrheit zu erkennen, die Katze quasi aus dem Sack. Das bedeutet nicht das Ende des Unheils, denn es wird noch zwei weitere Tote geben.
Warum SF?
Ist dies nun ein künftiges Szenario, das die Genrebezeichnung „Science Fiction“ verdient hätte, mag sich der Leser fragen. Doch SF ist vielfach auch als „Speculative Fiction“ interpretiert worden, eventuell sogar von Großmeister Robert Heinlein selbst. Denn spekulieren muss die SF, sei die Zukunft nun in hundert Jahren oder schon am nächsten Tag, finde sie in der hiesigen Welt statt oder in einer parallelen oder einer alternativen. Der Herausgeber Herbert W. Franke, der auch für dieses Buch in der Heyne-SF-reihe verantwortlich zeichnet, hatte einen weiter gefassten Begriff von „Science Fiction“, als er heute landläufig ist. Das ist an seinen vielen Romanen abzulesen. Und Wolfgang Jeschke, der die Reihenleitung von Franke übernahm (Franke ging zu Goldmann), änderte an diesem weiteren Begriff wenig, wie seine eigenen Publikationen als Autor und Herausgeber belegen.
Eine ernste Warnung
Worin besteht dann also die Moral von der Geschicht, mag sich der Leser fragen. Wozu hat sie sich der Waliser Autor ausgedacht? Erstens kommt er seiner Informationspflicht nach, indem er seiner – vornehmlich britischen – Leserschaft mitteilt, was für schlimme Waffen in den Militärbasen lagern. Zweitens zeigt er auf, wie sich die britische Regierung wahrscheinlich verhalten würde, um die Aktion der Amerikaner zu unterbinden oder wenigstens zu diskreditieren: „Wir haben damit nichts zu tun, aber uns sind die Hände gebunden.“
Spannende Unterhaltung ist dennoch gewährleistet, weil nicht nur ein Countdown Unheil ankündigt, sondern es drei widersprüchliche Versionen der Wahrheit gibt. Die Warnung des Autors erweist sich als durchaus begründet, denn es gibt Opfer. Nicht durch den im ursprünglichen und deutschen Buchtitel versprochenen „tödlichen Regen“, sondern durch einfache Begleitumstände. Schon die Widersprüche und die laufend vorgebrachten Lügen und das ausgedrückte Misstrauen sorgen für emotionale Opfer: Gwen Cadwalladr verlässt ihren Mann.
Auch die Splittergruppen der Patrioten misstrauen einander statt zu kooperieren. Und auch der Herausgeber der Zeitung unterbindet jede Warnung vor dem drohenden Unheil: Er fürchtet die Folgen der Anwendung des „Official Secrets Acts“ auf seinen Verlag. In diesem Klima der Angst hat die Wahrheit keine Chance, ganz im Gegenteil: Die Entdeckung der Wahrheit endet tödlich.
Die Übersetzung
Der Text des Originals ist durch Gisela Stege auf das Notwendigste gekürzt worden, um das Limit von 160 Druckseiten einhalten zu können. Weil aber die Schrifttype so winzig ist – vermutlich 6 bis 8 Punkt – passt eine Menge Text zwischen die beiden Buchdeckel. Und so können die Kürzungen nicht allzu groß ausgefallen sein.
Allerdings könnte sich der Leser wundern, was denn aus dem „tödlichen Regen“ und dem „Poison Rain“ des Originals geworden ist – er tritt nicht ein. Auch „Landluft“ sucht man vergebens, denn im Originaltitel ist von „Country Love“, also Patriotismus, die Rede. Und Patriotismus spielt für die Handlung eine zentrale Rolle: Werden die Waliser in der Lage sein, ihr eigenes Land vor dem Giftgas einer fremden Macht, der USA, zu schützen?
Die allfälligen Druckfehler halten sich sehr in Grenzen, und ich habe keine notiert.
Unterm Strich
Wer dem deutschen Buchtitel vertraut und auf einen klassischen englischen Katastrophen-Roman hofft, der wird erheblich enttäuscht werden. Keine marsianischen Kampfmaschinen stapfen durch die schönen walisischen Hügel, und es peitschen auch keine Triffids ihr Gift gegen nichtsahnende Erdlinge, noch verstopfen überdimensionale Kraken die Flüsse, Rohre und Pumpen. Nein, es ist nur Nervengas, in Milchkannen, die ganz harmlos aussehen und sich auf jedem Lastwagen über die Landstraßen karren lassen.
Würde nicht wenigstens die britische Regierung ihre Untertanen vor der Gefahr schützen wollen, mag sich der Leser fragen. Aber ja doch: Sir Brian Hobson vom Außenministerium tut sein Möglichstes, doch erstens wird er belogen und zweitens ausgebootet. Das Innenministerium hat Plan B schon längst in Kraft gesetzt: Statt sich selbst als Gegner des US-Plans zu outen, sollen die freiheitsliebenden Waliser den Kopf hinhalten: Sie sollen die offizielle, aber falsche Version des US-Plans unters Volk bringen.
Leichter gesagt als getan. Denn unter „Freiheitsliebe“ scheint jeder Waliser etwas anderes zu verstehen: mal mit der Macht des gesungenen Wortes, mal mit einem Artikel in der Zeitung, mal mit der Waffe in der Hand. Das führt zu Misstrauen, Kommunikationsblockaden und fatalen Missverständnissen. Drei Tote und eine zerbrochene Ehe sind das – vorläufige – Resultat. Man kann dem Roman durchaus zugestehen, ein politischer Thriller zu sein. Aber Science Fiction? Dann doch lieber marsianische Dreibeiner mit dem Todesstrahl.
Taschenbuch: 159 Seiten
O-Titel: Country Love and Poison Rain, 1973
aus dem Englischen von Gisela Stege
ISBN 9783453303263
www.heyne.de
Der Autor vergibt: