Kerstin Ehmer – Der weiße Affe

Der Kommissar und der Kannibale

Ein jüdischer Bankier wird erschlagen im Hausflur seiner Geliebten aufgefunden. Kommissar Ariel Spiro ist gerade aus Wittenberge nach Berlin gezogen und übernimmt direkt nach der Ankunft seinen ersten Fall. Zunächst deuten die Ermittlungen auf ein politisches Motiv hin. Doch auch die wohlhabende und exzentrische Familie des Toten gibt Spiro Rätsel auf.

Schon bald gerät der junge Kommissar in den Sog der Metropole. Als er sich von der faszinierenden Tochter des Toten magisch angezogen fühlt, muss Spiro aufpassen, dass ihm der Fall nicht entgleitet.“ (gekürzte Verlagsinfo)

Die Autorin

Kerstin Ehmer, arbeitete viele Jahre als Mode- und Porträtfotografin. Seit 16 Jahren betreibt sie mit ihrem Mann die legendäre Victoria Bar in Berlin. Sie verfasste das Buch „Die Schule der Trunkenheit“, das sich zu einem Longseller entwickelte und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. „Der weiße Affe“ ist ihr erster Kriminalroman. (Verlagsinfo)

Handlung

Gleich nach seiner Ankunft wird Kommissar auf Probe Ariel Spiro von seinem Vorgesetzten Kriminaloberkommissar Heinrich Schwenkow auf einen neuen Fall angesetzt: Leiche in der Wrangelstraße. Spiro, aus der Reihe tanzender Spross einer Kaufmannsdynastie in Wittenberge an der Elbe, muss sich bewähren. Zahlreiche Rivalen sind auf seine Stelle scharf. Als Aufpasser stellt ihm Schwenkow den Kriegsveteranen Eduard Bohlke zur Seite. Zu Recht, wie sich bald zeigt.

Die Wrangelstraße liegt nicht gerade in der nobelsten Gegend, und Spiro fragt sich, was ein vornehm aussehender Bankier wie der Tote hier in Kreuzberg zu suchen hatte. Die Erklärung erscheint in Gestalt von Fräulein Hilde Müller, ihres Zeichens nicht nur Tänzerin im „Metropol“ und Näherin, sondern auch Geliebte des Verblichenen. Dass dieser spendabel war, kann Spiro leicht am reichhaltigen Interieur ablesen. Ein lebensgroßer weißer Affe aus Porzellan fällt ihm auf, ein teures Stück.

Frollein Hilde, die vollbusige Walküre, hat noch einen weiteren „Gönner“. Do wo ist dieser Mrozek zu finden, will Spiro wissen. Bei Frank Pattberg wohl, haucht sie in ihr Batist-Taschentuch schniefend. Den Pattberg müssen sie selbst suchen, da hilft das ganze hypermoderne Instrumentarium ihres „Mordautos“ nichts. Sie finden ihn vor einem Bahnhof, wo Pattberg 13-jährige Mädchen abfängt, um sie zu zweifelhaften Zwecken zu verführen. Während Spiro in die Wrangelstraße zurückkehrt, nimmt Bohlke Pattberg in die Mangel, bis dieser endlich ausspuckt, wo man Mrozek finden könnte. Die Berliner Cops sind nicht zimperlich, und ihr Ansehen ist entsprechend unterirdisch.

Erste Adresse

Spiro interessiert sich zunehmend auch für die Familie des erschlagenen Bankiers Fromm. Sie sind Juden und leben an der ersten Adresse: am Magdeburger Platz. Und da kommt auch schon Nike, die Tochter des Hauses, hoch zu Ross, eine Herrenreiterin. Spiro ist hin und weg. Ihr Bruder Ambros ist ein junger Zyniker, der damit seinen Schmerz über den Verlust des Vaters kaschiert.

