Irit Neidhardt (Hrsg.) – Mit dem Konflikt leben!? Berichte und Analysen von Linken aus Israel und Palästina

Angesichts den täglichen Nachrichten ist der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern nicht ignorierbar. Auch in linken Zeitungen wird sich besonders stark mit der Thematik auseinandergesetzt, allerdings wurde dabei irgendwann auffällig, dass die berichtenden Journalisten im Grunde Deutsche sind, die noch nicht einmal selbst im betroffenen Land waren. Deswegen hatte die Zeitung „Jungle World“ Autoren aus linken israelischen und palästinensischen Gruppen gebeten, Beiträge aus ihrer Sicht zu verfassen. Erschienen sind diese nicht, denn überraschenderweise passten die Essays nicht zu den einseitigen Vorstellungen, die hierzulande propagiert werden. Dazu einige im Buch betrachtete Ansichten und Beispiele:

In Deutschland ist nämlich die Sichtweise dominant, dass der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern vom Holocaust der Nationalsozialisten geprägt ist und wir deswegen in der Schuld stehen. Wir zählen Israel zum Westen und die Palästinenser zum Osten. Dies ist aber eine grundlegend falsche Sichtweise, denn Israel gehört nicht zum Westen, schon gar nicht bevölkerungsmäßig. Denn nach wie vor stammt auch heute noch die Mehrheit der Bevölkerung und Bevölkerungsgruppen Israels aus dem Nahen Osten. Die ashkenazischen (aus Europa kommenden) Juden stellen die Minderheit, die allerdings herrscht. Die Mehrheit der Juden sind die Mizrahim (diejenigen, die aus arabischen/islamischen Ländern stammen). Deren Stimme wird unterdrückt. Die Zionisten behaupten, die Befreiungsbewegung für alle Juden zu sein – was historisch noch nie so war – und haben erreicht, dass man jüdisch und zionistisch gleichsetzt. Zionismus steht aber nur für die europäischen Juden bzw. deren kleine Minderheit, die sich in Israel angesiedelt haben. Die orientalischen Juden (Mizrahim) werden von diesen seit Gründung Israels systematisch diskriminiert. 70 Prozent der heutigen Israelis setzen sich aus Mizrahim (50 Prozent der Bevölkerung) und Palästinensern (20 Prozent der Bevölkerung) zusammen. Würden wir Gaza und die Westbank schon dazurechnen, stellen sie sogar 90 Prozent. Die Mizrahim wurden aus Algerien, Ägypten, Iran, Irak und Indien ins „gelobte Land“ geholt, da die europäischen Juden billige Arbeitskräfte brauchten. Diese europäischen Juden bilden auch heute die Elite, die sowohl die Palästinenser wie die orientalischen Juden unterdrückt. Die Zionisten sehen in ihnen unzivilisiertes Menschenmaterial, geprägt von primitiven Instinkten. Die Argumente sind rassistisch wie überall in den Sprachen von Kolonisten. Im israelischen Staat haben die orientalischen Juden keine Geschichte, sie werden von ihrem Arabischsein gesäubert und von ihrer Ursünde (zum Orient zu gehören) erlöst. Golda Meir machte es allein an der Sprache fest: „Wer nicht jiddisch spricht, ist kein Jude“. Damit wurde Jiddisch zur Sprache der Unterdrücker. Die orientalischen Juden kannten keinen Pogrom, sie hatten Jahrhunderte lang in den arabischen Ländern wohlhabend und gleichgestellt gelebt.

