Victor Gunn – Gute Erholung, Inspektor Cromwell!

Gunn Erholung Cover kleinEher widerwillig tritt Scotland-Yard-Inspektor Cromwell eine Erholungsreise nach Venedig an, die wie bei ihm üblich mit einem Mordfall endet, in den sich zu allem Überfluss ausländische Agenten einschalten … – Der 41. Cromwell-Fall spielt zwar im Ausland und versucht ‚moderne‘ Spannungselemente, ist aber ebenso altmodisch wie die meisten Bände dieser Serie und bietet solide, aufgrund ihrer Altbackenheit oft unfreiwillig komische Krimi-Kost.

Das geschieht:

Seinen Jahresurlaub verbringt Chefinspektor William „Old Iron“ Cromwell normalerweise beim Forellenfischen im ländlichen England. Dieses Mal konnte ihn Sergeant Johnny Lister, sein Assistent und Freund, jedoch zu einer Auslandsreise ins sommerliche Venedig überreden. Damit es in den Ferien ungestört bleibt, schließt sich das berühmte Duo unter falschen Namen einer Reisegesellschaft an.

Derek Barnes und Enid Spencer wollen eigentlich ihre Verlobung feiern, doch sie ist eifersüchtig und er verguckt sich in die bezaubernde Sylvia Greenwood. Laut und ordinär gebärdet sich Major Claude Thornton, der sich für die altjüngferliche Penelope Drake interessiert. Die ehemalige Archäologin Vera Kazinczy hält sich ebenso abseits wie der Café-Besitzer Emilio Camelotti und der zwielichtige Ägypter Achmed Haroun

Schon im Bahnhof Victoria Station schlägt eine Gewehrkugel in das Abteil der Gruppe ein, und in der Nacht kann Cromwell gerade noch Madame Kazinczy vor einem Mordanschlag retten. Mit der Anonymität des Inspektors ist es spätestens vorbei, als Major Thornton in Venedig sein Leben nach einem Messerstich aushaucht. Kurz zuvor hatte Cromwell in ihm einen alten Kunden erkannt, der wegen Landesverrat im Gefängnis gesessen und sich später als Erpresser durchgeschlagen hatte.

Brigadiere Pietro Manuelli von der italienischen Kriminalpolizei, der den Fall übernimmt, bittet den englischen Kollegen um Unterstützung. Sie wird ihm gewährt, zumal der Mörder ein zweites Mal zusticht. Die Spur führt nicht nur zurück in die Vergangenheit, sondern auch in ein Wespennest wüster Agenten-Ränken, denn unter den harmlosen Reisenden befindet sich ein Teufel in Menschengestalt, der für sein Entkommen jede Untat zu begehen bereit ist …

Nicht gerade ein Mord im Orient-Express …

Hat eine Serie ihre 41. Folge erreicht, zeugt dies nicht nur von großem Erfolg, sondern bedingt auch eine inhaltliche Erstarrung, die ganz natürlich erfolgen muss. Dies gilt erst recht, wenn die Leserschaft die Beachtung bestimmter Voraussetzungen verlangt, die in unserem Fall recht eng definiert werden. Inspektor Bill Cromwell und Sergeant Johnny Lister haben außerdem in den vielen Jahren ihres Wirkens im Grunde jeden bekannten Krimi-Plot dekliniert; manchen sogar mehrfach.

Victor Gunn, für den der Titel „Vielschreiber“ (oder schöner – weil französisch – ausgedrückt: „prose mechanic“) erfunden werden müsste, würde er nicht schon länger existieren, ließ sich durch solche Kleinigkeiten nie aufhalten. Es blieb ihm gar nicht die Zeit dafür, denn auch in den 1960er Jahren ebbte seine ungeheuerliche Produktivität keineswegs ab. Zwar bot „Gute Erholung, Inspektor Cromwell!“ die übliche Suche nach dem Mörder in einer zuvor ausführlich beschriebenen Schar potenzieller Täter, Verdächtiger und Opfer, doch verlagerte Gunn die Handlung dieses Mal einfach ins ‚exotische‘ Ausland.

Die Reise nach Venedig bot ihm zudem die Möglichkeit, den ersten Teil seiner Geschichte in einen fahrenden Zug zu verlagern. Zwar hatte Agatha Christie – der Gunn offenbar in Gestalt der Archäologin Madame Kazinczy seine etwas bizarre Referenz erweist – diese Kulisse mit „Mord im Orient-Express“ perfekt genutzt, doch davon ließ der Autor sich nicht abschrecken. Die Verlockung ist in der Tat groß: Wo sonst lassen sich die Protagonisten so perfekt isolieren wie in einem fahrenden Zug?

Andere Länder, identische Sitten

Antwort: In einem Hotel, das von englischen Reisenden im Ausland bewohnt wird. Die „Villa Esta“ wird auch unserer Gruppe zur festen Burg, die nur vorsichtig und selten verlassen wird. Italien – Venedig zumal! – bleibt bei Gunn bloße Kulisse, die darüber hinaus nicht wirklich genutzt wird: Die Handlung könnte in jeder europäischen Stadt in Meeresnähe spielen. Manchmal baut Gunn eine Verfolgungsjagd durch Venedigs Gassen ein, aber diese Passagen wirken eher pflichtschuldig.