Dieser Verlust, so erfährt Spiro von Nike nach einem Besuch in der Wrangelstraße und einem Doppelten, geschah bereits 1918, also vor sieben Jahren, als ihr Vater aus dem Krieg zurückkehrte. Nach vier Abwesenheit akzeptierte er nicht mehr, was aus seiner Familie geworden war. Nike hält Spiro wegen seines Vor- und Zunamens ebenfalls für einen Juden, und er korrigiert den Irrtum nicht. Anders als er sieht Nike keinen politischen Hintergrund für den Mord. In der Schlagwunde auf Fromms Kopf fanden sich nämlich Farbreste: schwarz, rot, weiß – die Nationalfarben des Kaiserreichs…

Der Junge

Die Biografie des Jungen ist nicht gerade typisch. Er wächst bei seiner Mutter, einer Theaterkostüme entwerfenden Prostituierten, auf und liebt ihre eleganten Outfits, die Accessoires, die Schminke, einfach alles: Sie ist die Graue Königin. Aber das Leben fern von der Schule, mit Mami als Lehrerin, tut seiner Gesundheit nicht gut: Er wird ein feiger Schwächling, fürchtet sie insgeheim. Auf einen Tipp hin schickt sie ihn in eine Schule auf dem Lande, irgendwo in Thüringen, wo Leibesertüchtigung groß geschrieben wird. Als der Lehrer seine Kleider sieht, moniert er, dass der Junge keine kurze Hose, ja, nicht mal eine Lederhose besitzt.

„Und was ist mit Sport?“ fragt er die Mutter. „Er treibt keinen Sport.“ Es dauert nicht lange, bis der Junge schon auf dem ersten Dauerlauf aus dem letzten Loch pfeift. Nur der starke Günther, ein sogenannter „Prolet“ aus Berlin, steht ihm zur Seite, als die Angriffe der neidischen anderen Schüler beginnen. Und Günther ist nicht zimperlich in der Wahl seiner Mittel. Seine Muskelpakete werden vom Jungen aus der Großstadt ehrfürchtig angestarrt, denn sie bewegen sich wilde Tiere, wenn Günther schaufelt und hackt.

Dann folgen germanische Initiationsrituale. Das erste dient der Aufnahme in den innersten Zirkel: nackt und bei Nacht. Der Junge beginnt, sich wie ein höheres Wesen zu fühlen. Doch der Absturz am nächsten Morgen ist umso tiefer: Günther wurde der Schule verwiesen, und die Graue Königin fordert ihren Jungen zurück….

Mein Eindruck

In zwei parallel geführten Handlungssträngen verfolgt der Leser den Werdegang und die Erlebnisse zweier junger Menschen. Er kann sie miteinander vergleichen und entdeckt die Innenseite der Oberfläche der städtischen Erscheinungen in Berlin. Der weiße Affe aus Porzellan ist das Dingsymbol für den Firnis der Zivilisation über dem Wilden. Das äußere Erscheinungsbild täuscht.

Ariel Spiro ist angeblich kein Jude, als er bei der Kripo anfängt. Seine Mutter hat ihm weisgemacht, er sei nach dem Luftgeist in Shakespeares Drama „Der Sturm“ benannt worden, aber alle um ihn herum ahnen oder wissen, dass er ihnen einen Bären aufbinden will. Ein Jude unter deutschen Ermittlern? Na, wenn das nicht zwielichtig ist. Er muss sich bewähren, erst recht, als er sich auf der Mördersuche in die abwegigsten und zweifelhaftesten Milieus begibt: Rotlichtbars, Schwulenhäuser, Nachtklubs und Kaschemmen, ja, sogar ins Institut für Sexualmedizin eines gewissen Dr. Magnus Hirschfeld.

Genau dort hat er übrigens seine Erleuchtung. Der Dottore und seine Assistentin Nike Fromm klären ihn über die Initiationsriten der Südseevölker auf, sprich: bei den Kannibalen der (mittlerweile deutschen) Inseln des Palau-Archipels und Neu-Guineas. Als er entsprechende völkerkundliche Reiseberichte im Käfig des Jungen entdeckt, den die ermordete Kostümbildnerin eingesperrt hatte, zählt er zwei und zwei zusammen: Vielleicht sieht sich der Junge auf einer Odyssee, die zu seiner Mannwerdung führen soll.

