Ian Tregillis – Saat des Unheils (Milkweed 1)

Das geschieht:

In der Endphase des spanischen Bürgerkrieges bekommt der britische „Secret Intelligence Service“ 1939 erstmals Wind von einer streng geheimen Wunderwaffe Nazi-Deutschlands. Lieutenant-Commander Raybould Marsh kann Unterlagen und Filmreste bergen, die künstliche Superhelden im Training zeigen: Nazi-Kämpfer, die sich unsichtbar machen, fliegen oder stählerne Panzer kraft ihres Geistes wie Konservenbüchsen zerdrücken können.

Dr. Karl Heinrich von Westarp hat seine ‚Kinder‘ ebenso grausam wie gründlich auf ihren Einsatz in Hitlers geplantem Krieg vorbereitet. Als „Götterelektronengruppe“ sind sie Teil der „Reichsbehörde für die Erweiterung germanischen Potenzials“, auf das „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler große Hoffnungen setzt. Als der II. Weltkrieg ausbricht, ist der Erfolg des „Blitzkriegs“ in der Tat vor allem auf die übernatürlichen Kräfte der Gruppe zurückzuführen.

Im von der Nazi-Invasion bedrohten England wird innerhalb des Geheimdienstes die „Milkweed“-Gruppe gegründet. Sie soll sich speziell mit der Bedrohung durch die schier unbesiegbaren Superhelden beschäftigen und Gegenmaßnahmen ersinnen. Die Briten besitzen ein Pfund, mit dem sie bisher nicht zu wuchern wagten: Seit alter Zeit gibt es unter ihnen „Warlocks“, die Umgang mit den „Eidola“ pflegen – kosmischen Entitäten von gewaltiger Kraft, die den Menschen nicht wirklich gewogen sind. Ruft man sie an, fordern sie ihren blutigen Tribut.

Da der Krieg für die Briten einen ungünstigen Verlauf nimmt, sind sie bereit, diesen Preis zu zahlen. Erste Erfolge stellen sich im Kampf gegen die Nazis ein, doch die Eidola sind gierig. Die wenigen Warlocks, die sich in den Dienst der Regierung stellen, sind dem bald nicht mehr gewachsen. Auf der Gegenseite perfektioniert Von Westarp seine biomechanischen Krieger, von denen einige jedoch eigene Pläne zu schmieden beginnen …

Die unterhaltsame Seite des Irrsinns

Verzweifelte Situationen erfordern nicht selten verzweifelte Maßnahmen. Ideen, denen der gesunde Menschenverstand sonst umgehend den Garaus gemacht hätte, können unter solchen Umständen zur Realität reifen. Not und Angst sorgen für ein zusätzliches Moment des Irrsinns, das solchen Projekten oft innewohnt.

1945 war der Krieg für Nazi-Deutschland verloren. Selbst die Herren des stetig schrumpfenden „Dritten Reiches“ wussten, dass nur ein Wunder sie und ihr Regime retten konnte. Statt dem Kriegselend ein Ende zu machen – das freilich auch ihrer eigenen Herrschaft ein Ende bereitet hätte -, waren Hitler und seine Paladine bereit, Waffen entwickeln zu lassen, von denen die meisten nie über das Stadium des Entwurfes hinauskamen.

Interessante Ansätze, blinder Aktionismus und Spinnereien mischten sich zur Legende der nazideutschen „Wunderwaffen“. Heute scheinen ganze Privatsenderketten ihr Programm mit ‚Dokumentationen‘ zu bestreiten, in denen Nazi-Darsteller tricktechnisch realisierte Nurflügel-Bomber mit Düsenantrieb und Anti-Radarbeschichtung, erdschwerkraftbefreite „Reichsflugscheiben“ oder transatlantische Lenkraketen gegen nachträglich entsetzte Alliierte schicken.

Auch auf der Gegenseite ließ man die Gedanken schweifen. Ian Tregillis nennt als einen Auslöser für seine „Milkweed“-Trilogie das Projekt „Habakuk“: Künstliche Eisberge sollten mit gewaltigen Antriebsaggregaten ausgestattet werden, um sie als kostengünstige Flugzeugträger bzw. Militärstützpunkte über die Meere zu bewegen. („Habakuk“ findet als Reminiszenz Erwähnung in „Saat des Unheils“.) Bekanntlich fand man bessere Alternativen, während die Nazis trotz ihrer „Wunderwaffen“ das verdiente Schicksal ereilte.

Was wäre, wenn …?

Die Frage bleibt akademisch, kann aber dennoch nur schwer unterdrückt werden: Was wäre geschehen, hätte es die eine oder andere „Wunderwaffe“ tatsächlich gegeben? Antworten hatten und haben einfallsreiche Autoren und Filmemacher, und da die Geschichte den bekannten Verlauf genommen hat, ist es möglich, auch gruselige Alternativverläufe zu entwerfen, die nun der Unterhaltung dienen.