Aufgrund dieser Integration sind sie nach wie vor arabisiert und singen teilweise ihre Lobgesänge und religiöse Zeremonien in arabischer Sprache. Die zionistische Gesichtsschreibung stellt die Emigration der arabischen Juden als Resultat einer langen Geschichte von Antisemitismus dar, was keine Grundlage für die orientalischen Juden hat. Sie spielten in der arabischen Welt eine vitale kulturelle und prominente Rolle im öffentlichen Leben. Die Mizrahim, die über Jahrtausende (schon vor der arabischen Eroberung) im Nahen Osten und Nordafrika gelebt hatten, hatten gar kein Interesse daran in Palästina zu siedeln. Der Kontakt zu diesem Land war ein normal üblicher Bestandteil rein religiöser Pilgerfahrten. Die Mehrheit der Mizrahim stand dem zionistischen Projekt feindselig gegenüber, das überdies sowieso in den gesamten weltweiten jüdischen Gemeinden eine Minderheitenvision darstellte. In arabischen Manifesten galten auch noch nie die arabisch lebenden Juden als Gegner. Die Zionisten mussten sich sehr bemühen, diese Juden nach Israel zu bekommen und taten das mit Druck, indem israelische Geheimzellen Bomben in jüdischen Zentren (z.B. im Irak) legten, um Hysterie unter den nicht Ausreisewilligen zu erzeugen. Die Mizrahim gerieten in Panik und gaben dem „grausamen“ Zionismus nach. Anderswo, wie im Jemen, wurden Kinder entführt und in Familien adoptiert. Es wurden systematisch gefälschte Todesscheine ausgestellt und über Jahrzehnte hinweg die Forderungen der Mizrahim nach Nachforschungen zum Schweigen gebracht und von Regierungsstellen manipuliert. Einwandernde Mizrahim, die merkten, was gespielt wurde und in ihre Heimatländer zurückwollten, wurden daran mit Waffengewalt gehindert.

Politisch war das „Inslandholen“ dieser Menschen für die Zionisten wichtig, denn sie brauchten Argumente, damit die Vertreibungen der Palästinenser gerechtfertigt erschienen. Der Bevölkerungsaustausch war für beide Gruppierungen mit Gewalt erzwungen. Für die einwandernden Mizrahim war ihre Situation in Israel aber ein Trauma. Sie wurden in Übergangslagern eingezwängt und wurden in diesen Arbeitslagern als billige Arbeitskräfte missbraucht. Die Art der Arbeit ist noch heute wie im indischen Kastensystem unterschiedlich. Die „Drecksarbeiten“ sind den jemenitischen (dunkelhäutigen mit arabischem Blut) Juden vorbehalten. Die ersten dieser Einwanderer mussten zusammengepfercht die Arbeitsdienste verrichten und wurden brutal von den Zionisten behandelt, oft auch ihre Frauen und Kinder missbraucht. Vor allem als mobile Bauarbeiter wurden sie benutzt und ihre Wohnviertel sind verarmte Slums, bis die Zionisten mehr Wohnraum brauchen und dann werden die Mizrahim-Einwohner evakuiert und in Siedlungen der West-Bank angesiedelt.

Die ashkenazimistische Elite erfreut sich daran, in einem „mediterranen“ Ambiente zu leben, aber ohne die Unannehmlichkeiten einer Präsenz von Palästinensern oder Mizrahim. Die Mizrahim sind unterstes industrielles Proletariat mit Billigstlöhnen, während die regierenden Minderheitsjuden in den Spitzen der sozialen Skala mit guten Positionen in Management, Marketing, Bankwesen und technischen Berufen sitzen. Für zionistische Juden war der Staat Israel ein Aufstieg und die Rettung ihrer Kultur, für die anderen der absolute Abstieg mit kompletter Leugnung des kulturellen Erbes, Identitätsverlust und sozialer und ökonomischer Degradierung. Im modernen heutigen Israel werden Mizrahim und Palästinenser bezeichnenderweise von speziellen Histadrut-Abteilungen („orientalische Abteilung“ bzw. „Minderheiten-Abteilung“) vertreten. Anderen Gruppen geht es nicht anders. In jüngerer Zeit werden russische Juden „eingewandert“, die eigentlich auch lieber in andere Länder gingen, denen es aber komfortabel gemacht wird (mit Ausnahme der Mizrahim aus Georgien). Dann gibt es auch die äthiopischen Juden, die keine Wahl hatten, weil sie um ihr Leben in Äthiopien fürchteten, aber nun in Israel völlig unterdrückt werden, einschließlich religiöser Demütigungen.