Spiro wird bei der Mördersuche folglich selbst zum Odysseus, und die Stationen, die er gemäß homerischem Vorbild durchlaufen muss, sind Prüfungen seiner Werte und seines Herzens. Wird die angebetete Nike, die jüdische Siegesgöttin, ihn erhören oder sich von ihm abwenden? Werden all die Homosexuellen und Kokainsüchtigen seinen guten Ruf – welchen Ruf? – beflecken, oder reichen Hinweise und Verdachtsmomente aus, um Schwenkows Misstrauen gegen den Neuling zu beschwichtigen?

Seiner Karriere hilft es nicht gerade, dass er sich immer weiter hinauswagen muss, ins Scheunenviertel, das Judenghetto, dann zu den Schrebergärten am (derzeitigen) Stadtrand und schließlich auf eine schier unzugängliche Insel in der Gegend von Tegel, nahe den Borsig-Werken. Dort draußen, quasi am Rand der Welt, vom Ku’damm aus gesehen, wird er endlich fündig.

Der Junge

Die parallele Odyssee des Jungen hingegen führt ihn ganz nach innen, ins Innerste, dorthin, wo die Realität aufhört zu existieren und nur noch der Wahn den Geist erfüllt. Auf dieser Reise jedoch ist der Junge für seine Umgebung gefährlich. Er glaubt, sich auf einer Initiationsreise zu befinden, auf der die Kannibalen ihn in ihre Reihen aufnehmen wollen. Er will Krieger werden und zu diesem Zweck Prüfungen bestehen. Hindernisse wie eine bigotte, amoralische Mutter stehen da nur im Weg. Dass er ihr den Kopf abschlägt und ihn aufs Dach bringt, damit dieser dort trocknen kann und den Göttern nahe ist – es ist nur eine andere Art von Religion.

Eine ähnlich wahnartige Religion trägt ein kleiner Mann einem erlesenen Zirkel von Offizieren und Bürgern vor, die den Staatsstreich vorbereiten. Ewig-Gestrige, die nun mit dem Rassenwahn von der Überlegenheit der arischen Rasse geimpft werden. Antisemitismus – hier wird er verbreitet, erst leise hinter verschlossenen Türen, später auf der Straße und in den Salons. Der einzige unentdeckt gebliebene jüdische Mitbürger schleicht sich nach dem Vortrag des Irren von dannen.

Der Fall

Ein wenig auf der Strecke bleibt da die Ermittlung. Sicher, Spiro muss alle Spuren verfolgen, auch die ins jüdische Bankhaus Fromm und in die Familie Fromm, wo nicht alles zum Besten steht. Aber diese allseitig vordringende Ermittlungsmethode kennen wir seit Hammett und Chandler, Simenon und McDermid. Ein Panorama der jeweiligen Gesellschaft wird jedoch nicht nur synchronisch ausgebreitet, sondern auch diachronisch, im Rückblick.

Diachronisch

So ist es etwa interessant zu erfahren, wie das Scheunenviertel dort entstand, wo die Soldaten des Alten Fritz das Heu für ihre Pferde lagerten. Aus den Scheunen wurden im Zuge der Landflucht immer dichter gepackte „Wohnungen“, die zu steigenden Wucherpreisen vermietet wurden. Die Landflucht aus dem industrialisierten Schlesien, aus den polnischen Ghettos – sie blähen die Großstadt immer weiter auf, bis diese ihre aufgeklärt-bürgerliche Moral an gewissen Stellen aufgibt und primitiv wird, etwa bei der Jagd von Pädophilen auf 13-jährige Landpomeranzen, die gerade mit dem Zug angekommen sind.