Kriege eignen sich besonders für ein abruptes Herumwerfen des Ruders. Sie stellen Ausnahmesituationen dar: Schon eine verlorene oder gewonnene Schlacht kann der Menschheitsgeschichte einen neuen Verlauf geben. Wissenschaftler, Politiker und Militärs haben die daraus resultierenden Konsequenzen immer gern in Planspielen durchdacht. Die populäre (und triviale) Kultur hat sich erwartungsgemäß auf die dramatischen Effekte konzentriert und die (mögliche sowie potenziell langweilige) Realität ausgeklammert.

In der Unterhaltung hat sich vor allem der „Steampunk“ etabliert. Anachronistische oder besser: retro-futuristische Technik wird mit einer unverändert viktorianischen Mentalität konfrontiert und gern mit phantastischen Elementen angereichert. Das Ergebnis ist eine reizvolle Mischung aus Alt und Neu sowie erfolgreich genug, um auf andere Epochen übertragen zu werden. Das „Dritte Reich“ liegt als entsprechender Anker nahe. Vor allem die Briten erinnern sich an jene Zeit, als sie lange allein und isoliert vom Rest der Welt der Nazi-Belagerung standhielten. Der Sieg über die Barbaren führte zu einer Spaltung: Während das banale Böse der Nationalsozialisten historische Wahrheit blieb, mutierten ‚die Nazis‘ in der Unterhaltung zu beliebten Schurken, die neben den Wikingern, Vampiren, Jack the Ripper u. a. Unholden ihr Unwesen trieben.

Der braune Sumpf als Ursuppe

Ian Tregillis legt seine „Milkweed“-Saga zeitgemäß als Trilogie an. Auf diese Weise lohnt sich die Recherche, und das Publikum liebt auch breitgetretenen Quark, wenn er nur einigermaßen schmackhaft bleibt. In diesem Punkt leistet der Autor zumindest im seitenstarken Auftaktband gute Arbeit. Er spinnt ein spannendes Garn, das seinen zusätzlichen Reiz aus der Tatsache gewinnt, dass auch die eindeutig fiktiven Ereignisse realistisch wirken.

Kein Wunder, möchte man meinen, konnte Tregillis doch aus dem Vollen schöpfen. Die pseudowissenschaftlichen Irrwege der Nazi-‚Forschung‘ sind so bizarr, dass sie erfunden den Rahmen jeder Glaubwürdigkeit sprengen würden. Der ideologisch vorgegebene Glaube stand über der wertneutralen Tatsache – eine Abnormität, die von Staats wegen gefordert und begünstigt wurde. Sie fand ihren Höhepunkt im ‚wissenschaftlich‘ begründeten Holocaust, wucherte aber auch sonst vor allem dort, wo „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler das Sagen hatte. Esoterik, Okkultismus, Rassenwahn, Menschenversuche, organisierter Massenmord: Wäre so etwas wie eine „Götterelektronengruppe“ möglich gewesen, hätte Himmler sie gewiss gefördert!

Tregillis beschränkt klug die Kräfte der künstlich aufgerüsteten Nazi-Kampfmaschinen. Sie haben ‚technische‘ und menschliche Schwächen, die ihren Gegnern Chancen lassen; nichts ist bekanntlich langweiliger als ein Schurke ohne Achillesferse. Ihre lieblose, rein auf den Zweck gerichtete Aufzucht hat emotional verkümmerte Kreaturen heranwachsen lassen. Sobald die „Götterelektonen“ nicht durch ihre Körper fluten, sind diese ‚Übermenschen‘ untereinander uneins. Mit nacktem Terror kontrolliert sie ihr Meister von Westarp, den Tregillis als Mischung aus Frankenstein und Mengele darstellt.

Land der Raben, Land der Zauberer

Die britische Gegenseite schildert der Autor als überforderte aber gemeinschaftlich standfest in sich ruhende Kraft. Ganz im Geiste Churchills stemmt sich das Inselreich gegen die Nazis; ein Kampf, der „Blut, Schweiß & Tränen“ kosten wird. Tregillis interpretiert diese Ansage des Widerstands neu, indem er dem Kriegsgeschehen eine übernatürliche Ebene einzieht: Während die Nazi-Technokraten ihre Super-Krieger selbst erschaffen, greifen die Briten auf uralte kosmische Mächte zurück. Tregillis orientiert sich an einem großen Vorbild: H. P. Lovecraft (1890-1937) schuf den „Cthulhu“-Mythos und eine Kosmologie, die das Universum als Spielfeld gottähnlicher Entitäten präsentierte, auf dem die Menschheit keine Rolle spielte. Kommen Kontakte zustande, geht dies in der Regel übel für den neugierigen Erdling aus, denn diesen Wesen sind (nicht nur) moralische Grundsätze absolut fremd.

