Joseph Mitchell – Joe Goulds Geheimnis

Ein Journalist aus New York verfolgt über viele Jahre die Spuren eines unbehausten Stadtstreichers, der von sich behauptet, die Geschichte der Menschheit von ganz unten zu schreiben, und damit im intellektuellen Milieu Beachtung findet. Nach dem Tod dieses Mannes erzählt der Journalist dessen wahre Geschichte … und die ahnt man zwar, kann sie aber dennoch kaum glauben. Die Geschichte des Joe Gould wird von Joseph Mitchell mit harten Fakten, aber mitfühlend, fast poetisch erzählt und verdichtet sich zu einem Lebensbild, das tragisch und eindrucksvoll gleichzeitig ist.

Inhalt:

Der junge Joseph Ferdinand Gould, Mitglied einer der ältesten US-amerikanischen Familien, Absolvent der Nobel-Universität Harvard, entscheidet sich eines Tages aus heiterem Himmel auszusteigen bzw. die Geschichte der Menschheit neu, d. h. als Destillat des Alltags zu schreiben. Durch alle gesellschaftlichen Schichten soll die Recherche gehen, nichts ist unwichtig, alles wird registriert und ausgewertet.

Eine gewaltige Aufgabe, die für nichts anderes Platz lässt – ganz sicher nicht für ein ‚normales‘ Leben. So ist Joe Gould (1889-1957) zum Bohemien und Schnorrer geworden, der New York jahrein, jahraus zerlumpt, ausgehungert, verlaust und obdachlos durchstreift und immer auf der Suche nach dem Stoff für seine „Erzählte Geschichte“ ist, die er in unzähligen Heften niederschreibt und an allerlei unmöglichen Orten versteckt.

Deutlich länger als die Bibel sei sie schon geworden aber noch lange von ihrer Vollendung entfernt, gibt Gould stolz denen zu hören, die neugierig nach seinem Werk fragen, das schon bald Legendenstatus besitzt. Gould zitiert daraus, kurze Passagen werden sogar von Zeitschriften gedruckt. Journalisten, Dichter, Historiker: Die intellektuelle Welt von New York wundert sich über Joe Gould, aber sie achtet ihn widerwillig. lädt ihn zu ihren Partys ein, gibt ihm Geld für Essen, Schnaps und Zigaretten, denn er könnte DAS unentdeckte Genie des 20. Jahrhunderts sein, und man möchte behaupten können, dies anders als der dumme Pöbel schon immer gewusst zu haben.

Die Wahrheit sieht anders aus, doch sie kommt erst ans Licht, als sie nicht mehr auf Gould, sondern nur noch jene zurückfallen kann, die sich selbst wichtiger als die Kunst nehmen …

Kunst als Statuselement

1942 macht sich der Journalist Joseph Mitchell daran, ein Porträt des seltsamen Amateur-Forschers zu verfassen. Die dabei entstandene Reportage mit dem Titel „Professor Möwe“ bildet den ersten Teil des hier besprochenen Buches. Mitchell zeichnet das Bild eines Besessenen, der bedingungslos in dem sich selbst gestellten Auftrag aufgeht. Der Text spiegelt die Faszination wider, die Gould auf sein junges Gegenüber ausstrahlt.

Freilich unterschlug Mitchell eine Wahrheit, die er schon damals dunkel zu ahnen begann. „Joe Goulds Geheimnis“, der zweite, ungleich längere Teil des Buches, erzählt Jahre nach dem Tode Goulds die vollständige Geschichte. Sie soll hier nicht verraten werden, obwohl die Pointe sicherlich keine absolute Überraschung darstellt, aber sie kann es mit jedem Psycho-Thriller leicht aufnehmen!