Unter der Glasur

Womit sich der Kreis zu der Sehnsucht des Jungen nach Primitivität schließt. Abkehr von der verkommenen Zivilisation, Mannestum, Gemeinschaft, das „Völkische“ – all diese Unterströmungen und Impulse wussten die Nationalsozialisten, besonders Himmler, bis zum Maximum auszunutzen und zu kanalisieren. Der Junge – er heißt übrigens Alexander – ist als „Wilder“, als „Bestie“ nur der mit Gruseln betrachtete Vorläufer einer in der braunen Zeit sich ausbreitenden Spezies.

Die Sprache

Die Sprache, die die Autorin gewählt hat, reicht ans Expressionistische heran, was ja gut zum Jahr 1925 passt, nicht weit weg von der Weltuntergangslyrik der Vor- und Nachkriegszeit. Zwischen dem Rausch der Vergnügungsviertel und dem Rausch des Eingeborenenrituals entsteht so eine Parallele, wenn nicht sogar Analogie. (Die Kapitel des Jungen sind in Kursivschrift gesetzt und so leicht vom Haupttext unterscheidbar.) Die an Chandler & Co. geschulte, nahezu stenografische Sprache zeigt die latente Primitivität und unterschwellige Brutalität der Weimarer Gesellschaft an, konzentriert aus vielen Völkerschaften, destilliert in den Berliner Vierteln.

Textschwächen

Neben einer gewöhnungsbedürftigen Kommasetzung, wie sie vor Jahren in der Neuen Rechtschreibung gelehrt wurde, fand ich ein paar Fehler und Zweifelsfälle vor.

S. 7: „mindesten[s] 50 Reisende“: Das S fehlt.

S. 79: „zwischen den Schul[d]gebäuden“: Das D ist überflüssig.

S. 109: „Eine stille Straße im bayerischen Viertel…“: Harter Schnitt zu neuer Szene. Eine Leerzeile fehlt.

S. 229: „Neben Ihnen verschlingt ein… Herr…“ Das I muss klein geschrieben werden.

S. 240: „das krachen von Waggons auf Polder“: Gemeint sind wohl Poller. Polder tauchen in der Landgewinnung durch Drainage auf.

S. 253: „Wohung“ statt „Wohnung“.

S. 276: „Audi-Limousine“. Der Markenname ist (1909-1928) korrekt!

Unterm Strich

Obwohl es der Handlung an Action fehlt, so weiß die Autorin doch durch die beiden Odysseen und ihre verdichtete Sprache zu faszinieren. Während die Handlung um Spiro mäßig spannend ist und die Erotik von Spiros Liebesbeziehung zu Nike in einer Freiluft-Sexszene gipfelt, so fand ich doch Alexanders psychischen Werdegang wesentlich interessanter. Dass er Interesse an Jungs entwickelt, die ihn beschützen und anerkennen, interpretiert seine gluckenhafte Mutter, die „Graue Königin“, als verdammenswerte „homosexuelle Neigungen“. Dass sie gleichzeitig selbst als moralisch zweifelhafte Freizeithure tätig ist, hat damit in ihren Augen natürlich nichts zu tun.

Während die Handlung also wendungsreicher und witziger sein könnte und kaum Action aufweist, eignet sich der Roman doch ausgezeichnet als historischer Reiseführer – Berlin erscheint dadurch als gewachsener Organismus. Die entsprechend gemischte Gesellschaft selbst erinnert an das Berlin aus Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“, wo sich alles um Franz Biberkopf dreht. Doch die historische Tiefe, die liefert endlich hier die Autorin.

Ich wünschte, sie würde ihren nächsten „Fall für Spiro“ mit den Tugenden von „Berlin Alexanderplatz“ vereinen, doch wer würde solch einen Mammutroman vom Kaliber eines „Turms“ (Tellkamp) oder „Abendlands“ (Köhlmeier) verlegen? Dann doch lieber einen flotten Krimi wie „Der weiße Affe“ mit einem erwachsener gewordenen Ariel Spiro, der hoffentlich bald mal „richtiger“ Kommissar sein wird.

Taschenbuch: 280 Seiten
ISBN-13: 978-3865325846

www.pendragon.de

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