Carsten Jensen – Wir Ertrunkenen

Das Meer – unendliche Weiten, unendliche Möglichkeiten. Ungezählte Menschen zog es hinaus in die entbehrungsreichen Abenteuer der Segelschifffahrt, und meist waren es Männer, die ihre Familien über Jahre hinaus verließen. Sie sahen ihre Kinder nicht aufwachsen, kannten nicht die alltäglichen Probleme der Familien, ihr sehnsüchtiges Warten oder verzweifeltes Schimpfen und die ständige Angst, den Sohn, Ehemann oder Vater nicht wiederzusehen. Denn das Meer ist nicht gut oder böse – es ist gleichgültig.

Carsten Jensen erzählt die Geschichte der dänischen Stadt Marstal, die über Generationen hinweg ein angesehener Ursprungsort guter Seeleute war. Hunderte von Segelschiffen waren in diesem Hafen beheimatet, und Generationen von Vätern und Söhnen war der Weg vorherbestimmt. Bis mit den Weltkriegen die Männer knapp wurden, immer mehr Schiffe sanken, die Dampfschifffahrt und der Stahlbau die edlen Segler verdrängten und die großen Reedereien von den überlebenden Frauen übernommen wurden, um teils zu verschwinden, teils zur Zerstörung der Lebensgrundlage der Stadt verwendet zu werden.

Die Geschichte einer Familie zieht sich als roter Faden durch das Buch. Laurids Madsen, Erbe der schweren Seemannsstiefel seines Vaters, wird mit anderen Seeleuten seiner Stadt von der Marine eingezogen, um im Ersten Weltkrieg gegen Deutschland zu kämpfen. Im Gefecht vor Eckernförde versagen die Dänen in ihren überlegenen Militärschiffen gegen die schwachen Geschütze der deutschen Stellungen. Bei der Explosion der Pulvervorräte wird Laurids in den Himmel geschleudert und landet später am Strand auf seinen Füßen. »Ich habe Petrus‘ Arsch geküsst, aber der Himmel wollte mich nicht«, so erzählt er daraufhin jedem Kriegsgefangenen, der es hören will.

Albert Madsen findet die Stiefel seines Vaters Laurids auf dem Dachboden und nimmt sie mit auf seine erste Heuer. Er durchkreuzt lange die Weltmeere auf der Suche nach seinem Vater, bis er schließlich an Bord eines Menschenhändlers als Steuermann anheuert und nach dem Tod dieses gefürchteten Mannes Kapitän seines ersten Schiffes ist. Albert wird ein wichtiger Mann für Marstal, ein großer und angesehener Reeder, der die Interessen der Stadt und der Seefahrt zu seinen eigenen macht. Sein Ziehsohn Knud Erik Fries wird schließlich der letzte einer langen Reihe fähiger Männer, die die geschichtsträchtigen Stiefel der Madsens tragen. Mit ihm und durch seine Mutter Clara Fries, Erbin Albert Madsens, endet die Ära der großen Seestadt Marstal.

Carsten Jensen erzählt die Geschichte seiner Heimatstadt in tiefen Farben und gischtenden Wogen, erweckt die Liebe ihrer Einwohner zur Heimat und zur Seefahrt im Leser und beleuchtet den Wandel der Menschen und der Zeit mit erzählerischem Geschick erster Güte, so dass der Schmerz der alten Generation, die den rasanten Wandel in der Seefahrt nach einem eigenen Leben, das noch nach den alten Regeln verlief, erlebt, den Leser mitreißt und trotz aller Vorteile der neuen seemännischen Sicherheit diesen stolzen alten Zeiten der großen Segler nachtrauern lässt.

Auffällig ist die Menschlichkeit der Charaktere. Schon der gefeierte Laurids verschwindet plötzlich und hinterlässt eine vielköpfige Familie, um in der Südsee mit einer eingeborenen Inselbewohnerin eine neue zu gründen. Albert lebt ein inbrünstiges Leben als Seemann ohne menschliche Bindungen, er scheint verheiratet mit Marstal und dessen Schicksal. So wird seine Beziehung zu Clara Fries ein Drama und erweckt die Leidenschaft und Fähigkeiten dieser Frau, die schließlich in der Zerstörung Marstals als Seehafen münden. Ein fähiger Seemann namens Hermann, dessen Jugend durch den Seetod seines Vaters verkorkst wird, kehrt erfolgreich nach Marstal heim und wird Kinderschreck und großspuriger Wortführer gegen die Gemeinschaft. Er gilt als Mörder und Vergewaltiger, aber im Zweiten Weltkrieg begegnet er Knud Erik in hilfloser Lage und wird beliebtes Mannschaftsmitglied auf dem von Erik befehligten Kriegsschiff. Knud Erik selbst zerbricht fast an der Verantwortung für die Menschen auf seinen Schiffen, deren Notsignalen im Kampfeinsatz zu gehorchen verboten wurde. Diese Verantwortung verfolgt ihn in den Schlaf und errichtet eine Barriere um ihn, die zu durchbrechen erst seiner plötzlich wieder auftauchenden ersten Liebe gelingt. Clara Fries schließlich, deren Mann dem Meer zum Opfer fiel und deren Beziehung zu Albert Madsen einer Tragödie gleicht, zerbricht an ihrem Schmerz und befreit so einen Intellekt, der durch ihren Wahnsinn die Reedereien Marstals ruiniert und der Stadt so die Lebensgrundlage raubt.

Das Meer ist gleichgültig, schreibt Jensen. Doch während der Lektüre lernt der Leser die Gründe der vielen Menschen und ihre Faszination für diesen Schiffe fressenden Moloch kennen und teilen, und so bleibt auch bei ihm der Verlust spürbar, den die Welt durch das Abwracken der großen Segler erfuhr.

Originaltitel: Vi, De Druknede
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg
781 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-8135-0301-2

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