Wolfgang Jeschke – Der letzte Tag der Schöpfung. SF-Roman

Idee genial, aber fatal: Den Scheichs das Öl abgraben!

Im Mittelmeerraum werden immer wieder Gegenstände gefunden, die aus fernster Vergangenheit stammen, aber aus Materialien bestehen, die es erst heute gibt oder gar erst in Zukunft geben wird – ein Rätsel.

Diese Funde bestärken die US-Regierung in der Annahme, dass sie mit dem geheimsten ihrer Projekte Erfolg haben wird, dem ehrgeizigen Plan, Menschen und Material mittels Zeitmaschinen fünf Millionen Jahre in die Vergangenheit zu schicken, das arabische Öl anzuzapfen und in die Gegenwart heraufzupumpen. (Verlagsinfo) Mit einem Vorwort von Frank Schätzing.

Der Autor

Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für Kenner“ im |Kichtenberg|-Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Science-Fiction-Reihe Deutschlands beim |Heyne|-Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und zum Teil für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Seine erster Roman „Der letzte Tag der Schöpfung“ (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986). Eine seiner Storysammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“.

Dafür und für seine Herausgebertätigkeit erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Kurd-Laßwitz-Preis (1981ff.) und den Harrison Award (1987). Bei Knaur erschien „Das Cusanus-Spiel„, danach „Dschiheads“ (KLP 2014). Jeschke starb 2015.

Handlung

Nur wenig hat Astronaut Steve Stanley, Jahrgang 1943, auf seine neueste Mission vorbereitet, und dabei hat der Luftwaffenmann mit seinen 40 Jahren schon einiges gesehen. Doch die neueste Mission ist dermaßen supergeheim, dass man schon nach geringsten Andeutungen Ja oder Nein sagen muss, um an ihr teilnehmen zu können – oder abzulehnen. Seltsam ist es schon, dass ausgerechnet die Navy die Mission leitet und außerdem ein paar NASA-Leute herumstehen. Jedenfalls sagt Steve erst einmal zu und verabschiedet sich von seiner Freundin Lucy, die in Arizona auf ihn warten will.

Es geht auf die Bermudas. Doch statt Strandurlaub ist harte Arbeit und Training angesagt, dann irgendwelche Tests in Arizona. Erst nach langen Monaten, in denen die Freundesgruppen zusammengeschweißt werden, erfahren die Testpersonen, was eigentlich Sache ist: Sie sollen 5,5 Millionen Jahre in die Vergangenheit transferiert werden, um im Mittelmeer eine Pipeline von Libyen zur Nordsee zu bauen. Dort pumpen Zeitmaschinen, die als Bohrinseln getarnt sind, das angelieferte Öl in die amerikanische Gegenwart. Auf diese Weise will die Regierung ihre Energieversorgung sichern, die es durch die Scheichs bedroht sieht.

Steve und Co. fliegen und schippern in die Gegend der Balearen und weiter südlich Richtung Algerien. Dort wartet ein Hubschrauberträger, auf dem so genannte „Käfige“ zusammengebaut werden. In diesen Containern befinden sich Mensch und Material für den Transfer. Endlich kommt der Tag des „Absprungs“: Steve und sein Kollege Jerome müssen vier oder fünf Tage im Container warten, bis das Energiefeld so stark ist, dass es als „Blase“ in die Zielzeit fallen gelassen werden kann: auf den Grund des in der Zielzeit völlig leeren Mittelmeerbeckens. Denn die Barriere von Gibraltar, die das Binnenmeer vom Atlantik trennt, ist noch geschlossen und nur die Flüsse ergießen ihr Wasser ins westlichen Becken. Auf Sardinien sollen Steve und seine Gruppe einen Stützpunkt errichten.

Soweit die Theorie.

Die Praxis, die Steve und Jerome vorfinden, sieht ganz anders aus.