Mit den von Tregillis postulierten „Eidola“ können die „Warlocks“ Kontakt aufnehmen. Nach Lord William Beauclark, den der Verfasser dem Tatmenschen Raybould Marsh zur Seite stellt, sind dies keine Hexenmeister oder Zauberer, sondern Suchende auf dem Weg zum Wissen um die wahre Natur der Dinge. Deshalb verfügen sie nicht über magische Kräfte, sondern sind höchstens Vermittler, die nun ihren speziellen Kriegsdienst leisten, indem sie die Eidola gegen die Nazis führen.

Ein zusätzliches Spannungsmoment basiert auf der Tatsache, dass die Eidola eher noch gefährlicher als die Nazis und ihre „Götterelektronengruppe“ sind. Das Schicksal der Empires ist ihnen absolut gleichgültig; sie verlangen ihren blutigen Lohn, und als die Briten kriegsbedingt in die Klemme geraten, nutzen sie ihre Macht aus, um die ‚Verbündeten‘ zu hintergehen: Die Eidola wollen die Nazis, die Briten und den Rest der Menschheit vernichten!

Individuen im Chaos

Während Tregillis – der in Sachen alternative Weltgeschichte Erfahrungen im „Wild-Card“-Universum machen konnte – sehr routiniert wilde Kampfgetümmel zu inszenieren weiß, schwächelt er dort, wo er die ‚menschlichen‘ Seiten seiner Figuren herausstellen möchte. Selbstverständlich ringen Raybould Marsh und William Beauclark mit Zweifeln und Skrupeln. Ein väterlicher aber gleichzeitig unerbittlicher Geheimdienstchef beißt im Hintergrund kernig auf seine Pfeife. Natürlich gibt es eine Liebesgeschichte, die Tregillis ungelenk nutzt, um den Verlust der alltäglichen Menschlichkeit im Zeitalter des Krieges zu illustrieren – Klischees, die sich hier allzu deutlich als solche zu erkennen geben.

Auf der Gegenseite zeichnet Tregillis auch die „Götterelektronengruppe“ als Individuen. Sie bleiben präsent, nachdem die Plotline eine unerwartete Wende nimmt: Das Finale spitzt sich nicht auf die apokalyptische Schlacht mit den Nazis zu. Nachdem die ‚neue‘ Geschichte nach der verhinderten Flucht aus Dünkirchen endgültig vom bekannten Zeitstrahl abgebogen ist, nimmt sie rasch einen unerwarteten Verlauf: Die Eidola werden zum eigentlichen Gegner.

Zu allem Überfluss kennen die sowjetischen Kriegsverbündeten keine Skrupel. Um erst die Nazis zu besiegen und anschließend Europa zu unterwerfen, verfüttern die Machthaber bedenkenlos Untertanen an die Eidola. Auf diese Weise haben die Briten den Teufel mit Beelzebub ausgetrieben – eine Entwicklung, die neugierig auf die Fortsetzung der „Milkweed“-Trilogie macht. Dass es gut übersetzt und schön gestaltet ist, rundet das positive Gesamtbild des im leider schon wieder eingestellten Verlag Deltus.de erschienenen Buches angemessen ab.

Autor

Ian Lee Tregillis wurde am 22. Juni 1973 in McCloud County, US-Staat Minnesota, geboren. Er wuchs in Chicago, Illinois, auf und studierte an der University of Minnesota in der Doppelstadt Minneapolis/Saint Paul Astronomie und Physik. Im Rahmen eines Doktorates und später als Astrophysiker in Los Alamos, New Mexico, arbeitete er über Radiogalaxien.

2005 nahm Tregillis am Clarion Writers’ Workshop in East Lansing, Michigan, teil. Eine erste Kurzgeschichte („The Tin Man‘s Lament“) erschien 2006 in „Inside Straight“, einem der von George R. R. Martin herausgegebenen Bände der Shared-World-Serie „Wild Cards“ (seit 1987).

2010 legte Tregillis mit „Bitter Seeds“ (dt. „Saat des Unheils“) nicht nur sein Romandebüt, sondern auch den ersten Band der „Milkweed“-Trilogie vor, die eine alternative, durch phantastische Elemente angereicherte Geschichte des II. Weltkriegs erzählt.

Ian Tregillis lebt und arbeitet weiterhin in New Mexiko.

Taschenbuch: 458 Seiten
Originaltitel: Bitter Seeds (New York : Tor Books 2010)
Übersetzung: Christian Jentzsch
Cover: Dirk Berger
www.deltus.de
iantregillis.com

eBook: 733 KB
ISBN-13: 978-3-940626-16-5
www.festa.de

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