Dass sich die Situation nicht ändern wird, liegt schon im Bildungssystem begründet. Die ashkenazischen Juden gehen auf Schulen und Universitäten, die arbeitenden Mizrahim haben keinen Zugang dazu. Leider gelang es den Zionisten auch, Zwietracht zwischen den Mizrahim und den Palästinensern zu säen. Aufgrund der existenziellen Situation kam es zu dem Phänomen, dass der Araberhass – soweit er bei orientalischen Juden besteht – eine maskierte Art des Selbsthasses ist. Wie schon Malcolm X in Amerika nachwies, dass das schlimmste Verbrechen des weißen Mannes die Tatsache sei, das der schwarze Mann sich selbst hasse. Eine Widerstandsgruppe in Israel bezeichnet sich auch als „Schwarze Panther“ und wirkt an der Zerstörung der Regierung zugunsten der Rechte aller Unterdrückten, ungeachtet der Religion, Herkunft oder Nationalität. Sie sprechen von sich als „gefickt und schwarz“. Sie waren die ersten israelischen Gruppen, die sich mit der PLO getroffen hatten.

Der Grund, dass die Mizrahim ins Land geholt wurden, lag aber vor allem am Scheitern der zionistischen Idee, denn die europäische Einwanderung fand nicht wie geplant statt. Die meisten Juden der Holocaust-Nach-Ära zogen es vor, in andere Länder auszuwandern. Die größte Angst der herrschenden Israeli ist, dass all ihre Opfer – Mizrahim wie Palästinenser – die Analogien ihrer Unterdrückung entdecken würden und dass die übrige westliche Welt die Wahrheit überhaupt entdecken könnte.

Ich bin deshalb ausschließlich auf dieses Kapitel eingegangen, weil es eine der unbekannteren Realitäten aufzeigt. Im Buch sind noch viele andere Perspektiven aufgeführt, deren Artikel sich aufeinander beziehen und durch ihre Komposition eine Art Gespräch zwischen den verschiedenen Gruppen entwickeln. Der koloniale Charakter des zionistischen Siedlungsprojektes hat für all die mitwirkenden Autoren die Zerstörung ihrer Kultur mit sich gebracht. Sie schreiben sehr persönlich und intim über die ihnen zugefügten Wunden. Interessant ist die Darstellung vor allem aber auch deswegen, weil die nationalen und nationalistischen Konstrukte Israels und der PLO hinterfragt werden, auf deren wackeliger Basis aktuell nach Friedenslösungen gesucht wird.

Irit Neidhardt, Jahrgang 1969, Politikwissenschaftlerin, lebte mehrere Jahre im Nahen Osten, arbeitet zur Zeit als freie Kulturwissenschaftlerin vor allem im Medienbereich, u. a. organisierte sie diverse israelisch/palästinensische Filmfestivals; Mitherausgeberin und Co-Autorin von »Wir sind die Guten« (Unrast Verlag 2000).

Weiterführende Literatur:

Gudrun Krämer – „Geschichte Palästinas“
440 Seiten, Taschenbuch, C. H. Beck, 3. Auflage 2002
ISBN 3-406-47601-5

Siehe dazu auch meinen [Essay]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=15 mit zusätzlichen Informationen und Links.

Noam Chomsky – „Offene Wunde Nahost“
360 Seiten, Paperback, |Europa|, Sonderausgabe September 2003
ISBN 3-203-76017-7

Norman G. Finkelstein – „Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern“
400 Seiten, gebunden, Diederichs, September 2002
ISBN 3-720-52368-3

Taschenbuch: 168 Seiten
www.unrast-verlag.de