Scarborough, Elizabeth A. – Frau im Nebel, Die

Edinburgh um 1800. Der junge Jurist und Schriftsteller Walter Scott beginnt sich einen Namen als Chronist seiner schottischen Heimat zu machen. Er sammelt alte Sagen und Lieder, die er auch in seinen historischen Romanen verarbeitet. Dass es tatsächlich Magie und Fabelwesen gibt, ist nicht neu für ihn. Als ständiger Begleiter des Sheriffs – diesen Posten wird er bald selbst übernehmen – kommt er weit herum und hat viel Unheimliches gesehen.

Der Nor‘ Loch ist ein kleiner See, der die Altstadt Edinburghs von der Neustadt trennt. Nun soll er aufgeschüttet und bebaut werden. Im Verlauf der Arbeiten werden Überreste einer Frauenleiche im Schlick gefunden. Ihr gesellen sich bald weitere Opfer zu. Eine Gruppe fahrender Kesselflicker hat im Wald vor der Stadt ihr Lager aufgeschlagen. Des Nachts werden sie mehrfach überfallen, Frauen und Mädchen entführt. Die „Noddies“, skrupellose Leichenräuber, die Studienobjekte für die Seziersäle der Universität besorgen, sollen dahinterstecken.

Scott wird mit der Untersuchung betraut. Er lernt im Lager Midge Margret Caird kennen – und bald schätzen. Seine Ermittlungen führen ihn auf die Spur des „Wissenschaftlers“ Cornelius Primrose. Hinter der Maske des biederen Kirchenmannes lauert der Wahnsinn. Primrose will seine vor Jahren verstorbene Frau zum Leben erwecken und transplantiert einem selbst gebastelten Neu-Körper frische Leichenteile. Scott kommt ihm auf die Spur, doch zu spät, denn schon hat der „Doktor“ sein begehrliches Auge auf Midge Margret geworfen und verschleppt auch sie in sein grausiges Labor …

„Die Frau im Nebel“ gehört in eine (kleine) Nische des Fantasy-Genres. Elizabeth Scarborough siedelt das Geschehen in einer verfremdeten Realität an. Edinburgh Anno 1800 hat sich mit seinen Bewohnern dem Zeitgenossen durchaus so dargeboten wie die Autorin es beschreibt. Aber dennoch ist es gleichzeitig eine Spielwiese, auf der um des Effektes willen allerlei Übernatürliches vorgeht.

Am besten stellt man sich Scarboroughs Edinburgh als „Parallelstadt“ zur echten Metropole vor, eingebettet in eine Welt, in der Zauberei oder Gespenster zwar nicht alltäglich, aber möglich sind. Als Idee funktioniert das vorzüglich, weil im Jahr 1800 – dem realen und dem fiktiven – der europäische Mensch auf dem schmalen Grat zwischen dem Mystizismus des Mittelalters und der Aufklärung der Moderne balanciert.

In diese Kulissen – der Vergleich ist nicht schlecht, wie gleich auszuführen sein wird – platziert Scarborough ihre Geschichte. Flott geschrieben ist sie und ohne die gedrechselten Altertümeleien, die so mancher Autor unverzichtbar für eine in der Vergangenheit spielende Handlung hält. Besondere Originalität kann Scarborough zwar nicht für sich beanspruchen; sie bedient sich kräftig diverser, durch die Kinomühlen gedrehter Trivialmythen. Der böse Primrose wirkt beispielsweise wie eine Mischung der Doktores Frankenstein und Phibes, ergänzt durch mehr als einen Hauch Jack the Ripper.

Aber der Nostalgiefaktor ist durchaus einkalkuliert in Scarboroughs Spiel. „Die Frau im Nebel“ ist sauber getischlerte Unterhaltung, die einfach Spaß macht und sich wohltuend abhebt von den x-bändig ausladenden Tolkien/König Artus/Nibelungen-Abklatschen, mit denen wir Fantasy-Freunde viel zu ausgiebig gepiesackt werden.

