Ildikó von Kürthy – Morgen kann kommen

Ruth sichtet gerade in einem Drogeriemarkt die Haarfärbeprodukte, als eine Frau an ihr vorbeigeht und sie leicht anrempelt. Kurz darauf findet Ruth in der Fotoecke ein zerrissenes Foto im Papierkorb, das ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt. Kurzerhand schnappt sie sich ihren riesengroßen Hund und fährt mit ihm quer durch Deutschland – von München aus nach Hamburg und damit auch in ihre Vergangenheit. Am Tag ihrer Hochzeit ist in ihrem Leben das erste Mal etwas zerbrochen, ein Mensch hat sie dermaßen verletzt, dass sie mit dieser Person seitdem keinen Kontakt mehr hatte. Doch in ihrer Verzweiflung möchte sie sich nun den Geistern ihrer Vergangenheit stellen.

Ihre Schwester Gloria wohnt immer noch im Haus ihrer Kindheit und genießt das Leben mit ihren Mitbewohnern. Viel Zeit verbringt sie mit Rudi, der todkrank ist und schon den letzten Tag in seinem Leben im Kalender eingetragen hat. Gloria verdrängt den Gedanken daran, Rudi schon bald für immer zu verlieren.

Gute Laune bringt allerdings Erdal ins Haus: Eigentlich ist der zurzeit zu einer Entschlackungskur in Timmendorf, doch da ihm das Fasten gar nicht liegt, flüchtet er sich nur zu gern und zu oft in Glorias Haus und lässt sich dort auch kulinarisch verwöhnen.

Als dann Ruth in Hamburg eintrifft, müssen die beiden ungleichen Schwestern sich ihrer Vergangenheit stellen und erkennen dabei, dass sie beide getäuscht wurden…

Das Ende ist erst der Anfang

Seit Ildikó von Kürthys Debütroman „Mondscheintarif“ sind 23 Jahre vergangen. 23 Jahre, in denen ich jedes einzelne ihrer Bücher verschlungen habe und 23 Jahre, in denen nicht nur die Leserschaft gealtert ist, sondern auch die Autorin und die Inhalte ihrer Bücher. Während Ildikó von Kürthy anfangs mit viel Leichtigkeit und Wortwitz von jungen Frauen mit Liebeskummer und einem gespaltenen Verhältnis zu ihren Füßen geschrieben hat, von Frauen, die unsicher waren und ihren Platz im Leben noch finden mussten, so sind ihre Charaktere und Geschichten seitdem gereift. Ruth und Gloria sind gestandene Frauen Anfang 50, die aber doch an einem Wendepunkt in ihrem Leben angekommen sind, denn vor allem Ruth muss schmerzhaft erfahren, dass in ihrem Leben nichts so ist, wie sie gedacht hatte.

Was von Kürthys Bücher ausmacht, sind immer wieder die lebensnahen und liebenswürdigen Charaktere. Erdal Küppers ist dabei ein alter Bekannter, der mit seinen liebenswürdigen Spleens einfach herrlich komisch ist und die vielleicht einzige Figur, die nicht so ganz aus dem üblichen Leben gegriffen ist. Mit Ruth und Gloria aber schildert Ildikó von Kürthy zwei Frauen, die sehr unterschiedlich sind, aber gleichzeitig auch viel gemeinsam haben. In ihrer Kindheit haben sie sich gegenseitig Halt gegeben, und doch hat sich Ruth neben ihrer selbstbewussten Schwester immer unsicher gefühlt. Und so dauert es eine Weile, bis die beiden sich jetzt wieder annähern.

Beide Charaktere, aber auch Fatma, die kurzerhand auf Erdals Einladung ebenfalls anreist, bieten beim Lesen Potenzial zur Identifikation. Alle drei Frauen wachsen einem ans Herz, man fühlt und leidet mit ihnen mit und ist fassungslos, als man irgendwann erkennen muss, was eine Person in Ruths Leben ihr genommen hat.

Mit den reiferen Geschichten ist auch die Erzählweise nachdenklicher geworden. Die Autorin hat zwar nicht ihren sympathischen und leichten Wortwitz verloren – sämtliche Passagen, die sich Erdal widmen, sprühen weiterhin davon -, aber ihre Bücher verleiten nicht mehr auf jeder Seite zum Lachen oder rühren zu Tränen, sondern sie regen eher zum Nachdenken an. Was mir unglaublich gut gefällt, sind die Bilder, die Ildikó von Kürthy nutzt, um Situationen und Charaktere zu beschreiben: ein Gesichtsausdruck, der sich davonmacht, wie ein auf frischer Tat ertappter Einbrecher oder ein Fels in der Brandung, der verlassen wird und dann nur noch ein liegen gelassener, kahler Findling ist. Schließlich macht ein Fels ohne Brandung ja nicht mehr viel her. Das sind Beschreibungen, in denen ich mich verlieren kann beim Lesen und bei denen ich mich einfach wohlfühle.

Morgen kann kommen

Ildikó von Kürthys Romane werden reifer und rühren mich aber gerade dadurch in meinem tiefsten Inneren. In ihrem neuesten Buch gehen viele Wege zu Ende, Beziehungen scheitern, neue werden (wieder) geknüpft und doch ist bei allem Verlust klar, dass das Leben weitergeht: Der Morgen kann kommen. Wenn man denn nur in Ruhe sein Bett gemacht hat.

„Dieses Buch ist ein Befreiungsschlag“ heißt es euphorisch auf dem Buchrücken. Das empfand ich nicht so, dafür kommt es aus meiner Sicht zu still und unauffällig daher. Aber es rührt mich an, stellt mir Charaktere vor, mit denen ich im echten Leben gern befreundet wäre und die ich beim Zuklappen des Buches nur ungern verlasse. In diesem Buch habe ich mich einfach wohlgefühlt, ich habe es gern gelesen, habe mich sehr gut unterhalten gefühlt und es wirkt definitiv nach.

Für mich ganz klar eine Leseempfehlung!

Gebundene Ausgabe: 368 Seiten
ISBN-13: 978-3805200936
Wunderlich Verlag

Der Autor vergibt: (5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)