Dieser zweite Text entstand gute zehn Jahre nach Goulds Tod, und er deckt endlich dessen Geheimnis auf. Eine Enthüllung, die Gould mindestens ebenso entlarvt wie die Gesellschaft, an deren Peripherie er sich bewegte. Gould war letztlich ein armer Teufel, der sich selbst den größten Schaden zufügte, während das in sich selbst ruhende, sich selbst feiernde (oder streitende) kulturelle Establishment der Stadt eine tüchtige Blamage einstecken musste: Es gibt vor zu wissen, was Kunst ist, und will deren Regeln bestimmen. Tatsächlich ist die Kunst sehr oft nicht mehr annähernd so wichtig ist wie der gesellschaftliche Status, den sie – zumal gepaart mit Erfolg und Geld – verleihen kann. Der Fall Joe Gould belegt die Hohlheit des Systems. Joseph Mitchell hat ihn als exemplarisch begriffen.

Erkenntnis und Ethos

Das Leben des Joe Gould bietet unabhängig davon Stoff für Romane epischen Umfangs. Künstlerischer Hochstapler oder hochstaplerischer Künstler, armes Schwein oder stolzer Bohemian: Das zu entscheiden überlässt Mitchell letztlich seinen Lesern. Er beschränkt sich auf die nunmehr vollständige Wahrheit.

Joseph Mitchell verkörpert damit den Journalismus einer untergegangenen Epoche: Er hätte Goulds Geheimnis schon in den 1940er Jahren lüften und damit einen tollen Coup landen können. Aber er hielt sich zurück, schonte den Mann, ließ ihm seine Würde und legte erst Jahre nach dessen Tod die Wahrheit offen. Da war Joe Gould schon halb vergessen, Mitchell konnte ihm nicht mehr schaden.

Natürlich zuckte es Mitchell, den Vollblut-Journalisten, durchaus in den Fingern. Der Kampf mit seinem Gewissen, zu dem auch die Frage gehörte, ob er nicht generell verpflichtet war, die Wahrheit zu berichten, sobald er sie in Erfahrung gebracht hatte, fließt mit ein in „Joe Goulds Geheimnis“, das somit auch zu einem wichtigen Teil der Mitchell-Biografie wurde: Über Geld und Ruhm stellte Mitchell seine persönliche Integrität Ein Schaden entstand dadurch nicht. Die historische Realität hielt Mitchell in diesem Buch fest. Sie mag viele Jahre später nicht mehr für Aufregung sorgen oder niemanden interessieren, doch Joseph Mitchell hat dafür gesorgt, dass die Fakten gesichert werden – eine altmodische aber zeitlosen Werten verpflichtende Praxis, die in einer zynischen Gegenwart für Verwunderung, Spott oder Anerkennung sorgen dürfte und in jedem Fall eine anregende Lektüre garantiert.

Autor

Joseph Mitchell (1908-1996) gehörte fast sechs Jahrzehnte zu den Mitarbeitern des berühmten Magazins „New Yorker“. Er spezialisierte sich auf knappe, klarsprachige Essays über die Outcasts der Gesellschaft bzw. ihre farbenfrohen bis zwielichtigen Elemente.

Man könnte sagen, dass sich Joe Gould aus dem Grab für seine Bloßstellung gerächt hat: Nachdem Mitchell „Joe Gould‘s Secret“ 1964 veröffentlicht hatte, stellte sich eine legendäre, in der Journalisten-Szene als Gruselgeschichte oft zitierte Schreibblockade ein. So kam Mitchell bis zu seinem Tod regelmäßig in sein Büro, wo er alles Mögliche tat – außer zu schreiben. Mitchell hat in den letzten dreißig Jahren seines Lebens keine Artikel mehr veröffentlicht.

Die Verfilmung von „Joe Goulds Geheimnis“ hat Mitchell nicht mehr erlebt. Der Schauspieler Stanley Tucci (auch Regisseur) verkörperte ihn 2000 in dem gleichnamigen Film, während Ian Holm (den Jüngeren vermutlich in der Rolle des Hobbits Bilbo Beutlin aus den „Herr-der-Ringe”-Filmen ein Begriff) den Joe Gould spielte.

Taschenbuch: 189 Seiten
Originaltitel: Joe Gould’s Secret (New York : Random House 1996)
Übersetzung: Eike Schönfeld
www.randomhouse.de/goldmann

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