Schottische Hochland-Hasen geraten ins Visier eines gewaltigen und zudem verrückten Raubvogels, der das Nagervolk terrorisiert und dezimiert, bis ein Junghase entschlossen den Kampf gegen das Ungeheuer aufnimmt … – Tier-Fantasy der ‚erwachsenen‘ Art, d. h. ohne kitschige Verniedlichung der Figuren, die sich (weitgehend) tiergerecht in ihrer eigenen Welt bewegen: spannend trotz des nur scheinbar monotonen Feld-und-Wiesen-Umfelds.
Das geschieht:
In den Bergen der schottischen Highlands lebt das Volk der Schneehasen. Hier, wohin die Menschen sich selten verirren, führen die in Clans lebenden Nager ein geruhsames Dasein, und in dieser Welt wächst Flitzer vom Clan der Geröller auf. Der junge Hase ist wissbegierig, er macht sich Gedanken über die Welt jenseits des Hochlands. Seine geistige Gewandtheit ist von Vorteil, als aus heiterem Himmel eine Katastrophe über die Geröller hereinbricht: Menschen treiben die Hasen zusammen, setzen sie gefangen und verschleppen sie ins Flachland, wo sich Flitzer und einige andere Clans-Mitglieder auf einem Bauernhof wiederfinden.
Hier sollen die Hasen auf einer Treibjagd zum Vergnügen der Menschen gehetzt und getötet werden. Flitzer kann entkommen. Die Kolonie der Mondhäsin nimmt ihn auf. Dabei gerät Flitzer in das Reich Bubbas, des riesigen Harpyie-Adlers. Der „Floger“ ist ebenfalls ein heimatloser Fremder; aus seiner südamerikanischen Heimat hat man ihn nach England gebracht, wo er seiner Gefangenschaft entkommen konnte. Gestrandet in einer ihm fremden Umgebung, hat sich sein Geist verwirrt. Gnadenlos terrorisiert er seine Umgebung und tötet aus reiner Mordlust.
Die ständigen Attacken des Flogers gedenkt Flitzer nicht zu akzeptieren. Er beginnt den geflügelten Feind auszukundschaften und dringt bis zum Turm der verlassenen Kirche vor, in dem Bubba haust. Dabei wird Flitzer von einem Menschen gefangen. In einem kleinen Verschlag muss er schmachten. Die Kolonie wähnt ihn tot. Aber Flitzer hat Glück: Nachdem er seinen Besitzer gewechselt hat, lässt man ihn frei. Er kehrt zur Kolonie zurück. In den folgenden Monaten erholt er sich von seinen Abenteuern und wählt sich eine Gefährtin, die junge Häsin Augenhell.
Bubba verfällt endgültig dem Wahnsinn. Er richtet seinen Hass gegen die Kolonie der Mondhäsin und beginnt systematisch Hase um Hase zu töten. Erneut wendet sich Flitzer gegen den Floger. Er will ihn in eine Falle locken, doch der Plan ist in der Umsetzung gefährlich und weist Lücken auf, die verhängnisvolle Konsequenzen nach sich ziehen …
Hasen sind (irgendwie) auch nur Menschen
Tiere, die sich wie Menschen benehmen, bevölkern die Literaturgeschichte schon sehr lange. Fabeln, gleichnishafte Geschichten, in denen menschliche Wesenszüge auf Tierarten projiziert wurden, um sie auf diese Weise plastischer darzustellen, sind seit dem griechischen Altertum (7. Jh. v. Chr.) bekannt, doch gibt es offensichtlich noch ältere Vorläufer aus dem indischen Raum.
„Tänzer im Frost“ ist keine klassisch-strenge Fabel, sondern eine Tier-Fantasy und gehört damit zu einem ungleich jüngeren Subgenre der fantastischen Literatur. Hier möchte man die Leser nicht mehr belehren, sondern in erster Linie unterhalten. Auch diese Tiere verhalten sich nur bedingt artgerecht. Sie agieren als Spiegelbilder menschlicher Verhaltensweisen. Der Grund ist ebenso simpel wie einleuchtend: Das Leben eines echten Hasen verläuft recht prosaisch und ist nur für den eingefleischten Biologen von besonderem Interesse.
Nichtsdestotrotz legen die Autoren von Tier-Fantasy üblicherweise großen Wert darauf, ihre ‚menschlich‘ denkenden und handelnden, d. h. absolut irrealen Protagonisten in eine Welt zu setzen, die streng den Gesetzen der Ökologie gehorcht. Das hat gewisse Konsequenzen, die recht erheiternd (oder nervig) sein können. So kann kaum ein Autor der Versuchung widerstehen, seine Figuren in ein Öko-Paradies zu versetzen. Auch Kilworths Hasenkolonie erinnert stark an eine alternative Landkommune (oder einen unentdeckten Eingeborenen-Stamm), deren Mitglieder ein harmonisches Leben im Einklang mit Mutter Natur führen und dafür mit innerem Frieden und guter Verdauung belohnt werden.