Auch als ein Mord geschieht, bleibt die italienische Polizei im Hintergrund. Brigadiere Manuelli tritt eigentlich nur auf, um die Ermittlungen Cromwell zu übertragen. Manchmal leistet er Amtshilfe, doch zur Klärung der Verbrechen, die nun in immer schnellerer Folge begangen werden, trägt er nichts bei als diesen denkwürdigen Spruch: „Bei uns tritt das Messer als Mordwaffe ja sehr häufig auf.“ (S. 105)

In der Tat bleibt Gunns Italien, das immerhin die Gegenwart des Jahres 1962 widerspiegeln soll, ein Operettenland, das von dreisten Schürzenjägern, flüchtigen Nazis und ‚Spionen‘ bevölkert wird. Möglicherweise ließ sich der Verfasser von der Jagd auf Adolf Eichmann inspirieren, die gerade die Weltpresse beschäftigte: Nachdem der Organisator des millionenfachen Judenmordes endlich gefangen und vor Gericht gestellt werden konnte, war offenbar geworden, wie er sich viele Jahre mit Hilfe ‚alter Kameraden‘ und nazifreundlicher Mächte der Justiz hatte entziehen können. Gunn verschneidet dies mit einigen James-Bond-Klischees und kreiert einen Mörder, der in der Tat einem zeitgenössischen B-Movie entsprungen sein könnte.

Falsche Fährten zu vielen Motiven

Dabei ist solche Instant-Exotik überflüssig, denn Gunn hat seinen Fall trotz aller Routinen, Klischees und pseudo-modernen Ergänzungen wie üblich fest im Griff. „Gute Erholung, Inspektor Cromwell!“ ist ein klassischer „Whodunit“ – mit Action-Einlagen. Obwohl er uns die Figuren vorstellt, behält der Verfasser gewisse Informationen für sich. Er ist fair genug, seine Leser darüber in Kenntnis zu setzen, was diese gleichzeitig neugierig macht.

Selbstverständlich sind die meisten Geheimnisse für das eigentliche Geschehen unwichtig. Sie dienen der Verschleierung des zentralen Mordtreibens und geben Gunn die Möglichkeit, Seiten zu füllen, ohne dies offensichtlich werden zu lassen, da wir ja nicht wissen können, welche verschwiegene Information tatsächlich auf den Täter hinweist.

Obwohl Zug gefahren und in Venedig ständig das Motorboot in Anspruch genommen wird, geht es sehr gemächlich zu. Warum auch nicht, da der erfahrene oder besser: allwissende Cromwell ohnehin sofort weiß, wer ihm einen Bären aufbindet. Das jeweils geltend gemachte Motiv entlockt er seinen Gesprächspartnern kurz darauf. Dann entscheidet Cromwell, was getan wird, wobei er problemlos Fakten unterschlägt, die seiner Meinung nach das Gesetz oder die Öffentlichkeit nichts angehen.

Ohne Rekorde, sondern zuverlässig ins Ziel

Obwohl wir das Räderwerk recht deutlich erkennen, das diesen Roman vorantreibt, bleibt Gunns handwerkliches Geschick bewundernswert. Wenn wir ihn bei einer besonders aufdringlichen Effekthascherei erwischt zu haben glauben, bringt er dies zuverlässig durch Cromwell zur Sprache und hebelt die Kritik auf diese Weise aus.

Gunn verfügt über die Souveränität, gewisse Merkwürdigkeiten einfach als gegeben vorauszusetzen: Wieso begleitet Johnny Lister seinen Chef in die Ferien? Verpflichtet dürfte er kaum dazu sein. Antwort 1: Zwischen Johnny und „Old Iron“ herrscht nicht nur ein Dienstverhältnis. (Mit dieser Interpretation habe ich mir schon einmal den Zorn diverser Gunn-Leser zugezogen.) Antwort 2: Lister muss mit, weil kein Cromwell-Roman ohne ihn auskommt, der in Vertretung des Lesers (dumme) Fragen stellt und sich irrt, auf dass des Inspektors Licht umso heller strahle.

Natürlich ist „Gute Erholung, Inspektor Cromwell!“ ein geradezu absurd anachronistischer Kriminalroman. (Heldin Sylvias Klasse erkennt man daran, dass sie am Strand einen einteiligen Badeanzug trägt, während Bösfrau Enid im ‚ordinären‘ Bikini auftritt.) Wenn man einen Unterhaltungswert in genau dieser Tatsache zu finden vermag, rundet die sorgfältige Beachtung klassischer Genre-Formeln einen altmodischen und womöglich grotesken Lektüre-Spaß ab.

Autor

Der Engländer Victor Gunn (1889-1965), dessen richtiger Name Edwy Searles Brooks lautete, war als Unterhaltungs-Schriftsteller ein Vollprofi. Er verfasste für Zeitschriften und Magazine über 800 (!) Romane und Kurzgeschichten – genaue Zahlen werden sich vermutlich nie ermitteln lassen – unterschiedlichster Genres, wobei er sich diverser Pseudonyme bediente. Der nome de plume „Victor Gunn“ blieb jenen 43 Romanen und Storysammlungen vorbehalten, die Brooks zwischen 1939 und 1965 um den knurrig-genialen Inspektor William Cromwell und seinen lebenslustigen Assistenten Johnny Lister verfasste.

In Deutschland ist Gunn vom Buchmarkt verschwunden. Dabei ließ sich sein Erfolg einmal durchaus mit dem seines Schriftsteller-Kollegen Edgar Wallace messen. Eine stolze Auflage von 1,6 Millionen meldete der Goldmann-Verlag, der Brooks als Victor Gunn hierzulande exklusiv verlegte, schon 1964 – eine Zahl, die sich in den folgenden Jahren noch beträchtlich erhöht haben dürfte, bis ab 1990 die Flut der ständigen Neuauflagen verebbte.

Taschenbuch: 177 Seiten
Originaltitel: All Change for Murder (London : Collins 1962)
Übersetzung: Tony Westermayr
http://www.randomhouse.de/goldmann

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