Seit der schwedische Autor Henning Mankell seinen Erfolgskommissar Kurt Wallander außer Dienst gestellt hat, ist so mancher Freund des so genannten „Schwedenkrimis“ auf der Suche nach einem Ersatz(anti)helden. Wallander hinterlässt nun einmal eine ziemlich große Lücke. Eine recht hoffnungsvolle Vertreterin des gleichen Genres ist die Schwedin Mari Jungstedt. Doch auch ihr ermittelnder Kommissar Anders Knutas ist kein Wallander-Ersatz. Das ist trotzdem kein Grund zur völligen Resignation, denn Knutas, den sie in ihrem mittlerweile zweiten Krimi „Näher als du denkst“ an die Spitze ihres Ermittlerteams stellt, macht keine allzu schlechte Figur.
Handlungsort von Jungstedts Krimiromanen ist das beschauliche Gotland vor der Küste Schwedens. Es ist November, der trostloseste und düsterste Monat des Jahres, als die Leiche von Henry Dahlström gefunden wird. Dahlström war ein stadtbekannter Säufer, der sich früher einmal als erfolgreicher Fotograf verdingt hatte, bis er dem Alkohol verfiel. Nun wird er mit eingeschlagenem Schädel in seiner Dunkelkammer gefunden. Ein Streit unter Alkoholikern? Oder steckt mehr hinter dem Mord?
Wenig später verschwindet die 14-jährige Fanny spurlos. Nicht nur Kommissar Anders Knutas muss sich mit seinem Team nun die Frage nach einem Zusammenhang zwischen beiden Fällen stellen. Auch der Journalist Johan Berg, der als Lokalreporter für das Fernsehen nach Gotland reist, stellt sich diese Frage. Berg kann mit seiner Arbeit ein wenig zum Voranschreiten der Ermittlungen beitragen, doch in welche Richtung sich die Ermittlungen entwickeln, ahnt auch Anders Knutas erst zu spät. Und plötzlich wird die Situation für den Kommissar brenzlig …
Das vollmundige Lob der |Hörzu| im Klappentext stimmt hoffnungsvoll. „Ein echter Schwedenkrimi: spannend, hart und doch einfühlsam“, heißt es dort. Das kann man größtenteils durchaus so stehen lassen, auch wenn diese Art der Lobpreisung bei näherer Betrachtung ein wenig dick aufgetragen erscheint. Dennoch, es ist ein solider Krimi, den Mari Jungstedt abgeliefert hat. Spannung ist da garantiert.
Obwohl mir die Kenntnis ihres ersten Romans „Den du nicht siehst“ fehlt, ist es offensichtlich, dass Jungstedt ihre beiden Romane als sich fortsetzende Reihe aufbaut. Immer wieder nimmt sie Bezug auf Ereignisse, die vor den im Buch geschilderten liegen. Der Fall des ersten Romans findet hier und da immer mal wieder Erwähnung und auch die Figuren weisen eindeutig eine sich fortentwickelnde Geschichte auf. Da kann es durchaus ratsam sein, vor der Lektüre von „Näher als du denkst“ zum Erstlingswerk zu greifen, zumindest, wenn man sich die Spannung erhalten will. All denjenigen, die Mankells Wallander-Romane in der falschen Reihenfolge gelesen haben, dürfte diese Problematik bekannt vorkommen.
Der Romanaufbau hat es durchaus in sich. Jungstedt entwickelt viele Figuren und wechselt immer wieder die Perspektive. Das ergibt eine teils recht sprunghafte Erzählweise, bei der man zu Anfang erst einmal im Geiste die Figuren sortieren muss, zeigt aber auch sehr deutlich, dass Jungstedt ihre Charaktere sehr wichtig nimmt. Sie legt ein deutliches Gewicht auf zwischenmenschliche Dinge. Der eigentliche Fall wird dadurch immer mal wieder an den Rand gedrängt.
Besonders ausführlich wird der Journalist Johan Berg beleuchtet. Berg wird zwischendurch mehr oder weniger zur heimlichen Hauptfigur. Jungstedt legt zum Teil ein deutliches Gewicht auf die Arbeit der Presse in dem Fall, was kein Wunder ist, denn schließlich kann sie als Journalistin und Nachrichtensprecherin für das schwedische Fernsehen hier Erfahrungen aus erster Hand einfließen lassen. An der Authentizität des Geschilderten gibt es also gerade mit Blick auf die Pressearbeit keinen Zweifel, so dass der Roman eine durchweg glaubwürdige Note erhält.