Kaum sind sie mit ihrem Segelgleiter gelandet, werden sie bereits mit Atomgranaten beschossen, ein MiG-Bomber beschießt sie und aus dem Gebüsch pfeifen ihnen die Kugeln um die Ohren. Gleich zwei Sender wollen sie in Sicherheit lotsen – der eine gehört dem arabisch-sowjetischen Feind an der afrikanischen Küste, der andere gehört ihren eigenen Leute. Und die haben sich in einer Festung auf Sardinien verschanzt.

Es ist eine radioaktive Hölle, die Steve und Jerome vorfinden – von ihren Kollegen keine Spur. Da taucht ein kleiner Mensch auf, der Uniform trägt und ein Sturmgewhr im Anschlag hat. Er nennt sich Goodluck, dabei kann Steve erkennen, dass es sich um einen Affen handelt. Man hatte sie gewarnt, dass es Frühmenschen geben würde, aber dass diese von den Amis rekrutiert würden, hätte sich Steve sich nicht träumen lassen.

Goodluck bringt sie und ihre Ausrüstung zur Festung. Dort erfahren sie, welche katastrophalen Auswirkungen das Unternehmen der Navy auf die Weltgeschichte bereits gehabt hat. Als sie einen Kumpel wiedersehen, begreift Steve endlich, was Zeit bedeutet: Elmer ist schon vor 40 lokalen Jahren „herunter“gekommen und inzwischen ein rüstiger Greis. Die Zielgenauigkeit der Navy lässt sehr zu wünschen übrig. Aber das ist noch nicht das Ende der Überraschungen: Es gibt kein Rückfahrticket!

Mein Eindruck

Ganz allmählich bereitet der Autor den gespannten Leser auf das gewaltige Panorama vor, das Steve Stanley in der Zielzeit, vor 5,5 Mio. Jahren, erwartet. Erst ist die Rede von drei Artefakten: einem Jeep bei Gibraltar; Plastikrohren im Vatikan und eine futuristische Waffe, die ein Fremdenlegionär in der Sahara findet. Alle drei Artefakte landen schließlich in den sechziger Jahren bei Admiral Francis, der das ganze Zeitsprungprojekt einfädelt. Der Navy-Mann ist schlicht größenwahnsinnig und hat keine Vorstellung davon, was er damit anrichten könnte. Das sagen ihm im zweiten Teil mehrere Wissenschaftler auf den Kopf zu (siehe unten: Aloysius-Effekt). Er weist alle Einwände im Interesse der nationalen Sicherheit und Versorgung zurück.

Erst Steve und Jerome finden heraus – andere schon 40 Jahre vorher – was eigentlich alles schief laufen kann, wenn man es so vermasselt wie die Navy. Und das ist eine ganze Menge. Ich werde nicht mehr darüber verraten, als ich oben schon angedeutet habe.

Die Sprache ist einfach gehalten und stellenweise sogar sehr poetisch, besonders in der Wiedergabe von natürlicher Umgebung und Stimmung. Zudem erfahren wir immer etwas über Steves Innenleben: seine Träume sind detailliert wiedergegeben. Es ist also gar nicht nötig, lange über Seelenzustände zu debattieren. Man kann sich Steves Zustand leicht vorstellen. Es ist zunächst ein tiefer Schockzustand, der sich nur langsam legt.

Auf den Schultern von Pangborn & Co.

Die einfache Sprache reicht völlig aus, um Steves Begegnungen mit den fremden Völkern und Gruppen in dieser Zeit (Pliozän oder Miozän) zu schildern. Es ist das gleiche Verfahren, das schon Edgar Pangborn in seinem Post-Holocaust-Roman „Davy“ eingesetzt hat. (Pangborn schildert 1964 die USA 300 Jahre nach einem Atomkrieg, und der Titelheld erkundet die Welt.) Der Autor integriert eine Hommage an diesen Roman, indem er einen Hund Davy nennt. („Davy“ erschien 1978 nur drei Jahre vor Jeschkes Roman erstmals in deutscher Übersetzung.)