(Sir) Walter Scott (1771-1832) ist eine echte Gestalt der Geschichte, die indes von Scarborough von ihrer Biografie gelöst und in ein fiktives Abenteuer gestürzt wird. Mit Leib und Seele gleicht „ihr“ Scott dennoch dem Original – einem ungestümen, unternehmungslustigen, lesewütigen und neugierigen Mann aus Schottland, der 1799 in der Tat zum Sheriff – freilich in der Grafschaft Selkirk – ernannt wurde und sich bis zum Sekretär des Gerichtshofs zu Edinburgh hocharbeitete, ein gut dotierter Posten, der ihm die Muße schenkte, seiner geliebten Schriftstellerei zu frönen. Mit 40 abenteuerlichen, meist historischen Werken wie dem Ritterroman „Ivanhoe“ (1819) erreichte Scott ein kopfstarkes Publikum und wurde ein schottischer Nationaldichter.

In unserer Geschichte ist Walter Scott der Repräsentant zweier Welten. Scheußliche Morde ereignen sich. Das war (und ist) in einer großen Stadt nicht ungewöhnlich. Scott beginnt seine Ermittlungen als Kriminalist, der sich für seine Zeit ungewöhnlich fortschrittlicher Methoden bedient. Damit kommt er nicht weit, so dass er relativ rasch wieder auf „traditionelle“ Praktiken zurückgreift, die das Übernatürliche nicht nur anerkennen, sondern auch nutzen. Schließlich hat Scott selbst einen „echten“ Magier unter seinen Vorfahren. Außerdem ist er Schotte. Bei aller Skepsis akzeptiert er deshalb letztlich die Existenz unerklärlicher Phänomene.

Auf seine Weise steht auch das Böse in unserer Geschichte mit je einem Bein fest in beiden Welten. Es trägt die Gestalt des „Doktors“ Cornelius Primrose, der ein |mad scientist| reinsten Wassers ist, obwohl nicht die Wissenschaft ihn ohne Rücksicht und Skrupel antreibt, sondern die wahnsinnige Liebe zur unter traurigen Umständen dahingeschiedenen Gattin. Die will er zum Leben erwecken und tritt dabei nicht nur als Frankenstein im modernen Labor auf den Plan, sondern auch als Alchimist und Magier der Vergangenheit. Kein Wunder, dass es ihm genauso ergeht wie Goethes Zauberlehrling und die eigene, weder verstandene noch gar lenkbare Schöpfung über ihn kommt.

Für Midge Margret Caird hat Elizabeth Scarborough einen Winkel in der zeitgenössischen Gesellschaft gefunden, in dem eine Frau relativ frei und ungebunden agieren konnte. Als vagabundierende Kesselflickerin steht sie am Rande und bleibt daher von vielen Konventionen verschont. Ihr freigeistiges Denken und Handeln ist wichtig, da ein Roman ohne mindestens eine weibliche Hauptrolle heute vom Publikum schlecht angenommen wird. Trotzdem umgeht Scarborough allzu ausgehöhlte Klischees elegant, indem sie Scott und Margret eben nicht, wie zu erwarten wäre, in Liebe entflammen lässt. Die schöne Kesselflickerin steht zunächst nicht einmal auf Primroses Liste unfreiwilliger Organ- und Körperspenderinnen. Sie ist kein Objekt, sondern handelnde Person. Das bleibt sie sogar, als sie schließlich doch im Labor des Diakons landet.

Elizabeth Ann Scarborough wurde am 23. März 1947 in Kansas City, Missouri, geboren. Sie lernte in der |Bethany Hospital School of Nursing| und studierte an der |University of Alaska| (!); während des Vietnamkriegs diente sie als Krankenschwester.

Seit 1982 arbeitet Scarborough als Schriftstellerin. Sie debütierte mit „Song of Sorcery“ (dt. „Zauberlied“) und erwies sich rasch als sowohl fleißige wie auch gewandte Autorin, die in der Science-Fiction genauso beheimatet ist wie in der Fantasy. Bis heute verfasste sie zwanzig nicht seriengebundene Romane beider Genres, darunter „Healer’s War“, für den sie 1989 einen |Nebula Award| gewann. Dazu kommen weitere Romane, die sie gemeinsam mit Anne McCaffrey schrieb, sowie Episoden zu ihren beiden Erfolgsserien „Petaybee“ und „Acorna“.

Scarborough gibt Kurse für angehende Schriftsteller am |Penninsula Community College|. Außerdem entwirft sie volkstümelnden Perlenschmuck, den sie online vertreibt. Ihre offizielle [Website]http://www.olympus.net/personal/scarboro beschränkt sich primär auf die Präsentation ihrer Waren, über deren künstlerische Qualität an dieser Stelle zu Gunsten der Autorin kein Urteil gefällt werden soll.