Besonders intensiv betrachtet Jungstedt das Verhältnis zwischen Johan Berg und der Gotländerin Emma. Zwischen den beiden besteht eine schon im Vorgängerroman entstandene, reichlich verzwickte Liebesgeschichte, der sich Jungstedt sehr ausführlich widmet. Im Vergleich dazu kommt die eigentliche Hauptfigur Anders Knutas schon fast ein bisschen zu kurz. Knutas ist ein Mann mittleren Alters von ausgeglichenem Gemüt, pfeiferauchend und mit Familiensinn und somit ein ziemlicher Kontrast zum schwedischen Vorzeigekommissar Wallander.
Am Ende ist es dann allerdings der Spannungsaufbau, der unter der Sprunghaftigkeit der Erzählperspektiven ein wenig leidet. Man möchte als Leser am liebsten nur noch den weiteren Verlauf des Falls verfolgen, wird von Jungstedts Perspektivenwechseln aber immer wieder davon weggezerrt. Gerade in den Momenten, wo die Spannung drauf und dran ist, ihren Höhepunkt zu erreichen, sorgen die Perspektivenwechsel immer wieder für zwischenzeitliche radikale Spannungsabfälle.
Dabei baut Jungstedt den Roman ansonsten durchaus atmosphärisch auf. Sie erzeugt Stimmungen, macht die Gefühle der Protagonisten greifbar, baut ihre Figuren glaubwürdig auf und lässt vor dem Auge des Betrachters das kalte, ungemütliche Gotland im November aufleben. Die Atmosphäre ist dicht und mit steigender Seitenzahl wird auch die Spannung immer greifbarer. Jungstedts Erzählweise wirkt routiniert und gefällig, so dass sich das Buch recht flott und flüssig durchlesen lässt, sticht aus der Masse der Kriminalromane aber auch nicht sonderlich hervor.
Wenn man am Ende des Buches dann zurückblickt, fällt einem auf, dass der Fall an sich gar nicht so komplex ausfällt. Die eigentliche Kriminalgeschichte nimmt halt nur einen Teil des Buches ein, und so kann es logischerweise auch keine ganz so ausführlichen und komplexen Schilderungen der Ermittlungen geben. Die Spannung wird ganz gemächlich aufgebaut, was aber durchaus seinen Reiz hat. Auch die Auflösung des Falls ergibt sich fast aus dem Nichts, ohne von langer Hand herbeigeführt zu werden, und mag für den routinierten Krimileser nicht sonderlich überraschend sein.
Ob das nun positiv ist oder nicht, lässt sich schwer definieren und hängt gänzlich vom Blickwinkel des Lesers ab. Während dem einen der eigentliche Kriminalfall zu kurz kommen wird, wird der andere Jungstedts einfühlsame Erzählweise loben, ihren Blick für die Figuren und die Art, wie sie diese auch in ihrer weiteren Entwicklung verfolgt. Damit haben sicherlich beide Gruppen Recht. Betrachtet man „Näher als du denkst“ als Teil einer Krimireihe, so lässt sich dieser Balanceakt zwischen Figurenbetrachtung und Kriminalgeschichte durchaus positiv bewerten, denn so bekommen die Figuren eben mit jedem weiteren Roman mehr Tiefe. Das ist eben auch dann positiv zu sehen, wenn man bedenkt, dass charakterliche Entwicklungen in vielen Krimis oft zu kurz kommen. Und so gesehen, ist „Näher als du denkst“ dann sicherlich auch ein Roman, der nicht nur speziell Krimileser anspricht, sondern auch eine Leserschaft, die sonst eher auf allgemeine Belletristik festgelegt ist.
Kurzum: Mari Jungstedt hat mit „Näher als du denkst“ ein durchaus interessantes Stück Kriminalliteratur abgeliefert. Sie nimmt sich viel Zeit, um ihre Figuren zu entwickeln, Spannung aufzubauen und eine dichte Atmosphäre zu schaffen. Sie wechselt stetig die Perspektive und gibt der Geschichte dadurch mehr Tiefe, während sie mit fortschreitender Seitenzahl dadurch allerdings auch den Spannungsbogen immer wieder unterbricht. Das trübt am Ende ein wenig die Freude, dennoch bleibt „Näher als du denkst“ als durchaus solide Krimikost im Gedächtnis.