Zu viele Hunde (u. a. Feinde) sind des Hasen Tod
Ungeachtet dessen gibt es Reibereien innerhalb der Hasen-Gesellschaft, was an sich ein Widerspruch in sich ist, da Hasen anders als Kaninchen in der Regel solo leben und keine Kolonien bilden. Doch ohne die üblichen ‚zwischenmenschlichen‘ Elemente müsste der Autor sich intensiver um eine reflexionsarme Handlung bemühen, während Liebe, Streit u. a. Emotionen quasi nach Schema F in Szene gesetzt werden können. Auf diese Weise kommen selbst Hasen in den zweifelhaften Genuss seifenoperlicher Verwicklungen. Immerhin muss man Kilworth zugestehen, dass er in dieser Hinsicht nicht ansatzweise so dreist Seiten schindet wie viele seiner Autorenkollegen.
Auf der anderen Seite folgt das Geschehen bekannten Mustern. „Tänzer im Frost“ erzählt eine „Coming-of-Age“-Story, die Kilworth um die Figur des Hasen Flitzers kreisen lässt; ein altes aber bewährtes Konzept, das der Verfasser unterhaltsam verfremdet, indem er es ‚hasengerecht‘ gestaltet. Außerdem lässt es Kilworth an Ereignissen nicht fehlen. Flitzer erlebt viel, weshalb mehr als 500 Buchseiten problemlos verfliegen.
In einer Welt vermenschlichter Hasen darf natürlich die Religion nicht fehlen. Ein Leben am Busen der Natur scheint ohne Mythen und Mysterien nicht möglich zu sein. Echte Hasen sind vermutlich Atheisten, aber Garry Kilworth lässt sich die Chance nicht entgehen, seine Leser in die exotische Welt nagetierischer Religion einzuführen. Diese trägt irgendwie indianische Züge, was für gute britische Hasen reichlich eigenartig wirkt.
Nager an der Seite des Menschen
Der Hase genießt in der Kunst- und Literaturgeschichte seit jeher eine Sonderstellung. Als Symbol für Glück und Fruchtbarkeit wurde er schon in frühgeschichtlicher Zeit verehrt. Sogar die oft rabiate Einführung des Christentums hat er glänzend überstanden; als Osterhase getarnt, konnte er seine Sonderstellung bis heute behaupten und genießt als „Meister Lampe“ buchstäblich sprichwörtlichen Ruhm. Hierzulande erinnern sich die Älteren zudem an „Mümmelmann“, dem der Schriftsteller Hermann Löns 1909 zu literarischem Ruhm verholfen hat.
Dennoch musste der Hase zumindest in der Literatur seine Spitzenposition in der ewigen Bestseller-Liste der Tier-Fantasy räumen: für seinen kleinen Vetter, das Kaninchen. Mit tolkiengleicher Sprachgewalt schrieb 1972 Richard Adams „Unten am Fluss“ („Watership Down“), ein moderner Klassiker des Genres, der 1979 sogar verfilmt wurde.
Ein solches Meisterwerk ist Garry Kilworth nicht gelungen. Das trübt aber in keiner Weise das Vergnügen an einem spannenden, flüssig erzählten und einfallsreich mit Menschenwerk unterfütterten aber nicht überfrachteten Roman. Besonders mit dem schizophrenen Adler Bubba, der weit mehr als der tumbe Bösewicht einer schlichten Märchenwelt ist, hat Kilworth einen Charakter ins Leben gerufen, der im Gedächtnis haftet. Bubba ist eine ebenso böse wie tragische Figur – gestrandet in der Fremde, einsam und darüber verrückt geworden. Die Verantwortung trägt der in dieser Geschichte nur selten persönlich auftretende aber dennoch stets präsente Mensch, der als eigentlicher Störfaktor den zwar gefährlichen aber überschaubaren Alltag der heimischen Tierwelt in existenzielle Krisen abgleiten lässt. Darin steckt natürlich eine Moral, die Kilworth seinem Publikum jedoch nicht per Keulenschlag einbläut, was dem Lektürevergnügen ungemein zuträglich ist.
Verfasser
Garry Douglas Kilworth wurde am 5. Juli 1941 in der nordenglischen Stadt York geboren. Da sein Vater als Offizier der britischen Armee mehrfach versetzt wurde, lernte Garry schon in jungen Jahren fremde Länder kennen. Seine Studentenjahre verbrachte er in London am King’s College. Wie sein Vater ging auch Kilworth zum Militär; er arbeitete als Kryptograph für die Royal Air Force. 18 Jahre zog er beruflich um die Welt und verbrachte u. a. viel Zeit im Fernen Osten und im Pazifikraum.
Anfang der 1970er Jahre kehrte Kilworth der Air Force den Rücken und nach England zurück. Er wollte Schriftsteller werden. Eine erste Veröffentlichung gelang ihm 1974 mit der Kurzgeschichte „Let’s Go to Golgatha“ (dt. „Auf nach Golgatha!“). Auch sonst schrieb Kilworth in diesen Jahren vor allem Science-Fiction-Storys und Romane. In den 1980er Jahren erweiterte er sein Themenspektrum. Bekannt wurden vor allem seine Jugendbüchern und Fantasy-Geschichten, in denen vermenschlichte Tiere die Hauptrollen spielen.
Garry Kilworth, der weiterhin ausgiebig die Welt bereist, ist ein fleißiger Autor, der mehr als siebzig Romane und Storysammlungen veröffentlicht hat. Über sein Werk informiert er auf seiner Website.
Gebunden: 557 Seiten
Originaltitel: Frost Dancers. A Story of Hares (London : HarperCollins 1992)
Übersetzung: Michaela Link
http://www.luebbe.de
Der Autor vergibt: