Pnina Moed Kass – Echtzeit

Story

Thomas Wanniger aus Berlin plant einen längeren Aufenthalt in Israel. Er hat eine Aufenthaltsgenehmigung für den Kibbuz Broschim bekommen, wo er als Gärtner unte der Aufsicht des Holocaust-Überlebenden Baroch Ben Tov arbeiten soll. Thomas‘ Reise läuft nach einigen Schwierigkeiten am Flughafen problemfrei. Er trifft pünktlich am Flughafen Tel Aviv auf die Ukrainerin Vera Brodsky, die wegen eines schweren Schicksalsschlags nach Israel übergesiedelt ist und im Gegensatz zum Wahrheit suchenden Wanninger im jüdischen Viertel Frieden finden möchte.

Diese beiden unterschiedlichen jungen Menschen reisen gemeinsam mit dem Bus zum Kibbuz und ahnen noch nicht, was geschehen wird, als der 16-jährige Sameh Laham aus Palästina ihr Gefährt betritt. Doch lange können sich die beiden nicht Gedanken über den Fahrgast machen; binnen Sekunden verwandelt sich der Bus nämlich in einen Haufen Schutt und Asche. Statt die Harmonie im Kibbuz zu genießen, werden Thomas und Vera Opfer eines Selbstmordattentäters. Im Hospital haben sie schließlich genügend Zeit, ihre Vergangenheit und die Gründe ihres Aufenthalts zu reflektieren. Doch was bedeuten nach einer solchen Katastrophe noch Geheimnisse, Träume, Hoffnungen und Pläne?

Meine Meinung

In „Echtzeit“ wird das moderne Leben in einer israelischen Metropole auf erschreckende und zugleich bewegende Art porträtiert, dies jedoch auf eine Art und Weise, die absolut unvergleichlich ist. Die Amerikanerin Pnina Moed Kass, die seit 40 Jahren in der israelischen Wahlheimat lebt, berichtet anhand der Lebensgeschichten verschiedener junger, teils noch jugendlicher Menschen über das von Katastrophen und tragischen Vorfällen zerstörte Weltbild einiger gläubiger Leute, deren Ansichten allerdings in vielerlei Hinsicht divergieren.

Begonnen mit dem Abflug des verträumten Thomas Wanninger, der lediglich auf der Suche nach der Wahrheit über das Verschwinden seines Großvaters während des Krieges ist und gar nicht weiß, inwiefern er auf seiner Reise Erfolg haben wird, nimmt eine dramatische Geschichte ihren Lauf und endet mit gleich mehreren Schicksalsschlägen.

Da ist zum einen Vera Brodsky, eigentlich jüdischer Herkunft, allerdings in verleugnetem Glauben aufgewachsen und bereits mit 19 Jahren von schwersten Depressionen verfolgt. Ihr ehemaliger Geliebter Sergej wählte kurz vor der geplanten gemeinsamen Reise nach Israel den Freitod und hinterließ einen Scherbenhaufen voller Emotionen, den Very bis heute nicht hat wegfegen können. Immer noch wird sie von Erinnerungen gejagt, Erinnerungen an die glücklichste, unbeschwerteste Zeit ihres Lebens. Heute fällt es ihr indes schwer, sich ihr Glück einzugestehen. Auch wenn sie in einem Umfeld voller Terror und religiösem Fanatismus lebt, so hat sie wieder den Mut gefunden, eine Beziehung einzugehen, auch wenn ihr düsteres Geheimnis sie niemals loslassen wird. Während ihr neuer Geliebter Dan Oron die Restzeit seines Wehrdienstes ableistet, findet sie immer wieder viel Zeit zum Nachdenken, und stets erscheint ihr in diesen Gedanken Sergej und die letzten gemeinsamen Momente. Sie allein hat die Schuld für seinen Tod auf sich geladen und kann sich von dieser Last auch nicht freisprechen, selbst wenn sie mittlerweile neues Glück gefunden hat. Dan ahnt nichts von ihrem früheren Schicksal und weiß auch nicht, ob er je die Hintergründe von Veras phasenweise bedrückter Stimmung in Erfahrung bringen wird. Denn nach dem Anschlag ist alles anders als zuvor.

Thomas Wanniger ist hingegen von einer gänzlich anderen Natur. Wohlbehütet im Hause seiner Mutter aufgewachsen, gerät er mit 16 Jahren zum ersten Mal in einen Gewissenskonflikt, von dem er selber nur zweitrangig betroffen ist. Er entdeckt ein Foto aus der Nazizeit und ist erschrocken von den darauf erblickten Grausamkeiten. Kurzerhand entschließt er sich, in Israel vorstellig zu werden und verspätet Buße für das Vergehen der menschenverachtenden deutschen Bevölkerung zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs abzuleisten. Ohne jegliche Ahnung, was ihn im Kibbuz erwarten wird, steigt er in die Maschine. Alles läuft wie gewünscht, bis der Selbstmordattentäter den Linienbus betritt.

Baruch Ben Tov hat die Gräuel des Krieges am eigenen Leib erfahren; ständig auf der Flucht, hat er zum Selbstschutz eine schwere Schuld auf sich geladen und daraufhin seine Familie verloren. Auch sechzig Jahre später ist seine Tat immer noch in seinem Kopf verankert. Erst als Thomas ihm begegnet, und erst als er erfährt, aus welchem Anlass er das Land aufgesucht bzw. welche Rolle der Großvater des jungen Knaben damals übernommen hat, erlaubt er sich, einen Teil seiner Last abzuwerfen, einfach nur, um sich auch klarzumachen, dass er bei weitem nicht der Einzige ist, der aus blindem Überlebenswillen zu allem fähig ist oder war.

Bei Sameh Laham sieht es hingegen ein wenig anders aus. Er sieht sich als Märtyrer seines Volkes und erhofft, durch das Bombenattentat genügend Geld für seine Familie zu erwirtschaften, damit diese ein würdigeres Leben führen kann. Doch Sameh überlebt den Anschlag und liegt plötzlich inmitten seiner Opfer. Als ihm klar wird, dass seine Tat auf keinen greifbaren Argumenten fußt und er selber die Konsequenzen nicht tragen will und kann, fühlt er sich zerstört und überrumpelt. Doch es gibt keinen Ausweg mehr; obwohl er die Bombe nicht gezündet hat, hat er blind in Kauf genommen, dass unschuldige Menschen gestorben sind. Und jetzt, wo er das Ganze nicht mehr ungeschehen machen kann, kann ihn nur noch der Tod erlösen – doch selbst dieser bleibt ihm verwehrt.

Es ist schon unglaublich, wie die Autorin die verschiedenen Schicksale miteinander verknüpft, eine unheimlich spannende Geschichte erzählt und dabei auch noch ein so vielseitiges Gesellschaftsporträt erstellt hat. In „Echtzeit“ kommt es zur Interaktion völlig unterschiedlicher und doch so ähnlicher Menschentypen, die in dieser Form in unserer Gesellschaft kaum auffallen würden. Es sind die so genannten ‚Normalos‘, Leute, die bis zu einem gewissen Punkt nicht viel zu erzählen hatten, im entscheidenden Moment jedoch zur Passivität gezwungen waren und daher nur noch die Flucht sahen. Ausgerechnet nach Israel, einem von Terroranschlägen und Freiheitskämpfen gebeutelten Land, in dem der Friede so unwahrscheinlich ist wie die Harmonie mit der eigenen Vergangenheit.

Erstaunlich ist primär, dass sich die hier aufeinandertreffenden Menschen so nah und im Grunde genommen doch so fern sind. Jeder präsentiert ein ganz anderes Erscheinungs- und Weltbild, und jeder Einzelne entspringt einer gänzlich anderen Abstammung, der wiederum komplett andere Moralvorstellungen zugrunde liegen. Vera lebte einst in der von Armut durchsetzten Ukraine, Baruch Ben Tov ist ein lange verschmähter Jude, Sameh Kaham lebt für das Volk von Palästina und verkörpert, ohne es wahrscheinlich wirklich zu wollen, die Aggression seiner Landsleute. Lidia Adler hingegen ist aus Südamerika angereist, wo ihre Familie unter der politischen Verfolgung einer herrschaftlichen Diktatur litt. Und Thomas Wanniger, der eigentliche Vertreter des fortschrittlichen westlichen Lebens, also derjenige, der vom Ursprung her kaum Gründe haben sollte, sich dieser Gefahr auszusetzen, ausgerechnet er wird schließlich zum Opfer und erfährt so die zunächst vermisste Verbindung zu den übrigen Mitwirkenden.

Ich könnte stundenlang von diesem mitreißenden und dennoch schlichten Hörbuch erzählen, ohne dass dabei die Begeisterung über die wunderschöne Darstellung der einzelnen Personen abreißen würde. Man könnte ihnen aber auch ewig lange zuhören; Vera in ihrer Depression, Baruch mit seinen weisen Schilderungen, Thomas in seinem naiven Leichtsinn oder Lidia, deren unermüdlicher Lebensmut einen wohligen Kontrast zum Denken der übrigen Protagonisten zeichnet.

Das Konzept der Audioversion geht ebenfalls völlig auf; unterschiedliche Sprecher verkörpern unterschiedliche Schicksale und Emotionen, und jede(r) von ihnen verwächst im Laufe der Geschichte mit ’seiner‘ bzw ‚ihrer‘ Person. Ich möchte es daher auch zum Ende hin kurz halten und eine dringende Empfehlung für dieses außergewöhnliche Stück aussprechen. Was hier innerhalb von knapp vier Stunden geschieht, ist schlichtweg überwältigend.

3 CDs
Dauer: ca. 231 Min.
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