Auf Pangborn und viele andere Autoren aufbauend, ist es für den Autor nicht erforderlich, sich des Langen und Breiten über Probleme des Zeitreisens auszulassen. Erstens erledigt das bereits der Teil 2, und zweitens ist Steve nicht dafür ausgebildet. Folglich braucht er sich nur mit praktischen Problemen herumzuschlagen. Die sind aber auch nicht von Pappe, und in seinem Aufenthalt von rund zehn Jahren ereignen sich Dinge, die für spannende und actionreiche Szenen sorgen.

Der Aloysius-Effekt

Doch Jeschke ist weder Heinlein noch John Ringo, sondern weitaus nachdenklicher. Durch Steves Augen und Vorstellungskraft und Träume erfahren wir, wie sich die Menschen in der Zielzeit mit den Affenmenschenarten (es gibt mehrere) arrangieren und wie sich die Bermudas, die Steve besucht hat, zu einem Hochkulturzentrum entwickeln. Man muss bedenken, dass sich die Menschen in einem alternativen Zeitstrom befinden und folglich die Neuankömmlinge jeder aus einer anderen Herkunftszeit stammen.

Denn das, was das Projekt anrichtet, wirkt sich ja auf die Vergangenheit/Zukunft aus. In einer der Herkunftszeiten herrscht ein mexikanischer Kaiser namens Maximilian V. von Panama bis zum Mississippi, und die Vereinigten Staaten sind nur Bittsteller an seiner Tafel. Die Menschen aus dieser Zeit hatten natürlich keine Kenntnis vom Navy-Projekt. Das ist der Aloysius-Effekt: trotz der Veränderungen in der fernen Vergangenheit erscheint den Menschen ihre Gegenwart als die einzig richtige und wahre – ist ja auch logisch.

Es ist schade, dass sich Steve nicht zu einer neuen zwischenmenschlichen Beziehung aufraffen kann. Das hätte ein interessantes Problem ergeben: Wenn er einen Sohn gezeugt hätte, wäre Steve dann je geboren worden? Analog zu der Frage: Wenn er in der Vergangenheit seinen Großvater getötet hätte, wäre er dann geboren worden? Diese Frage wird auch in „Zurück in die Zukunft I“ von Michael J. Fox angesprochen.

Der Schluss ist eine Mischung aus Spannung, Traurigkeit und Hoffnung. Denn der Leser wird sich erinnern, dass ein Jeep am Felsen von Gibraltar aus den Sedimenten eines Sumpflochs ausgegraben wurde. Wie kam der Jeep dorthin? Jetzt endlich erhält der Leser die Antwort darauf. Und bald darauf erscheint ein Engel aus der Zukunft …

Unterm Strich

Okay, die Idee ist brillant, aber anders als Eschbachs Roman „Das Jesus-Video“ mit dem der Verlag das Buch vergleicht, dürfte dieser Roman nie verfilmt werden. Es sei denn, Jerry Bruckheimer bekommt ein Budget von 500 Mio. Dollar zusammen. Aber dann müsste das Projekt der Amis klappen – und somit wäre der ganze Sinn des Buches wieder futsch. Also wird daraus wohl nichts werden. (Hätte vielleicht der eine oder andere Scheich daran Interesse? Ich weiß nicht.)

Der Roman ist weder für zwölfjährige Jungs (zu viel Gewalt) noch für pubertierende Abenteuersuchende (kein Sex) der ideale Lesestoff, sondern scheint einen gebildeten und nachdenkensbereiten Leser zu erfordern. Die Kenntnis diverser Science-Fiction-Romane über einen alternativen Geschichtsverlauf (z. B. Ward Moores „Der große Süden“) oder über die Zeit nach einem atomaren Holocaust („Davy“, s. o., oder George Stewarts „Leben ohne Ende/Earth abides“) wäre sicherlich von Vorteil, aber keineswegs Bedingung.

Ich habe mir einen spannenderen Roman erwartet, aber keinen so tiefgründigen und bewegenden Roman erhofft. Eine positive Überraschung.
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